Unwahrscheinlich tödlich: Tod durch Erstinken
Lüften ist in Deutschland geradewegs ein Volkssport. Der Elan, mit dem die Fenster hier aufgerissen werden, war für mich als Österreicherin ein kleiner Kulturschock. Denn ich bin mit folgendem Mantra aufgewachsen: »Erstunken ist noch keiner, erfroren sind schon viele.« Und das nur, um im Erwachsenenalter herauszufinden, dass ich einer Lüge aufsaß. Es sind nämlich schon sehr wohl Menschen »erstunken«, wenn auch unter besonders geruchsintensiven Umständen. Manche setzen sich dem Risiko sogar täglich in ihrem Job aus.
Dazu zählen etwa jene, die in die Kanalisation hinabsteigen, um dort Arbeiten zu verrichten. Abwässer, die unter unseren Füßen durch das Kanalnetz rauschen, transportieren allerhand übel riechende Substanzen. Und es ist nicht nur der beißende Gestank, der einem hier das Atmen erschwert: In den Rohren, Schächten und Kammern sammeln sich zum Teil hochgiftige Gase, die aus dem Schmutzwasser entweichen.
Wenn die Kacke am Dampfen ist
Immer wieder kommt es deshalb bei Wartungen oder Reparaturen zu tödlichen Unfällen. Im Mai 2024 starben beispielsweise fünf Personen bei Arbeiten im unterirdischen Tank einer Kläranlage nahe Palermo. Ein Angestellter konnte sich rechtzeitig in Sicherheit bringen und Einsatzkräfte alarmieren, doch für fünf seiner sechs Kollegen kam jede Hilfe zu spät. Nur der sechste überlebte; er konnte bewusstlos geborgen und ins Krankenhaus gebracht werden.
Laut einem Bericht der BBC hatte man zum Zeitpunkt des Unglücks in der Kammer eine erhöhte Konzentration an Giftgas gemessen. Um welches es sich handelte, erwähnt der Text zwar nicht. Wahrscheinlich ist aber Schwefelwasserstoff gemeint. Das nach faulen Eiern riechende Gas entsteht, wenn Eiweiße vergären – also sobald Mikroorganismen im Abwasser vorhandene Proteine zersetzen. Schon kleinste Mengen lassen sich am beißenden Geruch erkennen. Da Schwefelwasserstoffgas etwas schwerer als Luft ist, gelangt es kaum an die Oberfläche.
Wegen der großen gesundheitlichen Gefahr, die von der Chemikalie ausgeht, muss bei Kanalarbeiten immer für ausreichende Schutzausrüstung inklusive Atemschutz gesorgt sein. Im italienischen Fall fand man die Opfer jedoch ohne das nötige Equipment. Sogar die italienische Ministerpräsidentin schaltete sich deshalb ein und verlautbarte, der Vorfall müsse lückenlos aufgeklärt werden. Noch viel häufiger passieren solche tödlichen Unfälle jedoch in Ländern, in denen der Arbeitsschutz weniger strikt ist. So starben seit 1993 allein in Indien mehr als 1000 Menschen bei Unfällen in der Kanalisation und in Klärgruben.
Seuchensuppe unter den Kanaldeckeln
Schwefelwasserstoff ist aber bei Weitem nicht der einzige Gefahrenstoff, der in der Kanalisation lauert. Spätestens seit der Messung von Coronaviren im Abwasser dürfte klar sein, dass darin so ziemlich jeder Krankheitserreger enthalten ist, den man mit Körperflüssigkeiten abgeben kann. Ein großer Teil davon ist zwar nicht mehr vermehrungsfähig. Doch wegen der schieren Mengen wuseln trotzdem ausreichend Keime herum, um einen das Gruseln zu lehren. Von Pest- UND Choleraauslösern über diverse Brechdurchfallerreger, Hepatitis- und Polioviren bis hin zu Parasiten wie Giardia, Toxoplasma und unterschiedlichen Würmern tummelt sich in der Brühe so ziemlich alles, was in der Infektionsmedizin Rang und Namen hat. Auch deshalb ist ausreichende Schutzkleidung bei Kanalarbeiten ein Muss.
Wer nicht in der Kanalisation arbeitet, braucht sich vor Giftgasen im Abwassersystem nicht zu fürchten. Dass diese nicht über die Abflüsse in unsere Bäder dringen, haben wir vor allem einem genial einfachen baulichen Element zu verdanken: dem Siphon. Im U-förmigen Rohrabschnitt bleibt nämlich immer etwas Spülwasser zurück. Diese physische Barriere hindert Gase und andere Stoffe daran, zurück in unsere Wohnungen zu kriechen. Was nicht heißt, dass die Abflüsse ganz ungefährlich sind – doch das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag.
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