Die fabelhafte Welt der Mathematik: Forscher berechnet die perfekte Form eines Bierglases
Häufig forschen Mathematiker an Dingen, die nicht direkt einen Bezug zum alltäglichen Leben haben. Und Beispielaufgaben für Schülerinnen und Schüler, die das Fach attraktiv machen sollen, enthalten meist so starke Vereinfachungen, dass es schon fast lächerlich wird. Zum Beispiel wenn es um kugelförmige Kühe geht, die in einem Vakuum leben. Das hat den Ingenieur Cláudio Pellegrini von der brasilianischen Universität Sao Joao del-Rei gestört. Deswegen hat er sich einem realen Problem gewidmet, das sich mit Mathematik exakt lösen lässt: Er hat die optimale Form eines Bierglases ermittelt, damit die Flüssigkeit während des Trinkens möglichst wenig Wärme aufnimmt.
Während des Studiums sah ich mich meist mit der umgekehrten Aufgabe konfrontiert: Eine typische Lehrbuchaufgabe verlangt, anhand eines vorgegebenen Gefäßes zu berechnen, wie schnell sich eine Flüssigkeit erwärmt. Pellegrini interessiert sich aber dafür, welche Gefäßform möglichst wenig Wärme durchlässt, damit die Flüssigkeit lange kühl bleibt. Solche Probleme sind so genannte Optimierungsaufgaben. »Die Absicht ist, Studierende der Physik, Mathematik und Ingenieurwissenschaften zu ermutigen, eine rationale Herangehensweise an reale Probleme zu entwickeln und sich von der weit verbreiteten Auffassung zu verabschieden, dass ›Theorie in der Praxis anders ist‹«, schreibt Pellegrini in seiner Veröffentlichung. »Letztlich soll die Studie aber auch dazu beitragen, die Trinkbarkeit unserer Biere zu verbessern.«
Eine naive Herangehensweise besteht darin, zu fordern, dass die Oberfläche des Gefäßes möglichst klein gegenüber dem Volumen sein muss. Denn die Wärme der Umgebung dringt über die Oberfläche des Glases nach innen. Je kleiner diese also ist, desto länger bleibt das Bier angenehm kühl. Bereits in der Antike erkannten Gelehrte, dass im Fall von zwei Dimensionen der Kreis ein minimales Verhältnis von Umfang zu Fläche bietet. Und wie sich herausstellt, gilt das auch in drei Dimensionen: Eine Kugel hat die kleinstmögliche Fläche im Vergleich zu ihrem Volumen.
I don't know what's funnier, the fact that there is a Wikipedia page for "spherical cow", or that this is the prominent image of the page (by @keenanisalive) pic.twitter.com/Eggv2GZLVM
— Grant Sanderson (@3blue1brown) December 11, 2018
Ein kugelförmiges Bierglas wäre aber denkbar unhandlich. Und außerdem: Pellegrini interessierte sich nicht für eine statische Situation, in der man ein Bier in einem Glas stehen lässt und der Flüssigkeit beim Aufwärmen zusieht. »Der Ablauf ist hier ganz einfach: Ein Bier wird bestellt, der Kellner bringt es, es wird serviert, es wird getrunken«, schreibt er. Das heißt: Der Pegel innerhalb des Glases variiert – und damit auch die Oberfläche, die mit der Umgebung in Kontakt ist.
Zunächst stellte der Forscher ein paar Anforderungen an die Form des Glases. Dieses soll aus einem isolierenden, ebenen Boden bestehen, der groß genug ist, um es abzustellen. Zudem soll das Glas symmetrisch aufgebaut sein, so dass dessen Form durch einen Rotationskörper dargestellt wird. Dabei handelt es sich um eine Kurve, die man um 360 Grad um die x- oder y-Achse dreht. Man beschreibt somit eine Oberfläche. Um eine optimale Form zu bestimmen, genügt es also, die Kurve anzupassen, die den Rotationskörper definiert. In einer früheren Analyse, die Pellegrini im Februar 2024 veröffentlichte, hatte er so eine optimale Glasform ermittelt – allerdings umfasste das Gefäß mehr als 100 Liter.
Deswegen hat er es sich anschließend zur Aufgabe gemacht, ein realistisches Bierglas zu entwerfen. Ganz ohne Vereinfachungen kam Pellegrini aber nicht aus. So setzte er voraus, dass der Wärmewiderstand innerhalb des Glaskörpers verschwindet und dass der Boden Wärme perfekt isoliert (in der Realität helfen ein dicker Glasboden sowie die Nutzung von Bierdeckeln). Zudem setzte er voraus, dass die Temperatur des Biers überall gleich ist und dass das Getränk eine gleichmäßige Dichte besitzt – das trifft insbesondere bei filtrierten Sorten zu. Den Schaum als mögliche isolierende Schicht ignorierte Pellegrini. Und zuletzt ließ er auch die Wärmeübertragung der Hand auf das Glas unbeachtet, er untersuchte nur die Auswirkungen der Umgebungstemperatur. »Im kritischsten Fall, zum Beispiel am Strand an einem windigen Tag mit 38 Grad Celsius, können bereits drei Minuten ausreichen (bekannt aus persönlicher Erfahrung, die ich ausgiebig wiederholt habe), um das Bier ungenießbar zu machen«, führt Pellegrini aus.
Eine Formel für das optimale Bierglas
Mit diesen Annahmen leitete der Forscher eine Gleichung her, welche die zeitliche Temperaturänderung des Biers beschreibt. Dabei handelt es sich um eine Differenzialgleichung, das heißt, die Formel enthält eine Ableitung. Sie hat folgende Form:
\[\frac{dT}{dt} = \frac{h_{CV}}{\rho c_p} \left(\frac{A_{tot}}{V} (T-T_U) \right) \]
Dabei ist T die Biertemperatur, TU die Umgebungstemperatur, cp die spezifische Wärmekapazität, ρ die Dichte, V das Volumen, Atot die exponierte Fläche des Biers (also an der Mantelfläche und die obere Kreisfläche) und hCV der spezifische Wärmeleitungskoeffizient. Anhand dieser Formel kann Pellegrini schon vier Tipps geben, damit das Bier möglichst langsam abkühlt:
- Man sollte das Bier bestenfalls an einem kühlen Ort genießen, so dass TU möglichst gering ist.
- Nutzt man statt Glas ein stärker isolierendes Material wie Keramik, sinkt der Wärmeleitungskoeffizient.
Generell weist der Forscher darauf hin, dass eine schöne Schaumkrone das Bier vor Wärme isoliert und zusätzlich vor einem zu schnellen Verlust der Kohlensäure schützt. Darüber hinaus sollte man Wind und Zugluft meiden, da diese zu erzwungener Konvektion führen, die bei der Wärmeübertragung eine viel größere Rolle spielt als die hier betrachtete natürliche Konvektion.
All diese Tipps lassen sich meist nur befolgen, indem man einen Ortswechsel vornimmt. Sitzt man aber gemütlich in einer Kneipe, ist man den örtlichen Bedingungen ausgesetzt. Umso erfreulicher wäre es also, wenn die Betreiber von Gaststätten von vornherein Gläser verwenden würden, deren Formen auf einen minimalen Wärmeaustausch optimiert sind. Spoiler: Das ist nicht der Fall.
Die Bier-Champagnerflöte
Die Form des Bierglases ist in der oben genannten Gleichung im Quotienten Atot/V enthalten. Die Temperaturänderung fällt geringer aus, je kleiner er ist. Also lautet die Optimierungsaufgabe, der sich Pellegrini gestellt hat: Minimiere den Wert von Atot/V.
In der Schule lernt man, dass sich solche Optimierungsaufgaben mit Ableitungen lösen lassen. Um beispielsweise den Scheitelpunkt einer Parabel \(f(x) = x^2 + 3x +2 \) zu finden, leitet man die Funktion nach x ab und setzt das Ergebnis gleich null: \( 0= 2x + 3\). Daraus folgt, dass der Scheitelpunkt bei x = -1,5 zu finden ist.
Genau so ging auch Pellegrini vor: Er leitete den Quotienten Atot/V ab, setzte ihn null, und dann nutzte er die Eigenschaften von Rotationskörpern, um daraus eine Funktion für die optimale Form eines Bierglases herzuleiten. Demnach ist der Radius r eines perfekten Bierglases in Abhängigkeit der Höhe h durch folgende Formel gegeben:
\[ r = \frac{1}{C} \sqrt{4 + (C^2 R_b^2 -4) e^{Ch/2})} \]
C ist hierbei eine Konstante und Rb der Radius des Glasbodens. An der Formel lässt sich bereits ablesen, dass die Mundöffnung des Glases in der Regel groß ist und das Glas nach unten hin schmaler wird – ähnlich, wie es bei vielen gängigen Biergläsern der Fall ist. Allerdings wird der Radius bei diesen meist nicht monoton kleiner, sondern sie haben oft eine geschwungene S-Form. Das unterscheidet sie von einem perfekten Bierglas.
Welche genaue Form das optimale Glas am Ende hat, hängt vom Radius des Glasbodens und der Konstanten C ab, die unter anderem durch die Höhe des Glases bestimmt wird. Zunächst hat Pellegrini die optimalen Formen für Gläser mit einer Höhe von 19 Zentimetern für verschiedene Radien des Bodens (zwischen 5 und 10 Zentimeter) berechnet. Das Ergebnis erinnert an eine Champagnerflöte.
Anschließend hat der Ingenieur die Parameter des perfekten Glases an verschiedene Bierglastypen angepasst, etwa dem in Großbritannien verbreiteten Imperial Pint, dem American Pint oder einem Weizenbierglas. Dafür hat Pellegrini den jeweiligen Bodenradius und die Höhe in seine Formel eingesetzt und damit die optimale Form berechnet.
Auch hier sieht die grobe Form für alle Typen gleich aus und erinnert an eine Champagnerflöte. Ob man daraus wirklich ein kühles Bier trinken will, lässt der Autor offen. Doch er stellt klar: Auch wenn das Kölsch-Glas oder das in Brasilien verbreitete »Nadir Figueiredo«-Glas weit von der optimalen Form entfernt sind, sind sie in gewisser Hinsicht dennoch perfekt auf den Wärmetransport ausgelegt: Durch ihre geringe Füllmenge wird das Bier meist so schnell ausgetrunken, dass es sich gar nicht nennenswert erwärmen kann.
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