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Emotionen: Macht uns Musik in Moll traurig?

Weckt Musik Emotionen? Und funktioniert das bei uns allen immer gleich? Der Musikwissenschaftler Günter Kleinen hat die Effekte untersucht und findet, dass empathische Menschen besonders empfänglich sind.
Mann mit Kopfhörern

Auch wenn es Sie überraschen mag: Dass Musikstücke in Moll Trauer oder andere negative Stimmungen ausdrücken, ist längst nicht immer der Fall. Viele Stücke in Moll-Tonarten haben einen ganz anderen Charakter. So etwa die Badinerie aus Johann Sebastian Bachs Orchestersuite in h-Moll, die heiter-tänzerisch daherkommt, oder das träumerisch-zarte Adagio aus Ludwig van Beethovens »Mondscheinsonate«. Allerdings kommen einem mehr Moll-Stücke mit trauriger Wirkung in den Sinn: Typische Vertreter sind Bachs Choral »O Haupt voll Blut und Wunden« aus der Matthäus-Passion oder Franz Schuberts Streichquartett »Der Tod und das Mädchen«.

Wie kommt es aber, dass wir das Tongeschlecht mit der kleinen Terz so schnell mit Schwermut und Melancholie assoziieren? Tonarten und Tongeschlechter werden seit dem Beginn der Neuzeit um 1600 mit dem emotionalen Ausdruck von Musik in Verbindung gebracht. Schon im Barock existierte dafür ein ausgearbeitetes System der musikalischen Affektenlehre, das besonders in Oper und Oratorium Anwendung fand. In allen nachfolgenden Epochen war die emotionale Wirkung vor allem durch ihre Nähe zu Religion und Transzendenz ein zentraler Wert der Musik. Welche Emotion sie bei den meisten Menschen auslöst, hängt von ihrer Struktur ab.

Bereits in den 1930er Jahren versuchte man in ersten Experimenten, formale Eigenschaften der Musik mit ihrer Wirkung auf unsere Gefühle zu verknüpfen. In einer groß angelegten Studie untersuchte 2013 ein Team um Tuomas Eerola von der finnischen Universität Jyväskylä, wie sechs musikalische Merkmale (Tongeschlecht, Tempo, Dynamik, Artikulation, Klangfarbe und Tonlage) mit vier emotionalen Zuständen (glücklich, traurig, friedvoll und furchtsam) zusammenhängen. Das Tongeschlecht rangierte dabei unter den Einflüssen an vorderer Stelle, gefolgt von Tempo, Tonlage und Dynamik. Es gibt offenbar eine gewisse Konkurrenz zwischen den musikalischen Parametern, und diese kann die eingangs erwähnten Widersprüche bei der Charakterisierung von Moll-Stücken erklären. Oft überspielt etwa ein schnelles Tempo die Wirkung des Tongeschlechts.

Dass Musik sich auf unsere Psyche auswirkt, ist vermutlich ein Nebenprodukt der menschlichen Evolution. Dazu passt die Beobachtung, dass Musik in jeder bekannten Kultur eine Rolle spielt und ähnliche Arten von Musik weltweit bei ähnlichen Anlässen zum Einsatz kommen. Verbindungen zwischen der musikalischen Struktur und psychophysiologischen Kennwerten sind empirisch belegt: So beschleunigen flotte Melodien in Dur erwiesenermaßen die Atmung und die Herzfrequenz, und sie erhöhen den elektrischen Hautwiderstand verglichen mit behäbigeren Moll-Klängen.

Dur- und Moll-Kompositionen rufen zudem unterschiedliche neuronale Aktivität hervor. Beispielsweise fand ein Forscherteam um den Psychologen Raoul Jenni 2017 heraus, dass beim Hören von Moll-Klängen vermehrt so genannte Beta- und Gammawellen im EEG des Stirnhirns auftauchen. Diese gelten unter anderem als Kennzeichen für starke Konzentration und Aufmerksamkeit.

Der Finne Tuomas Eerola war noch an einer weiteren wichtigen Untersuchung beteiligt. Er ging dabei der Frage nach, ob »traurige Musik« Menschen wirklich traurig macht. Dafür teilten die Forscher 120 Studierende in vier Gruppen auf. Die Teilnehmer hörten entweder ein unbekanntes neutrales oder ein unbekanntes trauriges Lied oder aber einen selbst mitgebrachten »sad song« oder gar keine Musik. Letztere sollten sich stattdessen in ein trauriges Ereignis aus ihrem Leben zurückversetzen und darüber schreiben.

Anschließend erhoben die Wissenschaftler mittels Tests und Fragebogen die Stimmung und die Gefühle der Probanden. In der Tat konnte traurige Musik, selbst wenn sie unbekannt und ohne autobiografischen Bezug war, dieselben Emotionen wecken wie traurige Erinnerungen. Bei besonders empathischen Teilnehmern, die sich leicht in die Innenwelt anderer einfühlen konnten, war dieser Effekt am stärksten ausgeprägt.

Die Forscher halten die emotionale Ansteckung daher für einen wichtigen Mechanismus, was die Wirkung von Musik betrifft. Offenbar können Melodien mit bestimmten Merkmalen wie etwa dem Tongeschlecht Moll in uns annähernd dieselben Reaktionen hervorrufen wie ein tatsächliches trauriges Erlebnis.

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