Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Mannes, der Verbrecher und Ohrläppchen vermaß
»Alter: 28 Jahre, Größe: mittelmäßig, Körperbau: stark, Augen und Augenbrauen: blond, Stirn: hohe, Nase: gebogen, Kinn: rund, Backenbart: stark, Haare: braun, Gesichtsform: rund, Gesichtsfarbe: gesund, Mund: gewöhnlich. Kennzeichen: An der linken Wange eine kleine Hiebnarbe.«
So liest sich eine polizeiliche Personenbeschreibung aus dem Jahr 1835. Wenn Polizei- und Justizbehörden damals vor der Aufgabe standen, verdächtige oder verhaftete Personen wiederzuerkennen, setzten sie auf Personenbeschreibungen und auf körperliche Merkmale, die »Besonderen Kennzeichen«. Damit waren etwa Narben oder Muttermale gemeint.
Kein Wunder, dass man immer wieder einen Falschen auf die Wache brachte – oder gar den Richtigen laufen ließ, weil man ihn nicht wiedererkannte. Noch dazu, wo hunderte solcher Beschreibungen in Fahndungslisten kursierten. Wer sollte da den Überblick behalten? Das System war wenig effizient, aber schlicht das einzige, das man hatte. Groß war also die Hoffnung, als sich ein brandneues Verfahren ankündigte, das ein lebensechtes Abbild der gesuchten Person versprach: die Fotografie.
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Mit dem Fotoapparat auf Verbrecherjagd
In vielen Polizeibehörden Europas entstanden ab den 1870er Jahren Abteilungen, die sich auf das Wiedererkennen von Personen spezialisierten – die Erkennungsdienste. Sie richteten Ateliers ein und begannen, festgenommene Personen und Strafgefangene zu fotografieren. Die Fotosammlungen nannten sie Verbrecheralben. Die Sache war aufwändig und teuer, denn fotografiert wurde auf Glasplattennegative. War damit das Problem der Wiedererkennung gelöst? Eher nicht.
Alphonse Bertillon, ein Mitarbeiter der Pariser Polizei, zeigte sich bitter enttäuscht: »Vor einigen Jahren glaubte man des Wiedererkennens rückfälliger Häftlinge durch Aufnahme und Registrierung derer Fotografie gesichert zu sein. Aber auch das war nur eine leere Hoffnung; in nicht ganz zehn Jahren hatte man auf diese Art in Paris 100 000 Bilder gesammelt, unter denen jeden Vagabunden zu suchen, ganz unmöglich wurde.«
Unzufrieden mit der Situation arbeitete Bertillon an einer Lösung – zunächst gegen den Widerstand seiner Vorgesetzten – und erfand das erste biometrische Identifizierungsverfahren: die Anthropometrie oder auch Bertillonage. Die Schwierigkeit, so seine Überlegung, lag offensichtlich darin, gesammelte Informationen über individuelle körperliche Merkmale durchsuchbar zu machen. Und so war Bertillon der Erste, der ein biometrisches Verfahren zur Anwendungsreife brachte.
Anthropometrie: Das erste biometrische Identifizierungsverfahren
Statt beschreiben sollten die Polizisten künftig messen, messen, messen. Und zwar nicht das Außergewöhnliche, das Auffällige eines Körpers, sondern das, was allen Menschen gemeinsam ist. Bertillon erkannte: Wenn ein Merkmal für ein biometrisches Identifizierungsverfahren in Frage kommen soll, muss es vier Bedingungen erfüllen. Es muss einmalig sein, ein Leben lang unveränderlich bleiben, natürlich messbar sein und bei allen Personen vorkommen. Die »Besonderen Kennzeichen« schieden damit aus, schließlich haben nicht alle Menschen an ähnlichen Körperstellen Narben oder Muttermale.
Bertillon legte elf solcher Körpermaße fest, darunter die Körperlänge, die Kopfbreite, die Länge des rechten Ohrs oder auch die Länge des kleinen Fingers. Zwar gibt es viele Menschen, die gleich groß sind oder deren Kopf ähnlich breit ist, aber nur bei sehr wenigen stimmt die Kombination aller Maße überein.
1888 stieg Bertillon mit Mitte 30 zum Leiter des Pariser Erkennungsdienstes auf und richtete dort eine anthropometrische Registratur ein. Viele Staaten folgten bis zum Ende des Jahrhunderts dem französischen Vorbild. Zum Beispiel wurde 1897 die Bertillonage im Deutschen Reich und der Habsburger Monarchie offiziell eingeführt. Doch in den meisten Fällen blieb es bei Testläufen und kleineren lokalen Umsetzungen.
Die Klassifizierungswut greift um sich
Denn mit der Anthropometrie war das Problem des Wiedererkennens von Verdächtigen mitnichten gelöst. Es stellte sich heraus, dass das Verfahren zu komplex war, die Messungen viel Zeit in Anspruch nahmen und am Ende zu ungenau waren. »Für die Praxis ist das System nicht verwendbar«, urteilte einige Zeit später ein Kriminalist und schickte hinterher: »Es ist das Produkt einer geradezu krankhaften Klassifizierungswut.«
Diese Klassifizierungswut lässt sich bei Bertillon noch an weiteren Stellen finden, denn er hat nicht nur die Anthropometrie erfunden, sondern auch ein Beschreibungssystem für Augenfarben mit sechs Klassen von »rein blauen und grauen Augen« (»impigmentés«) bis hin zur Kategorie »schwarzbraun grünlich schimmernd, aber durchgehend schwarzbrauner Farbstoff« (»pigmentation marron pur«). Und dann hat er gleich noch eine Klassifizierung für das Ohr nachgelegt. Allein beim Ohrläppchen unterschied Bertillon zwischen sieben Formen von »zwickelförmig« bis »freihängend«.
Durchgesetzt haben sich diese Verfahren allesamt nicht. Nur eine Innovation Bertillons sollte sich als dauerhaft erweisen: Er war es, der bei der Pariser Polizei dafür sorgte, dass Verdächtige nicht nur von vorne, sondern auch von der Seite fotografiert wurden. Ihm verdanken wir also die klassischen Polizeibilder, die wir heute als Mugshots kennen.
Auf die Vermessung folgten die Fingerabdrücke
Sein Verfahren der Anthropometrie dagegen geriet bald ins Hintertreffen. Insbesondere als ein neues Identifizierungsverfahren auftauchte, das nicht nur die Bertillonage verdrängte, sondern sich auch als dergestalt überlegen erwies, dass wir es heute noch verwenden. Es war die Daktyloskopie, das Fingerabdruckverfahren. 1903 wurde es offiziell in England eingeführt, und wenige Jahre später folgten die meisten europäischen Staaten.
Die Biometrie indessen führte ein Schattendasein, bis sie schließlich vor nicht allzu langer Zeit ein regelrechtes Comeback erlebte: Seitdem Kameras den öffentlichen Raum ausleuchten und Computer schnell genug sind, um Gesichtsproportionen automatisch auszuwerten, entdeckt auch die Polizei ihr altes Interesse an der Vermessung des Menschen wieder neu. Binnen Sekunden durchforstet die Software Datenbanken mit Abertausenden von Fotos. Der Pariser Kriminalist, der 1914 starb, hätte vermutlich seine helle Freude daran gehabt.
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