Artenschutz: Geiers Sturzflug
Ihr Leumund war lange nicht der Beste - ungerechtfertigt, denn sie sind die Gesundheitspolizei der Natur. Ihre nützliche Rolle können die Geier aber immer seltener spielen, denn europäische Hygieneregelungen rauben ihnen die Nahrung und bedrohen von Neuem die ganze Art.
Wenn sie hierzulande auftauchen, sorgen sie für Schlagzeilen über die Ornithologenwelt hinaus: "200 Gänsegeier bei Brüssel gelandet", "30 Geier bei Hameln gesichtet", "Unter Geiern", "Geier in Flandern" – so oder ähnlich titelten in den letzten Tagen verschiedenste Medien. Denn die Greife gehören zu den größten Vögeln Europas und beeindrucken mit Flügelspannweiten von bis zu 2,8 Meter, mit denen sie sogar unser Wappentier, den Seeadler, noch übertreffen. Ihr plötzliches Auftreten ist aber leider kein Erfolg des Naturschutzes, sondern eher ein Warnsignal: Es ist wohl der Hunger, der die Vögel hierher treibt.
Gefährliches Abhängigkeitsverhältnis
Seit die Europäische Union 2002 verschärfte Hygienerichtlinien für die Entsorgung verendeter Weidetiere erließ, wird die Nahrung für die Geier in ihrem westeuropäischen Restverbreitungsgebiet in Spanien und Südfrankreich knapp. Jahrelang wurden sie an so genannten Muladares von Viehzüchtern mit Aas versorgt, die an diesen Plätzen die Kadaver verstorbener Schafe, Ziegen oder Rinder ablegten – allein in der Region Aragonien kamen die Geier an rund tausend derartiger Futterstellen ihrem Entsorgungsauftrag nach. Neben verstärkten Schutzanstrengungen war auch diese Zufütterung ein Grund dafür, dass die Greifvögel nach jahrhundertelanger Verfolgung auf der Iberischen Halbinsel wieder zunahmen: Heute leben dort wieder zwischen 20 000 und 25 000 Paare der Gänsegeier (Gyps fulvus), dazu Mönchs-, Bart- und Schmutzgeier, die alle in Europa stark bedroht sind.
Doch das, so der NABU-Fachmann weiter, war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn während nach und nach die traditionellen Muladares geschlossen wurden, eröffneten nur wenige seuchentechnisch akzeptierte Ablageplätze neu. In Aragonien blieben letztlich 25 statt der einstigen 1000 – mit verheerenden Folgen: Seit 2003 ging der Bruterfolg der Gänsegeier in Spanien deutlich zurück, und es werden immer mehr entkräftete Vögel gefunden, die Tierschützer in Auffangstationen wieder aufpäppeln müssen.
Hungerflucht nach Deutschland
Und zunehmend treibt der Hunger die Geier gen Mitteleuropa, das die begnadeten Segelflieger bei günstigen Winden in wenigen Tagen erreichen können. Mindestens seit 2006 geschieht dies in größerem Umfang; damals kamen von der Schwäbischen Alb bis zur Ostsee Sichtmeldungen und mussten vereinzelt Tiere gefüttert werden, weil sie unterernährt und geschwächt waren. Warum sie bislang vor allem nur im Frühjahr und Frühsommer hier auftauchen und später wieder zurückfliegen – ein letztes Jahr versorgter Geier fand sich eine Woche nach Freilassung wieder in den Pyräneen, von wo er anschließend in die Cevennen weiterzog – ist allerdings noch nicht ganz geklärt: "Wahrscheinlich hängt dies mit der Brutzeit zusammen, in der ihr Nahrungsbedarf am größten ist", vermutet Nipkow.
Eigentlich kehren die Greife damit nur in ihre angestammte Heimat zurück, denn auch Deutschland hatte bis vor etwa 150 Jahren seine Gänsegeierpopulation. Außerhalb der Alpen sind beispielsweise Nistplätze im Mosel-Rheingebiet oder im oberen Donautal bei Sigmaringen verbürgt, und als Resteverwerter folgten sie den wandernden Schafherden auf der Schwäbischen Alb – unterstützt von der lokalen Bevölkerung: "Die Schindanger im ausgehenden Mittelalter und später waren nichts anderes als Geierfutterplätze", merkt Claus-Peter Hutter, der Präsident der Schutzorgansiation Euronatur, an.
Diese Liaison zum beiderseitigen Vorteil hielt jedoch nicht dauerhaft stand: Jäger neideten ihnen das Futter und schossen sie ab, und die Geier vergifteten sich an Bleimunition oder präparierten Ködern, die eigentlich Wölfe oder Bären eliminieren sollten. Dazu gesellten sich Gerüchte, sie würden sich an lebendem Vieh oder gar kleinen Kindern vergreifen, was beispielsweise dem Bartgeier (Gypaetus barbatus) beinahe zum Verhängnis wurde und ihm den Beinamen "Lämmergeier" eintrug. Rücksichtslos wurden sie deshalb verfolgt, und veränderte Hygieneregelungen entzogen ihnen die Nahrungsgrundlage, sodass etwa Mitte des 19. Jahrhunderts die Geier in Deutschland wie Mitteleuropa ausstarben.
Haben sie hier eine Chance?
Damit sich die Geier aus der blanken Not heraus nicht tatsächlich an einzelnen lebenden Lämmern oder Kälbern delektieren, aber vor allem um das Überleben der Art zu sichern, halten NABU und Euronatur ein Bündel an Maßnahmen für nötig: "Für die Geier und anderer Wildtiere in Spanien ist die derzeit gültige Hygienerichtlinie in höchstem Maße problematisch", kommentiert Hutter, deshalb müsse sie rasch und umfassender geändert werden, als bislang geschehen. Markus Nipkow schlägt beispielsweise vor, spanische Schafe und Ziegen aus der EU-Tierkörperbeseitigungsvorschrift herauszunehmen: "Sie wurden großflächig untersucht, ohne dass je BSE bei ihnen gefunden wurde." Mit diesen Tieren ließen sich die Muladares wieder aktivieren und die Geier nähren.
In Mitteleuropa ist dagegen erst einmal Nothilfe gefragt, wie sie Vogelschützer in Belgien bereits praktizieren: Sie legten dort 200 Kilogramm Schlachtabfälle aus. Doch sollten wir uns auch mittelfristig Gedanken machen, ob sich die nützlichen Geier wieder in Deutschland niederlassen könnten: "Die Rückkehr der Geier ist nicht nur ein Meilenstein für den Naturschutz, sondern bietet ebenso große Chancen für den Tourismus", so die Position von Euronatur. Geeignet wäre etwa die Schwäbische Alb, wo noch viel Vieh auf Weiden lebt – nur müssten verendete Tiere in der Landschaft bleiben dürfen. Im Gegensatz zu Euronatur möchte der NABU allerdings keine dauerhaft von Fütterung abhängige Geierpopulation hierzulande etablieren; deutsche Muladares sollten nur eine Übergangslösung sein, meint Nipkow, bis sich ein anderer Umgang mit toten Nutztieren eingestellt habe.
Der eine oder andere feste Futterplatz hätte allerdings ebenfalls seinen Reiz, böten sie doch den Menschen einen unkomplizierten und nahen Blick auf die faszinierenden, aber zwischenzeitlich verfemten Aasvertilger. Wie sehr sich die Meinung gegenüber den Geiern dadurch ändern könnte, zeigen übrigens auch Meldungen aus Spanien. Dort haben viele Viehzüchter Mitleid mit den Vögeln und legen für sie Kadaver aus – allen Gesetzen zum Trotz.
Gefährliches Abhängigkeitsverhältnis
Seit die Europäische Union 2002 verschärfte Hygienerichtlinien für die Entsorgung verendeter Weidetiere erließ, wird die Nahrung für die Geier in ihrem westeuropäischen Restverbreitungsgebiet in Spanien und Südfrankreich knapp. Jahrelang wurden sie an so genannten Muladares von Viehzüchtern mit Aas versorgt, die an diesen Plätzen die Kadaver verstorbener Schafe, Ziegen oder Rinder ablegten – allein in der Region Aragonien kamen die Geier an rund tausend derartiger Futterstellen ihrem Entsorgungsauftrag nach. Neben verstärkten Schutzanstrengungen war auch diese Zufütterung ein Grund dafür, dass die Greifvögel nach jahrhundertelanger Verfolgung auf der Iberischen Halbinsel wieder zunahmen: Heute leben dort wieder zwischen 20 000 und 25 000 Paare der Gänsegeier (Gyps fulvus), dazu Mönchs-, Bart- und Schmutzgeier, die alle in Europa stark bedroht sind.
Über die Muladares haben sich die Aasfresser jedoch in ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis zu den Menschen begeben. Mangels toter und verunglückter Wildtiere, machten die bereitgestellten Kadaver der Weidetiere rund fünfzig Prozent der Nahrung aus, so Markus Nipkow vom Naturschutzbund Deutschland (NABU). Aus Angst vor einer weiteren Ausbreitung der Rinderseuche BSE verfügte die EU jedoch die "umgehende Beseitigung" toten Viehs, was nach und nach zu einer Schließung der weitaus meisten Futterplätze führte. Zwar erkannte die zuständige Kommission bald die problematische Lage der Tiere, die sich aus dieser plötzlichen Zwangsdiät ergibt, und erließ deshalb eine Ausnahmeregelung, nach der "ganze Körper toter Tiere (...) zur Fütterung gefährdeter oder geschützter Arten Aas fressender Vögel" abgelagert werden dürften.
Doch das, so der NABU-Fachmann weiter, war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn während nach und nach die traditionellen Muladares geschlossen wurden, eröffneten nur wenige seuchentechnisch akzeptierte Ablageplätze neu. In Aragonien blieben letztlich 25 statt der einstigen 1000 – mit verheerenden Folgen: Seit 2003 ging der Bruterfolg der Gänsegeier in Spanien deutlich zurück, und es werden immer mehr entkräftete Vögel gefunden, die Tierschützer in Auffangstationen wieder aufpäppeln müssen.
Hungerflucht nach Deutschland
Und zunehmend treibt der Hunger die Geier gen Mitteleuropa, das die begnadeten Segelflieger bei günstigen Winden in wenigen Tagen erreichen können. Mindestens seit 2006 geschieht dies in größerem Umfang; damals kamen von der Schwäbischen Alb bis zur Ostsee Sichtmeldungen und mussten vereinzelt Tiere gefüttert werden, weil sie unterernährt und geschwächt waren. Warum sie bislang vor allem nur im Frühjahr und Frühsommer hier auftauchen und später wieder zurückfliegen – ein letztes Jahr versorgter Geier fand sich eine Woche nach Freilassung wieder in den Pyräneen, von wo er anschließend in die Cevennen weiterzog – ist allerdings noch nicht ganz geklärt: "Wahrscheinlich hängt dies mit der Brutzeit zusammen, in der ihr Nahrungsbedarf am größten ist", vermutet Nipkow.
Eigentlich kehren die Greife damit nur in ihre angestammte Heimat zurück, denn auch Deutschland hatte bis vor etwa 150 Jahren seine Gänsegeierpopulation. Außerhalb der Alpen sind beispielsweise Nistplätze im Mosel-Rheingebiet oder im oberen Donautal bei Sigmaringen verbürgt, und als Resteverwerter folgten sie den wandernden Schafherden auf der Schwäbischen Alb – unterstützt von der lokalen Bevölkerung: "Die Schindanger im ausgehenden Mittelalter und später waren nichts anderes als Geierfutterplätze", merkt Claus-Peter Hutter, der Präsident der Schutzorgansiation Euronatur, an.
Diese Liaison zum beiderseitigen Vorteil hielt jedoch nicht dauerhaft stand: Jäger neideten ihnen das Futter und schossen sie ab, und die Geier vergifteten sich an Bleimunition oder präparierten Ködern, die eigentlich Wölfe oder Bären eliminieren sollten. Dazu gesellten sich Gerüchte, sie würden sich an lebendem Vieh oder gar kleinen Kindern vergreifen, was beispielsweise dem Bartgeier (Gypaetus barbatus) beinahe zum Verhängnis wurde und ihm den Beinamen "Lämmergeier" eintrug. Rücksichtslos wurden sie deshalb verfolgt, und veränderte Hygieneregelungen entzogen ihnen die Nahrungsgrundlage, sodass etwa Mitte des 19. Jahrhunderts die Geier in Deutschland wie Mitteleuropa ausstarben.
Dabei sind die Tiere reine Aasfresser, die als natürlicher Putztrupp den Ausbruch von Seuchen in der Natur verhindern. Sie vertilgen sogar die Knochen wie der Bartgeier, der sie in seinen Fängen in den Himmel transportiert und von dort auf Felsen fallen lässt, damit er an mundgerechte Bruchstücke gelangt. Deshalb sind Meldungen und Bedenken von Bauern wie Politikern aus Spanien und Belgien mit äußerster Vorsicht zu genießen, nach denen die Geier lebendes Nutzvieh attackieren und töten: "Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Nur in extremen Ausnahmefällen wären Verhaltensänderungen einzelner Tiere möglich", meint dazu der NABU-Ornithologe.
Haben sie hier eine Chance?
Damit sich die Geier aus der blanken Not heraus nicht tatsächlich an einzelnen lebenden Lämmern oder Kälbern delektieren, aber vor allem um das Überleben der Art zu sichern, halten NABU und Euronatur ein Bündel an Maßnahmen für nötig: "Für die Geier und anderer Wildtiere in Spanien ist die derzeit gültige Hygienerichtlinie in höchstem Maße problematisch", kommentiert Hutter, deshalb müsse sie rasch und umfassender geändert werden, als bislang geschehen. Markus Nipkow schlägt beispielsweise vor, spanische Schafe und Ziegen aus der EU-Tierkörperbeseitigungsvorschrift herauszunehmen: "Sie wurden großflächig untersucht, ohne dass je BSE bei ihnen gefunden wurde." Mit diesen Tieren ließen sich die Muladares wieder aktivieren und die Geier nähren.
In Mitteleuropa ist dagegen erst einmal Nothilfe gefragt, wie sie Vogelschützer in Belgien bereits praktizieren: Sie legten dort 200 Kilogramm Schlachtabfälle aus. Doch sollten wir uns auch mittelfristig Gedanken machen, ob sich die nützlichen Geier wieder in Deutschland niederlassen könnten: "Die Rückkehr der Geier ist nicht nur ein Meilenstein für den Naturschutz, sondern bietet ebenso große Chancen für den Tourismus", so die Position von Euronatur. Geeignet wäre etwa die Schwäbische Alb, wo noch viel Vieh auf Weiden lebt – nur müssten verendete Tiere in der Landschaft bleiben dürfen. Im Gegensatz zu Euronatur möchte der NABU allerdings keine dauerhaft von Fütterung abhängige Geierpopulation hierzulande etablieren; deutsche Muladares sollten nur eine Übergangslösung sein, meint Nipkow, bis sich ein anderer Umgang mit toten Nutztieren eingestellt habe.
Der eine oder andere feste Futterplatz hätte allerdings ebenfalls seinen Reiz, böten sie doch den Menschen einen unkomplizierten und nahen Blick auf die faszinierenden, aber zwischenzeitlich verfemten Aasvertilger. Wie sehr sich die Meinung gegenüber den Geiern dadurch ändern könnte, zeigen übrigens auch Meldungen aus Spanien. Dort haben viele Viehzüchter Mitleid mit den Vögeln und legen für sie Kadaver aus – allen Gesetzen zum Trotz.
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