Gute Frage: Wo beginnt ein Trauma?
Viele Menschen scheinen seit der Covid-19-Pandemie Sorge zu haben, diese Zeit könnte die Gesellschaft als Ganze traumatisieren. Zumindest wurde mir als Traumaforscherin die Frage oft gestellt. Obgleich die Pandemie viele von uns hart trifft, wird sie sicher keine kollektive Traumatisierung bewirken. Nur was ist ein Trauma überhaupt, und wo beginnt es?
Der Begriff kommt aus der Medizin und beschreibt zunächst alles, was zu Verletzungen führt – zum Beispiel Verbrennungen. Als Trauma bezeichnet man aber auch Ereignisse, die seelische Wunden hinterlassen. Umgangssprachlich wird das Wort inzwischen für alle möglichen Arten von negativen Ereignissen benutzt, vom Jobverlust bis zum jähen Ende einer Beziehung. Psychologinnen und Psychologen verwenden es allerdings in deutlich engerem Sinn, nämlich für Ereignisse, die zu einer bestimmten Form der psychischen Störung, der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), führen.
In Deutschland werden psychische Störungen gemäß der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) diagnostiziert. Laut diesem Handbuch entwickeln Patienten eine PTBS als Reaktion auf belastende Ereignisse mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die in der Regel tiefe Verzweiflung auslösen. In der Forschung wird parallel zur ICD-10 das US-amerikanische psychiatrische Klassifikationssystem DSM-5 eingesetzt. Es definiert solche Ereignisse als traumatisch, die reale oder potenzielle Todesbedrohungen, ernsthafte Körperverletzungen oder sexuelle Gewalt beinhalten. Die schlimmen Erfahrungen kann der Betroffene selbst durchlitten oder als Augenzeuge beobachtet haben. Typische Ereignisse, die demnach als traumatisch gelten, sind etwa Vergewaltigung, körperliche Misshandlung, Terroranschläge, Kriegserlebnisse, Folter oder eine lebensbedrohliche Krankheit.
Obwohl auch andere Schicksalsschläge wie die Trennung von einem langjährigen Partner oder Mobbing am Arbeitsplatz einen Menschen fraglos schwer belasten und erschüttern können, klammert der Traumabegriff sie bewusst aus. Denn in der Regel zählen zu den für eine PTBS typischen Symptomen das ungewollte Wiedererleben des Traumas (so genannte Flashbacks), die Vermeidung von Aktivitäten und Gedanken, die an das Trauma erinnern, sowie ein anhaltendes Bedrohungsgefühl. Das bedeutet nicht, dass sonstige belastende Erlebnisse keine seelischen Narben hinterlassen können, doch sie äußern sich in anderen Beschwerden und erfordern andere Behandlungsmethoden.
Angesichts dieser psychiatrischen Definition des Traumas muss man sagen, dass die Coronapandemie zwar durchaus das Potenzial hat, einzelne Menschen zu traumatisieren. Besonders gefährdet sind solche, die schwer an Covid-19 erkranken und um ihr Leben ringen, aber auch deren Angehörige sowie medizinisches Personal, die so etwas miterleben. Ebenfalls gefährdet sind Opfer von häuslicher Gewalt oder sexuellem Missbrauch, deren Zahl im Zuge der Pandemie wuchs. Die überwiegende Mehrheit unserer Gesellschaft wird durch die Pandemie jedoch nicht im eigentlichen Sinn traumatisiert.
Allerdings wissen wir, dass sich die Coronazeit auf andere Weise ungünstig auf die psychische Gesundheit eines Teils der Bevölkerung auswirkt: Viele Menschen sind deutlich gestresster. Das ist ein wichtiger Risikofaktor für psychische Störungen wie Depressionen oder Sucht. Wer also pandemiebedingt von großer Sorge und innerer Unruhe getrieben ist, der hat ein erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken.
Zum Glück gibt es eine ganze Reihe von Schutzfaktoren, die die Gefahr einer psychischen Störung einschließlich der PTBS senken. Ein sehr wichtiger Aspekt ist die soziale Unterstützung, etwa durch die Familie oder einen stabilen Freundeskreis. Das heißt: Jeder Einzelne von uns kann durch Mitgefühl und Hilfsbereitschaft dazu beitragen, dass möglichst viele Menschen die Pandemie psychisch gut überstehen.
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