Leseprobe »Die Lösung für alle deine Probleme: Gibt’s nicht«: Deine Psyche ist politisch
In diesem Buch steht nicht die Lösung und auch nicht das Rezept für dauerhafte Zufriedenheit im Leben. Auch wenn es genau das ist, was viele von uns suchen: Lebensregeln, an die wir uns halten können, um nie wieder Rückschritte, Scheitern und Verlust erleben zu müssen. Gewissheiten, als wären wir aus Stein, Tricks und so etwas wie eine »finale Selbsterkenntnis«, um Schmerzen zu vermeiden, die unser Dasein zwangsweise mit sich bringt.
Leider kommen wir nicht auf diese Welt und können einfach unseres Glückes Schmied sein. Es kommt schon auch auf die Beschaffenheit des Hammers an, der uns in die Hand gedrückt wird, ob es überhaupt eine Glut gibt, in der wir das Eisen erhitzen können und ob uns jemand zeigt, wie das eigentlich geht: ein Schmied sein. Um das Bild dieses Sprichworts nicht weiter auszureizen: Es ist nicht egal, wo wir herkommen. Da unsere Kindheit viele Jahre dauert, sind wir über einen langen Zeitraum von unseren frühen Bezugspersonen abhängig und durch unsere gemächliche emotionale wie mentale Reifung überaus anfällig für Verletzungen, an deren Narben wir unter Umständen ein Leben lang kratzen.
Wie wir uns entwickeln, ist abhängig von unserer Persönlichkeit, aber auch davon, in welchem Wertesystem und in welchen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen wir aufwachsen, ob im Krieg oder Frieden, und ob unsere Eltern und Großeltern Krieg oder Frieden erlebt haben. Ob wir Armut oder Wohlstand kennen, ob uns als Kind auf Augenhöhe und mit Fürsorge oder mit Abwertung und Härte begegnet wurde. Wie psychisch reif die Umwelt war, in die wir geboren wurden und welche familiären Aufträge wir erhalten haben. Familiäre Aufträge sind eher die Regel als die Ausnahme, sie werden dann problematisch, wenn sie uns dauerhaft überfordern, nicht altersgerecht sind, nicht flexibel an unsere Fähigkeiten angepasst werden und uns in eine Rolle zwingen, die dazu führt, dass wir nicht zu uns selbst passen.
Im Umkehrschluss bedeutet das nicht, dass Kinder chronisch unter solchen Umständen leiden. Und auch die von uns mit einer von Gewalt und Entbehrungen geprägten Kindheit müssen nicht zu gewalttätigen Erwachsenen werden. Sie haben aber ein erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken und sind womöglich ein Leben lang auf der Suche nach ihrem verschütteten guten Kern. Fest steht auch, wenn wir auf die Extreme schauen: Despoten blieb, so zeigen es die Erkenntnisse der psychohistorischen Forschung, eine Kindheit mit liebevoller Zuneigung versagt. Gewalt wurde in diesen Biografien oft mit Liebe verwechselt. Eine Erkenntnis, die Taten weder relativieren noch entschuldigen soll, sondern verdeutlichen, wie relevant psychische Gesundheit für den Frieden ist.
Die Idee zu diesem Buch entstand kurz vor Beginn des Ukrainekriegs und lag dann lange Zeit brach, weil ich zwischenzeitlich über dem Gedanken verzweifelt bin, dass all die sehnlichen Versuche von Gesellschaften, psychisch gesünder zu werden, immer vergeblich sein müssen, wenn zeitgleich an einem anderen Ort der Welt Menschen sich abermals für Generationen traumatisieren. Traumatisierte und auch sehr gestresste Erwachsene haben weniger Ressourcen für die Nöte ihre Kinder. Sie und ihre Nachkommen können sich in zwei gegensätzlich wirkende Richtungen entwickeln: Sie reagieren sehr sensibel auf Stress, können situationsabhängig aber auch besonders resilient erscheinen. Vom sogenannten Post Traumatic Growth, also posttraumatischem Wachstum, spricht man in der Wissenschaft bei Menschen, die extremen Stress und lebensbedrohliche Krisen erlebt haben und danach erstaunlich gut durchs Leben kommen.
Dies ist aber von vielen Faktoren abhängig, da Resilienz, also psychische Widerstandsfähigkeit, auch viel damit zu tun hat, was vor einem schrecklichen Ereignis in Form von genetischen Vorteilen und zwischenmenschlichen Erfahrungen in der Waagschale lag und ob wir nach dem Ereignis auf Unterstützung trafen. Wenn die Aufarbeitung solcher Traumata nicht gelingt, ziehen sich die psychischen Folgen des Krieges, das belegt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, noch Generationen nach Kriegsende fort. Die Kinder und Enkel:innen sind es, die in Psychotherapien ihre unter der kollektiven Schuld und Verdrängung vergrabenen Familiengeschichten und transgenerationalen Traumata aufarbeiten.
Somit gibt es zwei Enden, von denen aus wir das Streben nach psychischer Gesundheit angehen können. Das eine: Wir ändern grundlegend alle Strukturen, die uns physisch und psychisch krank machen, bekämpfen Armut und soziale Ungerechtigkeit. Entwickeln Werkzeuge gegen die sogenannten Ismen, also Sexismus, Klassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus und beenden Ausbeutung und kriegerische Konflikte. Wir setzen uns für die körperliche und seelische Unversehrtheit von Kindern ein, indem wir uns mit Entwicklungspsychologie auseinandersetzen, bevor wir Eltern werden oder spätestens dann. Junge Familien bekommen automatisch in den ersten Lebensjahren ihres Kindes unkomplizierte psychologische Beratung und Familienhilfe, auf Wunsch eine längere Elternzeit bei gleichzeitiger Jobgarantie. Das Schulsystem wird revolutioniert.
Dazu müsste definiert werden, was Wachstum auch bedeuten kann: Wie kann eine Gesellschaft aussehen, in der innere Entwicklung, wie z. B. die Fähigkeit, sich ohne ständiges Kaufen regulieren zu können, auch Wachstum bedeutet? In der wir zur Ruhe kommen, Entspannung und Leichtigkeit empfinden können, auch ohne Kurztrip mit dem Flugzeug. Ideen zu einer gerechteren Zeitkultur, wie die Abkehr von der 40-Stunden-Woche hin zu einer standardmäßigen kurzen Vollzeit, veranschaulichen, mit was wir unsere Zeit auch füllen könnten, wenn wir den Schwerpunkt unseres Lebens wieder mehr zu den zwischenmenschlichen Begegnungen verschieben. In der während einer Arbeitswoche ausreichend Zeit für Sorgearbeit, soziales wie politisches Engagement bliebe.3 Mit was könnten wir uns dann befassen, welche konkreten Pläne würden wir umsetzen, um diese Welt zu einem lebenswerteren Ort zu machen? Viele Einzelpersonen, politische wie überparteiliche Gruppierungen und Vereine nehmen sich längst all dieser Themen an. Unzählige Menschen arbeiten in jeder freien Minute ehrenamtlich, um gesellschaftliche Missstände positiv zu beeinflussen. Auch wenn sich dies oft vergeblich anfühlen mag, da politische Akteure gegenteilige Entscheidungen treffen, ist diese Perspektive absolut notwendig, wenn wir psychische Gesundheit als systemisch eingebettet und beeinf lussbar verstehen und psychische Erkrankungen damit als Folge eines kranken Systems betrachten.
Das andere Ende, von dem aus wir zu mehr psychischer Gesundheit gelangen können, ist mit dem Blick auf uns als Individuen. Wie fühlen, denken und verhalten wir uns innerhalb einer Gemeinschaft? Wie können wir, vielleicht auch mithilfe einer Fachperson, verstehen und bearbeiten, was da als Schmerz in uns bohrt? Was uns daran hindert, die Person zu sein, die wir sind. Auch wenn unsere Probleme weniger individuell sind, als wir glauben, müssen wir sie allein in unserem Zimmerchen ertragen. Dabei will ich auf den Vorwurf gegenüber der Psychoanalyse und anderer Psychotherapieformen eingehen, dass der hyperindividualistische Blick, das Behandeln der Probleme des Individuums eigentlich nur Nabelschau und ein Herumdoktern an Symptomen seien, #psychoprivilege eben, und die wissenschaftlich messbaren Erfolge zudem weder groß noch langfristig genug. Man darf berechtigterweise die Frage stellen, ob das Suchen nach der inneren epikurischen Mitte nicht doch in den Schrank der Privilegien wandern sollte angesichts der Weltlage und der Menschen, die keine Wahl haben und keine Möglichkeit, sich Hilfe zu holen. In diesen Zeiten können Menschen doch nicht ernsthaft darüber sprechen, wie man jetzt eine gesunde Morgenroutine hinbekommt. Oder wie man lernen kann, sich leichter zwischen zwei Sorten Joghurt zu entscheiden.
Unter dieser trüben Lampe empfinde auch ich es als logische Konsequenz, dass unsere Spezies einfach noch nicht weit genug ist, dauerhaft ihren Platz auf diesem Planeten einzunehmen. Was bringt all die Psychoedukation in aufgeräumten Vorgärten angesichts unserer nicht enden wollenden Fähigkeit zu hassen, zu rächen, zu morden und unsere Gefühle zu betäuben, um nicht durchzudrehen? Wir löschen uns eben selbst aus, da wir es nicht schaffen, uns global und friedlich zu organisieren, wir brauchen die Gemeinschaft und ertragen sie doch nicht, da wir ihr gleichzeitig auch immer ausgeliefert sind. Unser individueller Einfluss auf unser Lebensglück genauso wie auf die politische Weltlage ist begrenzt und gleichzeitig schlägt da ein kleines Metronom in uns, das uns daran erinnert, dass es weitergeht, weitergehen muss, solange wir ein Bewusstsein haben, denken und fühlen können. Zwar prägen uns unsere frühen Erfahrungen maßgeblich, dank der Neuroplastizität unseres Gehirns sind wir aber zum Glück über unser gesamtes Leben hinweg fähig, dazuzulernen und uns zu verändern. Deshalb wirkt Psychotherapie und deshalb sind wir unserem frühen Schicksal nicht komplett ausgeliefert, auch wenn es sensible Phasen gibt, die wir nicht nachholen können und Zeitfenster, die sich schließen. Deshalb gibt es nicht die Lösung, aber dieses Buch.
Und darin plädiere ich für die Konzentration auf das große Ganze und auf das Individuum. Wir müssen unbedingt zweigleisig fahren, denn auch wenn es für die Verbesserung der Situation vieler Menschen politische und gesellschaftliche Bewegungen braucht: Das Leid jedes einzelnen Menschen zählt und verlangt jetzt sofort nach Linderung. Auch in der vermeintlich idyllischen Reihenhaussiedlung geben Eltern unverarbeitete Anteile an ihre Kinder weiter und je angespannter und bedrohter die eigene Existenz ist, je mehr Druck im Kessel, das haben die Corona-Lockdowns mit dem Anstieg häuslicher Gewalt auf drastische Weise gezeigt, desto schwerer wird es für uns, Mitgefühl uns selbst und anderen gegenüber zu empfinden. Wenn ich an so manchen Bürokonflikt denke, dem ich beiwohnen durfte, erstaunt es mich fast schon, dass sich nicht noch viel mehr Menschen auf der Welt gegenseitig umbringen und aus Rachegefühlen auslöschen wollen. Und wenn ich an meine eigene Wut denke, wundert es mich, dass friedliches Zusammenleben überhaupt so oft gelingt.
Wenn wir auch zu uns selbst freundlich sein können oder zumindest bemerken, dass wir uns gerade innerlich auspeitschen, wenn wir unsere eigene Existenz mehr vom »etwas werden müssen« hin zu »schon immer etwas sein« verschieben, wenn wir wahrnehmen, was in uns vorgeht und uns darin ernst nehmen und wenn wir lernen, nicht nur nach irgendwelchen Regeln und Vorgaben zu leben, nach dem »was eben von uns verlangt wird«, sei es von unseren Eltern oder der Firma, wenn es in unserem Leben nicht nur um das Zurechtzimmern eines vermeintlich idealen Lebenslaufs geht, sondern auch um die Zeit, in der wir nicht einer Erwerbsarbeit nachgehen, dann besteht zumindest die Möglichkeit, dass wir unser Dasein als reich und nicht als vertane Chance empfinden. Und auch wenn wir dabei immer wieder Rückschläge erleben, wir nicht das erreichen, was wir uns erträumt haben, wir es wieder nicht geschafft haben, für unsere Bedürfnisse einzustehen oder statt sachlich zu argumentieren, mit dem Fuß aufstampfen – auf was es ankommt, ist der Umgang mit uns selbst, genau in den Situationen, in denen wir nicht wie Maschinen laufen, sondern scheitern. In denen wir nicht die perfekten Leistungsträgerinnen und unsere eigenen Pressesprecher sind, sondern in denen unsere Unzulänglichkeit, der Zweifel und das ganze Konzert des menschlichen Versagens zu Tage treten und wir rufen: »Sorry dude, can’t hear you with my head in the toilet.«
Auch ich wollte jahrelang einfache Rezepte für ein gelingendes Leben, aber komme immer mehr zu dem Schluss, dass es die Lösung nicht gibt, für niemanden von uns. Wir straucheln eben alle nur, so gut wir eben können, aber: Jeder Schritt dabei zählt. Der Weg bleibt steinig und es sind maximal ein paar gemütliche Pausen auf einer Berghütte am Schliersee drin und wenn wir Glück haben, gibt es Kaiserschmarrn zum Nachtisch. Und klar, die richtig dunklen Momente, das Erleben von Verlust, Trauer und Tod, die Erfahrung, nicht so geliebt zu werden, wie ich es mir erhofft habe, und
nicht so angesehen zu werden, wie ich glaube, es verdient zu haben – diese bitteren Erfahrungen würde ich gerne für immer in einem Ordner ganz hinten ins Regal schieben und ausschließlich museal betrachten. Ich empfinde es als großes Geschenk, beruflich wie privat mit Menschen sprechen zu dürfen, die einen großen Teil ihres Arbeitslebens der menschlichen Psyche widmen, die auf dem neuesten Stand sind, dazu wissenschaftliche Texte veröffentlichen, die sich mit unseren Befindlichkeiten, den Tücken des Zusammenlebens und -arbeitens, Studien und Theorien beschäftigen und dabei selbst alles andere als perfekt oder etwa »fertig« sind. Und ich bin auch dankbar für all die weisen Leute in meinem Umfeld, die es nicht »studiert« haben, sondern die das Leben gelehrt hat und die mich mit ihrem Erfahrungsschatz inspiriert und geprägt haben.
Dieses Buch soll Denkmuster und Verhaltensweisen erklären, die unserer psychischen Gesundheit schaden können, und Bereiche zeigen, um die wir uns kümmern dürfen. Lassen und Machen eben – eine Aufteilung, die uns das ein bisschen mehr verdeutlichen soll.
Ich schöpfe dabei aus Gesprächen mit Expert:innen, aktuellen Erkenntnissen aus den kognitiven Neurowissenschaften, der Verhaltenstherapie, Bindungsforschung und systemischen Familientherapie. Dieser Ratgeber kann eine therapeutische Beziehung nicht ersetzen, aber eine Anregung für den Alltag sein und Impulse für mehr Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl geben.
Du kannst ihn konsumieren, wie du eine Zeitschrift liest oder einen Podcast hörst, fang damit an, was dich gerade anspricht, die Reihenfolge der Kapitel ist zwar Absicht, sie müssen aber nicht chronologisch gelesen werden. Greif hinein wie in einen Werkzeugkasten. Es gibt so viele Tools aus der psychotherapeutischen Praxis und auch aus dem Coaching, die uns im Alltag helfen können. Oftmals stehen wir ratlos davor und wissen nicht, wo wir anfangen sollen. Deshalb möchte ich mit diesem Buch drei Bereiche zusammenbringen: Ich beleuchte wiederkehrende große Themen der menschlichen Psyche, die bei den meisten Menschen irgendwann im Lauf des Lebens akut werden und die auch bei vielen psychischen Erkrankungen relevant sind. Es sind die Themen, die auch bei mir in den vergangenen Jahren am meisten Resonanz hinterlassen haben. Am Ende jedes Kapitels gebe ich praktische »kleine« Lösungen mit, denn wir können jeden Tag anfangen, an Stellschrauben zu drehen. Da sich unsere Psyche nicht im luftleeren Raum entwickelt, versuche ich, auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beleuchten, die es uns schwer machen und denen wir unbedingt Beachtung schenken sollten. Und da ich oft Zuschriften bekomme, in denen steht, dass sich Menschen, die meinen Podcast hören, in den Geschichten wiederfinden oder das Gefühl haben, ich würde eigentlich aus ihrem Leben erzählen, glaube ich, dass wir gar nicht so verschieden sind, liebe Leserin, lieber Leser – vielleicht handelt es sich dabei um Themen, die auch dich ganz häufig umtreiben.
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