Schlichting!: Schwimmen in der Luft
Die Löwenzahnpflanze erobert jedes Jahr neben Feldern und Wiesen selbst kleinste Lücken im Beton unserer Städte. Ihre Hartnäckigkeit verdankt sie einer langen Wurzel, die sie fest im Boden verankert, ihre erfolgreiche Verbreitung aber vor allem den leichten Samen. Diese lassen sich mit Hilfe luftiger Fallschirme in weit entfernte Gegenden tragen, um auch dort Fuß zu fassen. Ähnlich wie Seifenblasen scheinen sie sich der Schwerkraft regelrecht zu widersetzen – das macht Pusteblumen als Spielzeug beliebt.
Aus der Nähe betrachtet besteht ein einzelner Schirm, in der Fachsprache Pappus genannt, aus einem winzigen Stängel. An einem Ende hängt ein längliches Samenkörnchen, und auf der anderen Seite geht er in einen strahlenförmigen Kranz von Miniaturstreben über. Diese sind nach außen gerichtet und besitzen feinste Verästelungen, die mit bloßem Auge nur schwer zu erkennen sind.
»Eine Welt in einem Sandkorn zu sehn und einen Himmel in einer wilden Blume«
William Blake, 1757–1827
Das Ganze erinnert an einen vom Wind umgestülpten Regenschirm. Doch trotz der frappierenden Ähnlichkeit bieten die Filamente des Pappus wenig Angriffsfläche, denn der Schirm ist kaum bespannt: Blickt man senkrecht hindurch und misst an dieser Projektion genau nach, sind nicht einmal zehn Prozent der Fläche bedeckt – der Rest ist durchlässig. Wenn so viel Luft durch die Zwischenräume strömen kann, sollte das Geäst im Vergleich zu einer geschlossenen Scheibe eine geringe Bremskraft entfalten. Aber unsere Intuition ist an Phänomenen alltäglicher Dimensionen geschult und täuscht uns hier völlig. 2018 hat eine Gruppe Physiker von der University of Edinburgh gezeigt, dass der poröse Pappus des Löwenzahns im Gegenteil eine etwa viermal so große Bremswirkung ausübt wie eine luftdichte Fläche vom gleichen Radius.
Wir irren uns, weil wir physikalische Einflüsse auf das Verhalten von Systemen tendenziell unabhängig von deren Größenordnung betrachten. Beispielsweise erstaunen uns die Kräfte winziger Tiere wie der Ameisen, die mit dünnen Beinchen das 50-Fache ihres Körpergewichts tragen. Darin kommt jedoch keine biologische Besonderheit zum Ausdruck. Vielmehr nimmt auf dem Weg in den Mikrokosmos der Beitrag der Schwerkraft schneller ab als der Einfluss anderer Kräfte. Denn Erstere hängt von der Masse ab, die grob betrachtet wie das Volumen sinkt, also mit der dritten Potenz des Radius. Andere Kräfte, beim Beispiel der Ameise die Muskelkraft, hängen von der Querschnittsfläche ab, die sich nur mit dem Quadrat des Radius verringert.
Stabile Umtriebe in zäher Luft
Das zeigt sich insbesondere bei der Sinkgeschwindigkeit in der Luft. Sobald sich ein konstanter Wert eingestellt hat, halten sich die zur Masse proportionale Schwerkraft und die zur Querschnittsfläche proportionale Luftwiderstandskraft die Waage. Das geschieht bei kleineren Objekten früher. Deswegen schwebt Wasser in Form feiner Nebeltröpfchen lange umher.
Die Flächen-Volumen-Relation macht sich bei derart winzigen Strukturen wie den Filamenten des Pappus noch in anderer Hinsicht bemerkbar. Luft besitzt wie alle Flüssigkeiten und Gase eine Zähigkeit (Viskosität). Bei größeren und schwereren Objekten tritt diese wegen der dominierenden Trägheit kaum in Erscheinung. Der filigrane Federkelch des Löwenzahns aber bekommt die Viskosität der Luft deutlich zu spüren. Die Strömungsvorgänge beim Sinken des Pappus lassen sich daher nicht mehr rein aerodynamisch beschreiben. Die Luft wirkt wie eine viskose Flüssigkeit. Beim Durchgang durch den Schirm bewegen sich benachbarte Luftpakete nicht unabhängig voneinander, sondern vielmehr kommt es zu beachtlichen Wechselwirkungen, und der Pappus verhält sich eher wie eine durchlässige Membran.
Das ist für das ruhige, ungestörte Sinken von grundlegender Bedeutung. Während nämlich eine frei fallende Scheibe eine oszillierende Wirbelschleppe nach sich zieht und daher pendelnd zu Boden geht, unterbindet die hohe Porosität des Schirms diesen Vorgang.
Die Experimente der britischen Forschergruppe zeigen aber auch: Eine solche Stabilität tritt nicht bei einem Schirm jedweder Porosität auf. Vielmehr ist die Größe und Struktur der Zwischenräume von entscheidender Bedeutung. Sie ist gewissermaßen das Ergebnis einer subtilen evolutionären Abstimmung.
Die Lücken zwischen den Filamenten lassen nämlich gerade so viel Luft hindurch, dass genau über dem Pappus ein länglicher Wirbel entsteht und aufrechterhalten wird. Diese Krönung des Sinkflugs nennen die Wissenschaftler einen separierten Wirbelring (separated vortex ring, SVR), weil er von der übrigen Luftströmung in der Umgebung des Pappus getrennt auftritt. Er bleibt stabil, da die hindurchfließende Luft kontinuierlich auf die äußere Schicht des Wirbelrings auftrifft, ihn umrundet und durch Reibung antreibt. Schnell bewegte Luft erzeugt einen niedrigeren Druck. Darum wirkt der Wirbelring wie ein kleines Tiefdruckgebiet, das den Pappus anzieht. So leistet es einen Beitrag dazu, ihn noch länger in der Luft zu halten, als er es allein auf Grund seiner Winzigkeit könnte. Mit diesem Trick tragen Luftströmungen die Samen weit von ihrem Ursprungsort fort.
Der separierte Wirbelring ist ein bislang unbekanntes Strömungsphänomen. Dabei dürfte ihm über die Pusteblume hinaus Bedeutung zufallen: Er kann theoretisch Flugbewegungen diverser biologischer und künstlicher Miniaturgebilde stabilisieren und so erhebliche Gewichtseinsparungen im Vergleich zu undurchlässigen Strukturen ermöglichen. Ähnliches Verhalten wie bei den Löwenzahnsamen ist auch von winzigen Insekten bekannt, die sich ebenfalls mit faserigen Büscheln statt mit soliden Flügeln fortbewegen. Da die Zähigkeit der Luft offenbar eine so große Rolle spielt, könnte man hier sogar eher von Schwimmen als von Fliegen sprechen. Schon bei etwas größeren Gebilden, wie etwa den Ahornsamen, sind hingegen durchgehende Flügel von Vorteil.
Bei wie vielen Auftriebsmechanismen kleiner Strukturen in der Natur sich der separierte Wirbelring tatsächlich merklich auswirkt, ist nun eine Aufgabe für weitere Untersuchungen. Ingenieure denken unterdessen bereits darüber nach, die Entdeckung technisch zu nutzen.
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