Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen: Sucht und Suchtdrogen biogenen Ursprungs
Sucht und Suchtdrogen biogenen Ursprungs
Matthias F. Melzig
Einführung
Drogensucht (engl.: drug addiction = Drogenabhängigkeit) ist ein gravierendes Problem aller Industriegesellschaften bzw. ein Zivilisationsphänomen. Sucht wird definiert als ein Zustand periodischer oder chronischer Vergiftung, der durch die wiederholte Aufnahme einer Droge hervorgerufen wird. Kennzeichen der Sucht sind:
· zwanghaftes Verlangen (Craving), die Einnahme der Droge fortzusetzen unter Einsatz aller Mittel (Kriminalität, Prostitution, Selbstaufgabe);
· die Tendenz, die Dosis zu steigern, um einen Zustand der Euphorie (höchste Glückseeligkeit) zu erzielen;
· das Auftreten von Entzugserscheinungen nach dem Absetzen der Droge, die erst nach erneuter Drogenaufnahme wieder verschwinden.
Die Schwere der Entzugserscheinungen hängt von der Art der Droge ab und ist wahrscheinlich die treibende Kraft für die Auslösung der Sucht, d.h. die Angst vor den Entzugserscheinungen läßt den Abhängigen immer wieder zur Droge greifen.
Die neurobiologischen Grundlagen zum Verständnis des Phänomens Sucht sind noch unzureichend erforscht, allerdings geht man heute davon aus, daß eine Substanz suchtauslösend wirken kann, wenn sie Mechanismen im Zentralnervensystem aktiviert, die ein Verhalten mit Belohnungsgefühlen verknüpfen und es damit positiv verstärken. Daran beteiligte Hirnstrukturen benutzen Dopamin, Serotonin, Opioide, GABA und L-Glutamin als Transmitter. Alle Stoffe, die mit diesen Transmittern wechselwirken, sind potentielle Suchtmittel.
Suchtdrogen biogenen Ursprungs sind neben Alkohol und Nicotin (Nicotiana tabacum) vor allem Opium (Papaver somniferum), Cannabisdrogen (Cannabis sativa), Cocain (Erythroxylum coca) sowie das partialsynthetische Lysergsäurediethylamid (LSD).
Während LSD eine Substanzentwicklung des 20. Jahrhunderts ist, begleiten die anderen Suchtdrogen die menschliche Zivilisation bereits seit Jahrtausenden. Alkohol (Ethanol) und Nicotin sind die beiden Volksdrogen, deren Gebrauch gesellschaftlich akzeptiert ist und im Gegensatz zu den anderen Suchtdrogen keine Strafverfolgung nach sich zieht. Dennoch sterben weltweit an den Folgen des Mißbrauchs dieser beiden Drogen wesentlich mehr Menschen pro Jahr als am Mißbrauch aller anderen Suchtdrogen zusammen.
Nicotin
Nicotin vgl. Formel wirkt als positiver Verhaltensverstärker im Gehirn, besonders in der Anfangsphase des Rauchens. Es stimuliert spezifische nicotinische Acetylcholinrezeptoren in der Großhirnrinde und steigert dadurch die psychomotorische Aktivität, das Denkvermögen, die Aufmerksamkeit und die Merkfähigkeit. In höherer Dosierung führt es zu Tremor, in toxischen Dosen zu Krämpfen. Wie bei allen Stimulanzien tritt später eine depressive Phase ein. Toleranz entwickelt sich schnell, Entzugssymptome treten bei allen Rauchern auf. Deren schwierige Überwindung ist die Hauptursache dafür, daß weiter geraucht wird. Gesundheitlich bedenklich sind insbesondere die peripheren Nebenwirkungen des Rauchens, wie Gefäßverengungen und Durchblutungsstörungen, die zu Angina pectoris oder einem Herzinfarkt führen können.
Alkohol
Obwohl Alkohol ein wirksamer Verhaltensverstärker ist, paßt er nicht in dieses Schema. Das ist darauf zurückzuführen, daß Alkohol selbst nicht mit Rezeptoren auf neuronaler Ebene wechselwirkt. Die psychopharmakologischen Ursachen der Suchtinduktion durch Alkohol sind noch nicht vollständig erforscht. Neben der Beeinflussung von GABAA-Rezeptoren, der Biogenese von Opioidpeptiden und deren Rezeptoren könnten Folgeprodukte des Alkoholmetabolismus hier eine Rolle spielen. Nach Biotransformation entstehen aus dem Alkohol zusammen mit Dopamin und Serotonin endogene Alkaloide (Tetrahydroisochinoline und β-Carboline), die als Verhaltensverstärker wirken und Abhängigkeit vermitteln könnten.
Opium
Die Gewinnung von Opium aus Mohn war in der Antike weit verbreitet, Opium selbst wurde bereits um 2500 v.Chr. als Heilmittel benutzt. Im alten Ägypten wurde das aus Griechenland stammende Opium sowohl zu medizinischen als auch hedonistischen Zwecken eingenommen. Besonders gebräuchlich war Opium bei Kulthandlungen in Tempeln (Orakel), aber auch als berauschendes Mittel bei Orgien, Gelagen und verschiedenen mystischen Ritualen. Der berühmte Wein der Kleopatra enthielt u.a. auch Opium. Diese Droge war im gesamten Vorderen Orient die wichtigste Rauschdroge und wurde schon früh von den Arabern nach Indien und China gebracht. Auch das berühmteste und wichtigste Heilmittel des Mittelalters, der Theriak, enthielt größere Mengen Opium und wurde verbreitet als Suchtmittel mißbraucht.
Wirksamster Bestandteil des Opiums ist das Isochinolinalkaloid Morphin vgl. Formel, das durch Wechselwirkung mit dem μ-Opiatrezeptor sowohl analgetische als auch rauschartige Effekte, verbunden mit einem ausgeprägten Gefühl der Zufriedenheit, des Wohlbefindens und der Sorglosigkeit, auslöst. Die durch Morphin induzierte Analgesie und Sedierung sind noch heute therapeutisch genutzte Wirkungen, insbesondere bei Tumorschmerzen und anderen Erkrankungen, die mit starken Schmerzen einhergehen. Auch die Daueranwendung von Morphin löst bei Patienten mit starken körperlichen Schmerzen keine Sucht aus. Hauptanwendungsweg für Morphin ist die intravenöse Injektion, aber auch eine orale Aufnahme führt zur Auslösung psychischer Effekte. Die übliche Dosis beträgt etwa 30 mg oral, Morphinabhängige steigern diese Dosis bis zu 1 g pro Tag. Nebenwirkungen sind insbesondere eine Pupillenverengung, Obstipation und Dämpfung des Atemzentrums, das bei Überdosierung ("Goldener Schuß") gelähmt wird und damit zum Tod des Konsumenten führt. Die Entzugserscheinungen treten rasch auf, und sind u.a. durch Unruhe, extreme Angst, Krämpfe, Schmerzen und Erbrechen gekennzeichnet, stellen aber keinen lebensbedrohenden Zustand dar, auch wenn der Abhängige ihn so empfindet und damit einer großen Suizidneigung unterliegt. Zu den gefährlichsten und stärksten Suchtdrogen zählt das Acetylmorphin (Heroin) vgl. Formel, das partialalsynthetisch aus Morphin hergestellt werden kann und als illegale Rauschdroge von hoher krimineller Bedeutung ist. Therapeutisch findet Heroin keine Verwendung, sein Besitz und der Verkehr mit dieser Substanz ist gesetzlich verboten.
Cannabisprodukte
Die Geschichte des Hanfes als Quelle für Cannabisprodukte läßt sich weit zurückverfolgen, der chinesische Kaiser Shen-Nung berichtet erstmals 2737 v.Chr. in seiner Pharmakopöe über Cannabis sativa. Cannabisprodukte stellen für den westlichen Kulturkreis eine relativ neue Suchtdroge dar. Zwar wußten die Griechen und Römer um die psychotropen Wirkungen des Hanfs, und auch im Mittelalter wurde Cannabis gelegentlich in Hexenmitteln verwendet, größere Verbreitung als Suchtdroge fand der Hanf aber erst im 19. Jahrhundert, als Schriftsteller wie Rimbaud oder Baudelaire ihn für sich entdeckten und darüber in den Pariser Salons berichteten. Der wichtigste psychotrope Inhaltsstoff des Hanfs ist das Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) vgl. Formel. Cannabisprodukte sind Haschisch und Charas, das getrocknete harzige Sekret der weiblichen Blüten, mit einem THC-Gehalt von bis zu 14 % die stärkste Drogenvariante. Ganja und Sinsemilla sind die getrockneten Blattspitzen der weiblichen Pflanze (4-5 % THC), Bhang und Marihuana ("Gras") stellen die getrockneten Blätter und Blüten des Hanfs dar (1 bis 2 % THC). THC übt seine pharmakologischen Wirkungen nach Bindung an einen spezifischen Cannabinoid-Rezeptor im Gehirn aus, der als körpereigenen Liganden das Lipid Anandamid besitzt. Die verhaltensbeeinflussenden Effekte des THC auf den Menschen sind unterschiedlich und hängen stark von der Dosis, dem Aufnahmeweg (oral oder geraucht), den äußeren Gegebenheiten, der Erfahrung und Erwartung des Konsumenten sowie von seiner individuellen Konstitution ab. Alle Sinneseindrücke und Empfindungen können verstärkt werden, zumeist verändert sich das Zeitgefühl. Zunächst wird ein gesteigertes Wohlbefinden, leichte Euphorie, Entspannung und eine Befreiung von Ängsten erlebt, dem eine Phase der Trägheit oder Sedierung folgt. Erst bei exzessiver Dosissteigerung werden Wahrnehmungsverschiebungen und Halluzinationen induziert, die bis zur Paranoia führen können. Entzugserscheinungen sind weniger stark ausgeprägt; Toleranz wird beobachtet, physische Abhängigkeit jedoch kaum. Als Rauschmittel wirken Cannabisprodukte etwas milder als Alkohol.
Cocain
Cocain, das in den Blättern des in Peru und Bolivien beheimateten Cocastrauches Erytroxylum coca vorkommende Tropanalkaloid, ist eine Suchtdroge, die jahrhundertelang von den südamerikanischen indianischen Hochkulturen für therapeutische und kultische Zwecke verwendet wurde. Erstmals 1859 als Reinstoff isoliert, empfahl 1884 Siegmund Freud die Anwendung von Cocain zur Behandlung von Depressionen und chronischer Müdigkeit. vgl. Formel Nachdem 1885 Cocain zusammen mit Coffein in einem als Allheilmittel vertriebenen Getränks namens Coca-Cola verwendet wurde, kam es in der Folge zu vielen Vergiftungen durch Cocain, und es gab zahlreiche Berichte über seine suchtinduzierende Wirkung. Seit 1914 ist die Verwendung von Cocain in Getränken und rezeptfreien Arzneimitteln in den USA verboten; eine Regelung, der sich die meisten anderen Staaten nach 1924 anschlossen. Cocain begann in den 70er Jahren in den USA und Westeuropa als Modedroge Bedeutung zu gewinnen, die oral aufgenommen, geschnupft oder geraucht werden kann. Die psychotrope Wirkung beruht u.a. auf einer Hemmung der Wiederaufnahme des Neurotransmitters Dopamin in seine synaptischen Speichervesikel. Damit wirkt es als extrem positiver Verhaltensverstärker mit großer suchtinduzierender Potenz. Geringe Cocaindosen rufen eine angenehme oder euphorisierende Stimulierung des ZNS hervor, höhere Dosierungen verursachen Angst, Schlafmangel, Wahnvorstellungen und Verfolgungsangst. Die Realitätswahrnehmung kann stark verändert sein, und infolge des Verfolgungswahns kann sich eine Aggressionsneigung bzw. paranoide Psychose entwickeln. Der chronische Cocainmißbrauch führt zumeist zu Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenie-ähnlichen Zuständen. Die Entzugssymptome entwickeln sich schnell und heftig, das Craving ist stark ausgeprägt und macht Cocain zu einer der gefährlichsten Suchtdrogen.
LSD und andere Lysergsäurederivate
1938 wurde von dem Schweizer Chemiker Albert Hofmann erstmals LSD synthetisiert, allerdings nicht mit dem Ziel, eine Suchtdroge zu entwickeln. Ausgangspunkt für die Synthese des LSD waren Mutterkornalkaloide (Claviceps purpurea) mit Lysergsäuregrundgerüst. Durch eine Zufallsbeobachtung im Jahre 1943 stellte Hofmann die psychotropen Effekte dieser Verbindung im Selbstversuch fest. LSD induziert in extrem geringer Dosierung (10-30 µg) bereits nach wenigen Minuten heftige psychotrope Effekte. Dazu zählen in zeitlicher Reihenfolge und aufsteigender Dosierung eine Stimulation des Sympathikus (somatische Phase), gefolgt von Wahrnehmungsverzerrungen und Pseudohalluzinationen (sensorische Phase), die schließlich in echten Halluzinationen mit Depersonalisierung, Störung der Denkprozesse, Verlust des Zeitgefühls und psychotischen Episoden übergehen. Diese Phase wird als "Horrortrip" (psychische Phase) bezeichnet. Hinsichtlich der psychischen und physiologischen LSD-Effekte entwickelt sich rasch ein Gewöhnungseffekt, jedoch gehen nach dem Absetzen der Droge die Toleranzeffekte innerhalb weniger Tage zurück. Körperliche Abhängigkeit vom LSD entsteht auch nach langer Drogeneinnahme nicht, in der Regel setzen LSD-Konsumenten die Droge von selbst wieder ab, da die Angst vor dem "Horrortrip" oder geistigen bzw. körperlichen Schäden überwiegt. Entzugserscheinungen treten nicht auf. Ähnliche Effekte werden auch durch Ololiuqui bzw. die Samen von Turbina corymbosa und Ipomoea violacea ausgelöst, in denen LSD-verwandte, natürliche Lysergsäurederivate, wie Lysergsäureamid und Isolysergsäureamid enthalten sind. Diese Drogen werden von den mittelamerikanischen Indianern schon seit dem Altertum für kultische Zwecke eingesetzt. vgl. Formel 1 und Formel 2
Sucht und Gesellschaft
Die Möglichkeiten, das Ausmaß des Gebrauchs von Suchtdrogen in der gegenwärtigen Gesellschaft zu verringern, sind begrenzt. Mit Hilfe strafrechtlicher Regelungen versucht man seit Jahrzehnten, die Verfügbarkeit dieser Drogen einzuschränken und potentielle Konsumenten abzuschrecken. Die Angst vor Strafverfolgung kann nur bei einem bestimmten Personenkreis vom Drogengebrauch abschrecken. Konsumenten mit regelmäßigem Drogengebrauch sind allerdings als krank einzustufen und können ohne medizinisch überwachte Therapie ihre Sucht nicht überwinden. Auch unter diesen Umständen liegt die Rückfallquote bei etwa 70 %. Wie historische Forschungen gezeigt haben, ist der Mißbrauch von Suchtdrogen zwar quantitativ ein Problem der Industriegesellschaften nicht aber qualitativ, denn seit dem Entstehen menschlicher Kulturen läßt sich der Gebrauch und Mißbrauch von suchtinduzierenden Drogen nachweisen.
Literatur
Julien, Robert M.: Drogen und Psychopharmaka. Aus dem Engl. übers. von Therese Apweiler und Stefan Hartung.- Heidelberg; Berlin; Oxford: Spektrum Akad. Verl., 1997.
Cohen, S.: The Chemical Brain: The Neurochemistry of Addictive Disorders. Irvine (Ca.), Care Institute, 1988.
Goldstein, A.: Addiction: From Biology to Drug Policy. W.H. Freeman and Company, New York, 1994.
Rätsch, C.: Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen. AT-Verlag, Aarau, Schweiz; 2. Auflage, 1998.
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