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Warkus' Welt: Die 9. Sinfonie der Philosophie

Beethovens »Ode an die Freude« ist ein fester Bestandteil vieler Neujahrskonzerte. Das passt auch philosophisch betrachtet ganz gut, findet unser Kolumnist Matthias Warkus.
Frau mit Geige spielt in einem Orchester

Ein neues Jahr hat begonnen, und unzählige Neujahrskonzerte haben wieder einmal mit dem Finale von Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie geendet, der Vertonung von Friedrich Schillers Gedicht »An die Freude«. In diesem Beethoven-Jahr (am 17. Dezember 2020 hätte der berühmte deutsche Komponist seinen 250. Geburtstag gefeiert) waren es vielleicht sogar noch einige mehr als sonst. Die Tradition, das neue Jahr musikalisch mit der »Ode an die Freude« zu beginnen, geht wahrscheinlich auf das Leipziger Gewandhausorchester und das Jahr 1918 zurück und hat sich seitdem weltweit verbreitet.

Schillers Gedicht war ursprünglich als Trinklied angelegt, aber die Verse, in denen er die vollen Gläser kreisen und »den Schaum zum Himmel spritzen« lässt, hat Beethoven in der Vertonung ausgelassen. Dass die »Neunte« nicht bloße Sektlaune feiert, darf als gesetzt gelten. So oder so scheint es aber gerade zu Neujahr angemessen, von Freude, Liebe, Freundschaft, Brüderschaft aller Menschen und letztlich sogar der Versöhnung der sterblichen Welt mit dem Göttlichen zu singen. Ein stärkeres Zeichen dafür, dass man sich im und vom neuen Jahr wirklich alles, alles Gute wünscht, kann es kaum geben.

Auch mit der Philosophie ist Beethovens berühmtes Werk eng verknüpft. In den »Konversationsheften« des ertaubten Komponisten findet sich im Jahr 1820, als er bereits seit Jahren mit ersten Ideen für die 9. Sinfonie beschäftigt war, der berühmt gewordene Ausruf »Das moralische Gesetz in uns und der gestirnte Himmel über uns! Kant!!!«. Hier wird zwar nicht Immanuel Kant selbst zitiert, sondern eine Abwandlung eines der berühmtesten Kant-Zitate durch den Wiener Astronomen Joseph Johann Littrow (1781–1840), aber der Bezug ist klar: Das »moralische Gesetz«, um das es hier geht, ist Kants kategorischer Imperativ – eine rein aus der Vernunft entwickelte, ohne jede Ausnahme gültige Richtschnur zur Beurteilung menschlicher Handlungsregeln; ein Fundament für das Gut-sein-Können des Menschen, das ganz den Menschen gehört, aber dennoch überzeitlich, unantastbar und unverbrüchlich ist.

Der Hauch des Ewigen

Ganz gleich, wie man zur praktischen Umsetzbarkeit von Kants Moralphilosophie steht, ist es sicherlich verständlich, wenn einen rein bei dieser Idee ein wenig der Hauch des Ewigen anweht. Und es erscheint plausibel, Beethovens den Rahmen der damaligen Formen sprengendes Werk als Versuch zu sehen, musikalisch Vergleichbares zu schaffen. (Nebenbei findet sich bei Kant auch ein großer philosophischer Wurf zum Thema »Alle Menschen werden Brüder« – nämlich die Schrift »Zum ewigen Frieden« von 1795, welche die Vision einer Welt ohne Krieg skizziert, in der alle Staaten in ein allgemein gültiges Völkerrecht eingebundene demokratische Rechtsstaaten sind.) In der Beethoven-Interpretation ist der Kant-Bezug ein derartiger Allgemeinplatz geworden, dass umgekehrt Kants erstes Hauptwerk, die »Kritik der reinen Vernunft«, schon despektierlich als »die 9. Sinfonie der Philosophie« bezeichnet wurde.

Jahreswechsel sind willkürlich gewählte Zeitpunkte

Jahreswechsel sind letztlich willkürlich gewählte Zeitpunkte. Der christliche Kalender, so dominant er auch ist, ist bekanntlich nicht der einzige (das aktuelle jüdische Jahr 5780 hat zum Beispiel bereits Ende September 2019 begonnen). Doch selbst innerchristlich herrschte bis zur päpstlichen Festsetzung von Neujahr auf den 1. Januar im Jahr 1691 noch Uneinigkeit über den Jahresbeginn. Gerade das Willkürliche, eigentlich Grundlose daran macht den Jahreswechsel so attraktiv dafür, reinen Tisch machen, im Leben aufräumen, sich vernünftige neue Regeln geben zu wollen; zugleich aber auch dafür, ohne einen materiellen Anlass zu feiern.

Neujahr feiern ist ein bisschen wie »Wir trinken, weil Dienstag ist«, aber mit dem Unterton, dass man selbst und die ganze Welt besser und vernünftiger werden sollte. Und so abgedroschen die Sache mit der 9. Sinfonie inzwischen ist – zu einem solchen Fest passen Beethoven, Schiller und Kant eben recht gut.

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