Warkus' Welt: Natürlich mit Chemie
Es ist ein alter Hut, aber bis heute relevant: Materielle Gegenstände lassen sich (abgesehen von ein paar sehr merkwürdigen Sonderfällen, die im Alltag kaum eine Rolle spielen) in Atome zerlegen. Jedes Atom kann man einem Element im Periodensystem zuordnen. Die Wissenschaft, die sich mit dem Aufbau von Stoffen, also mit dem Zusammenspiel von Atomen gleicher oder unterschiedlicher Elemente beschäftigt, ist die Chemie. Somit besteht also alles um uns aus »Chemikalien«.
Für unseren eigenen Körper gilt dies selbstverständlich auch – ebenso wie für »natürliche« Gegenstände wie Pflanzen oder Früchte und für »künstliche« wie Werkzeuge oder Schmerztabletten. Einem Stoff einer bestimmten Zusammensetzung ist nicht anzusehen, ob er aus einer Pflanze extrahiert oder in einer Fabrik synthetisiert wurde. Das kann man zum Beispiel Leuten entgegnen, die viel Aufhebens darum machen, ob ihr Essen »Chemie« enthält oder die online »natürliche Seife ohne Chemie« (ja, das gibt es tatsächlich!) kaufen.
Wenn anhand der Stoffe, aus denen etwas besteht, nicht zu erkennen ist, ob es »natürlich« oder nicht ist, hat es dann überhaupt einen Sinn, davon zu reden, etwas sei natürlich? Intuitiv möchte man vermuten, dass es doch möglich sein muss, ein Kriterium zu finden, das einen Tiger von einem Fernseher, einen Felsen von einem Reisebus unterscheidet.
Es muss doch möglich sein, ein Kriterium zu finden, das einen Tiger von einem Fernseher, einen Felsen von einem Reisebus unterscheidet
Ein traditioneller, wie so vieles auf Aristoteles zurückgehender Gedanke unterscheidet Natürliches von Unnatürlichem anhand seiner Fähigkeit, ohne menschliches Eingreifen zu entstehen und sich zu entwickeln. Tiger kommen in freier Wildbahn zur Welt, wachsen und vermehren sich. Felsen werden durch geologische Prozesse hervorgebracht. Beides benötigt kein menschliches Zutun. Im Gegensatz dazu gibt es nirgendwo auf der Welt Verhältnisse, die es erlauben, dass ohne Eingreifen von Menschen Fernseher oder Reisebusse entstehen.
Das Heikle an diesem oberflächlich ganz brauchbaren Kriterium ist, dass es sich an mindestens zwei Stellen angreifen lässt: Ein Einwand ist, dass die Stellung des Menschen selbst fragwürdig ist. Nach unserem heutigen Kenntnisstand ist das Leben und schließlich der Mensch selbst durch äußerst langwierige, aber nicht intelligent gelenkte Prozesse spontan aus unbelebten Stoffen hervorgegangen. Der Mensch ist kein Kunstprodukt. Warum soll dann aber gerade das, was Menschen hervorbringen, einer anderen Kategorie angehören als etwa das, was Webervögel hervorbringen oder Termiten? Ist nicht die ganze Erde oder sogar das ganze Universum gemeinsam »die Natur«, ein einziger großer, zusammenhängender Prozess, in dem die Menschheit nur ein winziges Rädchen ist? Ist nicht alles irgendwie natürlich?
Der Mensch hat überall seine Finger im Spiel
Der andere Einwand ist exakt entgegengesetzt: Man kann zunächst einmal argumentieren, dass große Teile von dem, was wir auf der Erde üblicherweise »natürlich« nennen, menschlich beeinflusst sind. So ist von den 11,4 Millionen Hektar Wald in Deutschland kein einziger als »Urwald« anzusehen. Naturschutz und Raumplanung bedeuten, dass gewissermaßen auf höchster Ebene mit dem Land gärtnerisch umgegangen wird: Es gibt überall mehr oder minder genau die »Natur«, die politisch und verwaltungsmäßig dort hingeplant wird. Zwar wachsen Bäume selbstverständlich auch in Deutschland von selbst. Aber kein Baum wächst mehr ohne von Menschen geschaffene oder zugelassene Rahmenbedingungen.
Und es geht noch darüber hinaus: Der menschliche Einfluss, zum Beispiel durch den inzwischen katastrophale Dimensionen annehmenden Klimawandel, reicht mittlerweile bis in die entlegensten Naturräume. Und im Großen und Ganzen wächst auch nirgendwo mehr ein Tiger oder ein anderes seltenes Wildtier in Freiheit heran, ohne dass dies durch bewusstes menschliches Planen und Handeln ermöglicht wird. Die Erde ist damit zwar nicht vollständig künstlich, aber man könnte etwa (mit einem Ausdruck, den zum Beispiel der deutsche Philosoph Peter Janich verwendet hat) sagen, sie sei vollständig »kultürlich«. Alles »Natürliche« ereignet sich mit menschlichem Einfluss oder zumindest unter menschlicher Aufsicht.
Ob es nun also um die Weizenproteine in meinem Müsli oder die Salicylsäure in meiner Schmerztablette geht: Von beidem kann ich sagen, es sei fraglos ein Kulturprodukt – oder aber das Ergebnis natürlicher Vorgänge, an denen rein zufällig auch ein Tier namens Mensch beteiligt war. Was für mich natürlich oder künstlich ist, hängt letztlich von meinem eigenen Menschenbild ab.
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