Leseprobe »Die Stimme des Bodens«: Permafrostboden
Wenn der erste Schnee im Winter fällt und mich unter einer weichen, weißen Schicht bedeckt, klingt die Welt ein wenig dumpfer. Die Bewegungen des Eichhörnchens, das leicht verschlafen quer durch den Garten auf mir herumhuscht, verursachen kein Knacken und Rascheln mehr, sondern eher ein leises Rauschen und Knistern. Wenn die Temperaturen in den Minusbereich klettern, bin ich wirklich dankbar für die Schneedecke, die trotz ihrer eisigen Strukturen nicht umsonst ihren Namen trägt und für eine gute Isolation meiner Oberfläche sorgt. Ansonsten sähe es für das Eichhörnchen auch nicht so erfreulich aus. Es hat zwar kräftige Pfoten, doch mit einem stark gefrorenen Boden können auch die es kaum aufnehmen. Wenn meine Oberfläche beginnt einzufrieren, ist es ein ganz schöner Kraftakt, um die Nuss aus mir wieder auszugraben. Dank der Schneedecke reicht die Pfotenkraft jedoch aus, um nach dem ein oder anderen Fehlversuch (Eichhörnchen haben offenbar wirklich ein schlechtes Gedächtnis) endlich die im Spätsommer verbuddelte Ration Haselnüsse wieder freizulegen. Und da ist sie wieder, meine Speicherfähigkeit – diesmal als Speisekammer des Eichhörnchens.
Wenn es für längere Zeit kalt bleibt, wird es jedoch auch für das Eichhörnchen schwerer, an die vergrabenen Snacks zu gelangen. Von oben nach unten friere ich immer stärker ein, das in mir gespeicherte Wasser verfestigt sich zu einem starren Panzer. Das geht umso schneller, je offener meine Oberfläche Wind und Wetter ausgesetzt ist. Wenn die Schneedecke oder eine Schicht aus Laub oder Streu fehlt, wird’s erst recht frostig.
Doch selbst wenn ich an der Oberfläche mal erstarrt bin, ist dieser Zustand in Mitteleuropa normalerweise nicht von langer Dauer. Die meiste Zeit des Jahres bin ich im wahrsten Sinne des Wortes positiv, meine Temperaturen liegen über 0 °C und das Wasser in mir ist flüssig. Mit flüssigem Wasser können die meisten Lebewesen, ihr Menschen eingeschlossen, ja ohnehin am meisten anfangen. Da freut sich jede Pflanze, wenn ihre Wurzeln auf der Suche nach flüssiger Nahrung nicht erst eine Schneise durchs Eis ziehen müssen oder meterlang im Untergrund umherirren, bevor sie fündig werden. Pflanzen mögen’s flüssig, mit Eis kann ich ihnen keinen Gefallen tun.
Es gibt jedoch auch Gebiete auf dieser Welt, da bin ich fast das ganze Jahr dem Frost ausgesetzt, und das nicht nur für ein Jahr, sondern über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Da ist es kein Wunder, dass flüssiges Wasser dort meist vergebens gesucht wird, wenn ich mehrere Meter tief eingefroren bin. Diese Landstriche nennen sich Permafrost – also Gegenden, die permanent dem Frost ausgesetzt sind. Eurer Definition folgend muss ich dabei zunächst zwei Jahre in Folge unter Beweis stellen, dass meine Temperaturen den Nullpunkt nicht mehr überschreiten, bevor ich den Titel Permafrostboden tragen darf. In den Permafrostgebieten finden sich daher ziemlich unterkühlte Bodentypen. Wie soll es auch anders sein, wenn das Thermometer nur im Sommer für kurze Zeit in den positiven Bereich wechselt? In der Arktis, im Norden von Kanada, Norwegen oder Sibirien kann ich ein Lied davon singen. Als Permafrostboden bedecke ich etwa 15 % der Landmasse auf der Nordhalbkugel. Sogar in Deutschland gibt es an wenigen Stellen (noch) Permafrostgebiete. Um diese zu finden, musst du hoch hinauf in die Berge. Auf der Zugspitze findest du mich in starrer Kälte, benachbart von den letzten Gletschern Europas. Man könnte meinen, dass unter einem Gletscher auf jeden Fall Permafrost vorhanden ist, aber gerade dort nicht! Die Gletscher, so kalt sie auch sind, isolieren mich wie eine gigantische Decke und lassen mich dadurch nicht »erfrieren«. Wo diese Decke fehlt, entstehen die Permafrostböden im eisigen Untergrund.
Mit sinkenden Temperaturen verlangsamen sich alle Prozesse in mir, die Natur schaltet einen Gang zurück, sozusagen von der Produktion in die Konservierung. Ihr kennt das ja von euch selbst, wenn ihr an einem frostigen Wintertag draußen unterwegs seid und die Kälte langsam in euren Körper zieht – da werden eure Bewegungen ebenfalls immer langsamer.
Wo auch immer du mir als unterkühltem Bodentyp begegnest, das Prinzip ist überall gleich: Die vom permanenten Frost geprägten Regionen funktionieren als überdimensionale Kühltruhe dieser Welt, insbesondere als Kühltruhe für organisches Material und Wasser. Bei den Mooren habe ich dir ja bereits davon berichtet, dass Pflanzenreste und Co. nur sehr langsam bis gar nicht von den unzähligen Mikroorganismen abgebaut werden, wenn ihre Arbeitsbedingungen nicht stimmen und zu wenig Sauerstoff vorhanden ist. Ähnlich sieht es aus, wenn es für die Mikroorganismen einfach zu kalt ist – dann hat auch keiner Lust, an die Arbeit zu gehen. Mit scheinbar unendlicher Geduld warten sie ab, bis die Temperaturen wieder steigen und die Arbeitsbedingungen angenehmer werden. Im besten Fall ist es dann einmal im Jahr so weit und die kleinen Bodenhelfer machen sich wieder ans Werk, wenn die sommerlichen Sonnenstrahlen es schaffen, meine Oberfläche anzutauen. Im Verlauf eines Jahres machen meine Bodenhorizonte in den Permafrostgebieten dieser Welt von oben nach unten unterschiedliche Temperaturschwankungen mit. Ihr unterteilt mich dabei meist in zwei Schichten: die sogenannte aktive und die gefrorene Schicht.
Die Beschreibung aktiv erscheint da allerdings ein wenig übertrieben, besteht meine Aktivität in dem Fall doch lediglich darin, in den Sommermonaten aufzutauen, sodass die Natur mich für eine kurze Zeit nutzen kann, um zum Beispiel einigen hart gesottenen Pflanzen ein Wachstum zu ermöglichen. Die Tiefe meines Auftauens reicht dabei von wenigen Zentimetern bis zu mehreren Metern, je nach Intensität der sommerlichen Sonnenstrahlen. In dieser schmalen Zone spielen sich dann in kurzer Zeit die biologischen und biochemischen Prozesse ab, die für eine gewisse Vegetation und Teilnahme am Wasser-, Nährstoff- und Kohlenstoffkreislauf sorgen. In größere Tiefen dringt die Wärme jedoch nicht in mich ein, sodass mich kalte Füße dort ständig begleiten. Während dieser »sommerlichen« Zustände ist mein Oberboden gut mit Wasser gesättigt, das ganze Eis verschwindet ja nicht einfach von Zauberhand. Über das kühle Nass freuen sich zum einen die Pflanzen, die im Zeitraffer ihren Lebenszyklus in den kurzen Sommermonaten abspielen. Wenn die Kühltruhe abtaut, werden zum anderen auch meine vielen Mikroorganismen wieder aufgeweckt und setzen ihre Arbeit fort: Sie bauen organische Substanz ab und verwandeln (vereinfacht gesagt) alte Pflanzenreste in Wasser, Kohlendioxid (CO2) und Methan (CH4).
Es gibt auch Jahre, da schafft die Sonne es selbst in den Sommermonaten nicht, mich zum Tauen zu bringen. Dort hält der Winterschlaf der Mikroorganismen dann etwas länger an und sie verharren an Ort und Stelle, geduldig bis zu den nächsten positiven Temperaturen. Und die kommen bestimmt. Das Klima ändert sich ja bekanntlich, und mit ihm kommen immer öfter auch die »warmen« Zeiten in die sonst eisigen Steppen. Das Klima hat sich übrigens immer schon verändert und wird es auch weiterhin tun, ich habe da schon einige Wechsel mitgemacht. Das passiert ja auch nicht von heute auf morgen – mit meinem Tempo kann ich da ganz gut zuschauen und mich darauf einstellen. Da wundert es mich manchmal schon, dass ihr diese Veränderungen so lange ignoriert und erst gegen Ende der größten Veränderungen in Aktion kommt. Aber das ist vermutlich eine menschliche Strategie.
Wenn meine kleinen Bodenhelfer nun von Zeit zu Zeit also doch auf Betriebstemperatur kommen und wieder ihrer Arbeit nachgehen, kann es bei dem ganzen Abbau von alten Pflanzenresten allerdings auch schon mal etwas ungemütlicher werden. Nicht selten entweicht hier oder da ein Lüftchen, aus dem sich ein wahres Pups-Konzert entwickeln kann und mit dem eine Wolke von Methan aufsteigt. So läuft der Stoffwechsel; wer isst, der verdaut, und beim Verdauen entstehen Gase. Da unterscheidet sich der Mensch gar nicht so sehr von meinen Methanbakterien, nur der Maßstab ist ein anderer und die genaue Zusammensetzung der Flatulenzen. Wenn ihr den lieben langen Tag nichts anderes machen würdet, als abgestorbenes Pflanzenmaterial zu verdauen, sähe euer Ergebnis auch nicht anders aus als das der pupsenden Methanbakterien. Und auch, wenn die Bakterien von der reinen Körpergröße einen verschwindend geringen Einfluss zu haben scheinen, ihre Anzahl und die Dauer ihrer verdauenden Aktivitäten können es in sich haben. Kommen viele aktive Methanbakterien an einem unterirdischen Ort zusammen, kann es schon mal explosiv werden. Was als kleine Gasblase beginnt, kann sich mit der Zeit in unterirdischen Hohlräumen zu einer gigantischen Blähung entwickeln. So lange meine gefrorenen Strukturen diesen Hohlraum stabil halten, bleibt alles im Dunkeln verborgen. Doch steigt der Druck und trifft auf eine tauende Schwachstelle in meinem eisigen Gerüst, entweicht die methanhaltige Luft schlagartig und hinterlässt große Krater an meiner Oberfläche. Mit einer Breite von schnell mal 30 m und einer Tiefe bis zu über 50 m sind diese Krater dann nicht zu übersehen. Da sag noch mal jemand, irgendein Lebewesen sei zu klein, um etwas zu bewirken.
Während die Mikroorganismen sich in der Sommerzeit um den Abbau organischer Substanz kümmern, sorgt die Natur gleichzeitig für neuen Nachschub. Im gefühlten Zeitraffer wachsen neue Pflanzen in meiner getauten Oberfläche heran und recken ihre frischen grünen Spitzen dem Sonnenlicht entgegen. Doch mit dem Herbst ist ihr Lebenszyklus schon wieder beendet, und sobald der Frost erneut die Macht übernimmt, werden die frischen Pflanzenreste bis zum nächsten Abtauen der überdimensionalen Kühltruhe konserviert. Für die Mikroorganismen wird der Teller somit nie leer, ganz im Gegenteil – ihr Tisch ist mehr als reich gedeckt, insbesondere dort, wo in früheren und vor allem wärmeren Zeiten ganze Moore die Landschaft geprägt haben. Durch die kalten Temperaturen bleiben große Mengen an abgestorbenen Pflanzen in mir erhalten und damit gigantische Mengen an Kohlenstoff. Da kommen die Mikroorganismen mit dem Abbau bei Weitem nicht hinterher. Als Permafrostboden kommt mir an der Stelle erneut meine Superkraft des Speicherns zugute – in dem Fall als Speicher für Kohlenstoff.
Wenn es nach der sommerlichen Erwärmung schließlich wieder friert und sich das ganze Wasser in mir erneut in einen starren Eispanzer verwandelt, mischt diese Kraft des Eises meine Horizonte und meinen Aufbau gehörig durcheinander. Für die Fachwort-Freunde unter euch: Kryoturbation nennt sich dieser Masseur, der mich mit seinen eiskalten Händen ordentlich durchknetet. Und diese Massage hat es wirklich in sich: Das kalte Wasser formt filigrane Eiskristalle in meinen Bodenporen, die dehnen sich mit dem Frost aus und schieben so meine Bodenpartikel von links nach rechts und von oben nach unten. Meine Horizonte werden da manchmal ganz schön auf den Kopf gestellt. Je tiefer der Frost eindringt, desto stärker lockern die Eiskristalle meine Strukturen auf.
Die Visitenkarte dieses Masseurs zeigt sich auch an meiner Oberfläche: Durch den regelmäßigen Wechsel vom Tauen und Gefrieren des Wassers entstehen ganz typische Frostmuster, die wie ein Netz meine Kontaktfläche zum Himmel verzieren. Bei langem Frost ziehe ich mich oben zusammen, das sieht so ähnlich aus wie bei einem sehr trockenen Boden, und in mir bilden sich sechseckförmige Risse. Diese Risse sind meist ein paar Zentimeter breit und schnell mal einen Meter tief. Sie füllen sich im Sommer mit Wasser, das bei den frostigen Temperaturen im Nu gefriert und sich dabei ausdehnt. Ihr kennt das bestimmt aus dem eigenen Gefrierfach, wenn ihr eine gut gefüllte Getränkeflasche zu lange darin gelagert habt. Sofern es sich um keinen hochprozentigen Tropfen handelt, dem die niedrigen Temperaturen so schnell nichts ausmachen, könnt ihr meist nur noch Scherben von dem gefrorenen Inhalt pflücken. Der Frost hat eine wahre Sprengkraft, das zeigt sich auch in meinen Permafrostböden. Mit jedem Wechsel von Tau und Frost werden diese Risse etwas breiter und durchziehen nicht selten als imposante Keile meinen Untergrund. Wo im Sommer etwas Boden von oben in die wassergefüllten Risse rutscht, zeichnen sie die Formen der Frostsprengung dauerhaft nach.
Doch die kalten Hände des Kryoturbations-Masseurs hinterlassen nicht nur eine hübsch gemusterte Oberfläche und eisige Keile in meinem Inneren. Sie bewirken auch, dass organisches Material aus meinem Oberboden in größere Tiefen geknetet wird. Normalerweise finden sich die höchsten Gehalte an Humus in meinen oberen Dezimetern. Als Permafrostboden habe ich hingegen meine weitgehend waagerechten Horizontgrenzen aufgegeben und auch den Humus weiter nach unten wandern lassen. Durch die regelmäßige eiskalte Massage kann die Organik somit in größeren Tiefen gespeichert werden und entfernt sich immer weiter von der Atmosphäre. Dieses langfristige Speichern von organischer Substanz und darin enthaltenem CO2 nennt ihr auch Kohlenstoffsenke. Wie gesagt, diese Kohlenstoffsenke ist im Prinzip nichts anderes als eine riesige Kühltruhe für organisches Material, das einen großen Anteil am Kohlenstoffkreislauf dieser Welt ausmacht.
Auf unserer Erde gibt es eine bestimmte Gesamtmenge an Kohlenstoff, die in verschiedenen Speichern verteilt ist. Ein Teil ist im Boden und den Gesteinen gespeichert, ein Teil in der Atmosphäre, ein Teil im Wasser (Hydrosphäre) und ein Teil in den Lebewesen (Biosphäre, also Pflanzen, Tiere und Menschen). Und dabei spielt es für die Prozesse dieser Welt eine wichtige Rolle, wo sich welche Menge an Kohlenstoff befindet. Mit der Ruhe und Gelassenheit der Natur findet stets ein Transport von dem einen in den anderen Speicher statt. Eure menschlichen Prozesse haben diese Transporte allerdings deutlich beschleunigt und somit auch die natürlichen Mengenverhältnisse verschoben. Zu viel Kohlenstoff in der Atmosphäre hat nun mal Auswirkungen aufs Klima. Ist der Kohlenstoff hingegen irgendwo eingebaut (Boden, Steine, Pflanzen), dann ist er nicht so aktiv und damit auch nicht so relevant für Klimaveränderungen.
Alles, was an Kohlenstoff in den Kühltruhen der Permafrostböden gespeichert ist, spielt für das Klima somit zunächst keine große Rolle. Das ändert sich allerdings, sobald ich anfange aufzutauen, denn in den kalten Regionen dieser Welt ist in mir fast doppelt so viel Kohlenstoff gespeichert, wie momentan in der Atmosphäre vorhanden ist. Würden sich die Mikroorganismen in tauenden Zeiten darum kümmern, diesen ganzen Kohlenstoff in die Luft zu bringen, würde das gewaltige Veränderungen des Klimas mit sich bringen. Und so ganz unwahrscheinlich ist das gar nicht, wenn ich mir die Entwicklung meiner Temperatur so ansehe. Das scheint auch an euch nicht vorbeigegangen zu sein. Zumindest hat die Zahl der Personen, die in den letzten Jahren regelmäßig zum »Fiebermessen« vorbeigekommen sind, stetig zugenommen. Und ja, mir wird tatsächlich wärmer. Immer öfter höre ich auch im (noch) kalten Norden eure Stimmen von Klimawandel und CO2 berichten – oh, und Methan nicht zu vergessen. In den letzten Jahrzehnten hat mein Temperaturanstieg von bis zu 2 °C auch zu einem Anstieg eures Interesses an mir geführt.
2 °C klingen für dich vielleicht zunächst nicht viel, doch zum Vergleich: Die normale Durchschnittstemperatur, bei der ein Mensch gut funktioniert, liegt bei ca. 36,5 °C bis 37,4 °C. Wenn sich deine Temperatur um 2 °C erhöht, hast du Fieber und funktionierst ganz und gar nicht mehr normal. Selbst scheinbar wenige Grad Temperaturunterschied können weitreichende Folgen haben. Und bei mir lässt sich die erhöhte Temperatur leider nicht so einfach herunterregeln. Fiebersenkende Mittel oder Wadenwickel sind für den Boden nicht vorhanden. Wenn ihr daher verhindern möchtet, dass ich im hohen Norden fiebrig werde und meine ganze gespeicherte Organik an die Atmosphäre abgebe, hilft nur die Vorbeugung. Oder besser gesagt, die Eindämmung, denn das dauerhafte Auftauen meiner frostigen Familienmitglieder hat längst begonnen. Um die Permafrostböden zu besuchen, musst du heutzutage deutlich weiter nach Norden wandern als noch vor ein paar Jahrzehnten.
Mir persönlich macht ein Temperaturanstieg gar nicht so viel aus, im Laufe der Jahrtausende bin ich, wenn auch sehr langsam, durch viele Veränderungen gegangen. Doch mein Wandel ist direkt an Veränderungen für euer menschliches Leben geknüpft. Ihr habt euch bisher darauf verlassen, dass ich in den Permafrostregionen zuverlässig gefroren und somit ausgesprochen stabil bin. Ihr habt Straßen, Häuser und viele Leitungen auf dem vereisten Untergrund gebaut. Doch diese Stabilität braucht durchgehend tiefe Temperaturen. So wie ihr nur auf einem See Schlittschuh laufen könnt, wenn die Eisdecke dick genug ist, stehen eure Bauwerke auf mir nur so lange stabil, wie der Boden fest gefroren ist. Mit dem Tauen weiche ich auf, und Druck von oben bringt mich aus der Form. Von meiner ehemals stabilen Struktur bleibt dann im Extremfall nur noch ein matschiger Brei. Gewisse Verformungen kann ich als Boden ganz gut mitmachen. Eure Häuser, Straßen oder Öl-Pipelines sind jedoch nicht so flexibel, brechen ein und tragen teils große Schäden davon. In einigen Regionen Sibiriens sind zum Beispiel bereits große Fundamentteile in mir versunken. Viele Häuser stehen auch in Kanada oder Alaska schief, sodass ihr mich und diese Gegenden verlassen habt.
Spätestens wenn die Oberfläche der Straßen beginnt, große Wellen zu schlagen, steht fest, dass ich anfange aufzutauen. Mein Eis-Speicher wird flüssig und damit gerät alles ins Wanken. Und sobald dann noch das Gelände ein wenig geneigt ist, komme ich richtig in Schwung. Wie auf einer eisigen Rutsche fließen meine oberen Bodenhorizonte dann talabwärts und reißen manchmal schonungslos alles mit, was ihnen im Weg steht.
Nach solch einem eisigen Abgang freut sich vielleicht manch Mitglied eurer Forschungsgruppen über ein aufgetautes Mammut, das jahrtausendelang in meiner Kühltruhe aufbewahrt wurde und nun einen Blick in die Vergangenheit bietet. Doch in dieser Kühltruhe ist noch so manches mehr verborgen, dass eure Welt eventuell nicht im aufgetauten Zustand bereichern sollte. Ein prähistorisches Mammut-Bakterium ist für eure Wissenschaftler vielleicht ein spannender Fund, doch kein zeitgemäßer Geselle mehr für eure heutige Nachbarschaft.
Literatur
- Homepage ESKP; herausgegeben vom Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ: Löcher in der Arktis – die Suche nach dem Ursprung; https://www.eskp.de/klimawandel/loecher-in-der-arktis-die-suche-nach-dem-ursprung-935586/ (abgerufen am 27.03.2022)
- Obu, J. (2021). How much of the Earth's surface is underlain by permafrost?; Journal of Geophysical Research: Earth Surface, 126, e2021JF006123. https://doi.org/10.1029/2021JF006123
- Palmtag, J. (2017): Landscape partitioning and burial processes of soil organic carbon in contrasting areas of continuous permafrost; Dissertation from the Department of Physical Geography Stockholm University, Stockholm
- Mehr zum Thema Permafrost auf der Homepage des Alfred-Wegener-Instituts: https://www.awi.de/im-fokus/permafrost.html (abgerufen am 27.03.2022)
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