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Freistetters Formelwelt: Ein Symbol für die »Wissenschaft vom Unendlichen«

Die Unendlichkeit lässt sich nicht denken oder anschaulich fassen. Aber man kann sie mathematisch behandeln, sofern man sich auf die richtige Schreibweise einigt.
Unendlich-Zeichen
Welches Symbol man verwendet, ist zunächst nicht entscheidend. Aber darf man die Unendlichkeit überhaupt durch ein Zeichen darstellen?

In einem mathematischen Buch bin in kürzlich auf diese Formel gestoßen:

Man muss vielleicht mehr als einmal hinsehen, um zu erkennen, was daran seltsam ist. Da ist zuerst die etwas ungewöhnliche Schreibweise »Tang.« für die trigonometrische Funktion des Tangens, die wir heute normalerweise mit »tan« bezeichnen (oder in seltenen Fällen mit »tg«). Doch das ist nicht der Punkt, um den es geht. Die Formel scheint zu sagen, dass der Tangens eines Winkels von 270 Grad gleich null minus null ist, was natürlich null ergibt. Das hätte man erstens kürzer durch »Tang.270° = 0« ausdrücken können, und zweitens ist es falsch.

Der Tangens eines Winkels ist definiert als dessen Sinus geteilt durch den Kosinus. Der Sinus von 270 Grad beträgt −1, was aber egal ist, da der Kosinus von 270 Grad null ist. Weil eine Division durch null nicht möglich ist, ist der Tangens damit für diesen Winkel nicht definiert: Er würde an der Stelle einen unendlich großen Wert annehmen. Damit löst sich das Rätsel um die seltsame Formel. Sie stammt aus einem Buch, das vom niederländischen Wissenschaftler Obbe Sikkes Bangma 1808 veröffentlicht wurde und sich mit Trigonometrie beschäftigt. Bangma listet darin die Werte diverser Funktionen für bestimmte Winkel auf, und die Sequenz »0-0« soll wohl das Symbol für die Unendlichkeit darstellen: ∞.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

In der Mathematik steht die liegende Acht für das Unendliche. Wie bei so vielen Symbolen hat es ein wenig gedauert, bis es sich durchgesetzt hat. Das erste Mal verwendete es 1655 der englische Mathematiker John Wallis in einem Buch, in dem er erklärte, wie man geometrische Figuren aus unendlich vielen Linien beziehungsweise Parallelogrammen zusammensetzen kann. Die Dicke dieser Stücke gibt Wallis als »1« an. Wie er auf genau das Symbol gekommen ist, hat er nicht erwähnt. Man vermutet, dass es auf eine Variante der römischen Ziffern zurückgeht, bei der man 1000 als »CIƆ« geschrieben hat, was zusammengezogen der liegenden Acht ähnelt. Andere Autoren haben stattdessen ein »m« verwendet (die Zahl 1000 lässt sich im römischen Ziffernsystem auch mit »M« darstellen).

Kann es überhaupt ein Symbol für das Unermessliche geben?

Als im 17. und 18. Jahrhundert die Infinitesimalrechnung entwickelt wurde, gab es noch Diskussionen darüber, ob es zulässig ist, das Unendliche durch ein mathematisches Symbol darzustellen. Erst später hat man entsprechende Formalismen entwickelt, die den Umgang mit der Unendlichkeit mathematisch exakt regeln – und das ∞-Symbol tauchte immer öfter in Texten auf. Offensichtlich war man zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch noch nicht in allen Druckereien in der Lage, die liegende Acht korrekt darzustellen, weswegen sich Bangma in seinem Buch mit der Darstellung »0-0« helfen musste.

Die liegende Acht als Symbol für die Unendlichkeit hat sich heute über die Mathematik hinaus verbreitet und wird inzwischen als Icon verwendet (etwa für Einstellungsmöglichkeiten bei Fotoapparaten), als Markenzeichen für Firmen, als popkulturelles Symbol, in der Kunst und an vielen anderen Stellen, die nichts mit Mathematik zu tun haben. Dort verwendet man das ∞-Symbol natürlich in einem strengeren Sinn: nicht als Bezeichnung für eine unendlich große Zahl, sondern für etwas, was einer »potenzielle Unendlichkeit« entspricht. Die Gesamtheit der natürlichen Zahlen ist zum Beispiel unendlich groß und diese »absolute Unendlichkeit« wird mit den von Cantor entwickelten Kardinalszahlen dargestellt. Will man dagegen anzeigen, dass eine Folge von Zahlen kein Ende hat, dann verwendet man zur Darstellung dieser potenziellen Unendlichkeit die liegende Acht.

Hermann Weyl hat die Mathematik einmal als »Wissenschaft vom Unendlichen« bezeichnet. Zum Glück konnte man sich mittlerweile auf das passende Symbol dafür einigen.

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