Genetik: Die RNA-Revolution
Thomas Gingeras hatte keine Revolte im Sinn. Gemeinsam mit einigen hundert weiteren Kolleginnen und Kollegen versuchte der Genetiker im Jahr 2012 lediglich, einen Überblick über die Funktionen der menschlichen DNA zu gewinnen. Das geschah im Rahmen des wissenschaftlichen Projekts ENCODE, wobei die Abkürzung für »Encyclopedia of DNA Elements« steht (deutsch: Enzyklopädie aller DNA-Elemente). Rund ein Jahrzehnt zuvor waren fast alle jener drei Milliarden DNA-Bausteine identifiziert worden, aus denen das menschliche Genom besteht. Gingeras, der heute am Cold Spring Harbor Laboratory im US-amerikanischen Bundesstaat New York forscht, und die anderen am ENCODE-Projekt beteiligten Wissenschaftler wollten herausfinden, was all dieses Erbmaterial im menschlichen Organismus bewirkt.
Zu jener Zeit gingen die meisten Fachleute davon aus, dass der Großteil unseres Erbguts keinen Zweck erfüllt. Die ersten Genomkartierungen hatten ergeben, dass ungefähr ein bis zwei Prozent unserer DNA aus Genen im klassischen Sinn bestehen – also aus Erbanlagen, die für Proteine codieren. Proteine sind die Biomaschinen des menschlichen Körpers, die seine Funktionen aufrechterhalten: Sie transportieren Sauerstoff durch den Organismus, versetzen Muskeln in Bewegung, lassen Nerven auf Reize reagieren und erledigen generell einen Großteil dessen, was uns am Leben hält. Die Hauptaufgabe des Genoms – so die damalige Annahme – bestehe darin, die Herstellung von Proteinen zu ermöglichen. Das geschieht üblicherweise, indem Bauanleitungen für Eiweiße, die in der DNA-Sequenz verschlüsselt sind, in Arbeitskopien namens Boten-RNAs (mRNAs) umgeschrieben werden, welche die Anweisungen an die zellulären Proteinfabriken übermitteln.
Welchem Zweck dient dann der weit überwiegende Rest der DNA, der keine Gene im klassischen Sinn enthält? Die »proteincodierenden Regionen unserer DNA«, erinnert sich Gingeras, »waren aus damaliger Sicht von einem Ozean aus biologisch funktionslosen Sequenzabschnitten umgeben«. Mit anderen Worten: Das menschliche Erbgut schien größtenteils aus »Junk-DNA« zu bestehen – das heißt aus Bereichen, die anscheinend nichts weiter waren als Müll.
Für viele Fachleute war es daher ein regelrechter Schock, als das ENCODE-Team 2012 in mehreren Fachartikeln darlegte, dass mindestens 75 Prozent unseres Genoms in RNA-Moleküle umgeschrieben (»transkribiert«) werden. Die Fachleute hatten Messtechniken eingesetzt, mit denen sie das Ausmaß der Transkription in jedem Abschnitt des DNA-Strangs ermitteln konnten. Bereits im Jahr 2007 lagen erste Ergebnisse vor, aber erst 2012 wurde deutlich, wie umfassend Zellen ihr Erbgut in RNA umschreiben. Warum tun sie das mit drei Vierteln der DNA-Sequenz, wenn nur ein bis zwei Prozent davon für Proteine codieren? Fachleute wussten schon damals, dass einige der dabei entstehenden RNA-Moleküle wichtige Aufgaben wie das Ein- und Ausschalten von Genen erfüllen. Doch im Großen und Ganzen war unklar, wozu die riesige Menge an vermeintlich nutzlosen RNA-Abschriften dient.
Erkenntnis und Akzeptanz
Einige Biologen reagierten auf die Arbeiten des ENCODE-Teams mit Skepsis, die bisweilen an Entrüstung grenzte. Den Autorinnen und Autoren wurde vorgeworfen, ihre Ergebnisse übertrieben darzustellen. Manche Kritiker argumentierten, ein Großteil der RNA-Abschriften in der Zelle entstehe quasi versehentlich. Ihre Hypothese: Das Enzym RNA-Polymerase – jener Proteinkomplex, der DNA- in RNA-Sequenzen umschreibt – gehe ziemlich wahllos vor, während es sich am DNA-Strang entlangbewege.
Mittlerweile sieht es allerdings so aus, als hätte das ENCODE-Team im Wesentlichen Recht gehabt. Dutzende weitere Forschungsgruppen haben inzwischen bestätigt, dass ein Großteil unserer DNA in RNA umgeschrieben wird, die nicht für Proteine codiert. Viele dieser RNA-Schnipsel interagieren mit anderen Molekülen, was diverse biochemische Funktionen ermöglicht.
Bis 2020 hatte das ENCODE-Projekt nach eigenen Angaben rund 37 600 nicht codierende Gene identifiziert – also DNA-Abschnitte, die als Vorlage für RNA-Moleküle dienen, aber keine Bauanleitungen für Eiweiße enthalten. Das sind fast doppelt so viele, wie es proteincodierende Gene gibt. Andere Forschungsarbeiten kommen auf sehr unterschiedliche Zahlen zwischen 18 000 und fast 96 000 nicht codierenden Genen. Zwar gibt es immer noch Wissenschaftler, die skeptisch bleiben; viele aber sehen in den neuen Erkenntnissen einen Paradigmenwechsel. Etwa die Biologinnen Jeanne Lawrence und Lisa Hall von der University of Massachusetts Chan Medical School (USA). In einem Kommentar für das Fachjournal »Science« aus dem Jahr 2024 schrieb das Duo von einer »RNA-Revolution«.
Verblüffend komplexe RNA-Welt
Was diese Entdeckungen wirklich revolutionär macht, ist das unglaublich große Funktionsspektrum nicht codierender RNA-Moleküle, abgekürzt ncRNA (vom englischen »non-coding«). Offenbar beteiligt sich die Mehrheit solcher Moleküle an der Genregulation. Und zwar nicht nur, indem sie Gene an- oder abschalten, sondern auch, indem sie deren Aktivitäten fein justieren. Die klassischen Gene enthalten zwar die Baupläne der Proteine, doch die ncRNA bestimmt letztlich, inwieweit die jeweiligen Eiweiße tatsächlich hergestellt werden. Das ist weit entfernt von der herkömmlichen molekularbiologischen Sichtweise, die seit Entdeckung der DNA-Doppelhelixstruktur vor etwa 70 Jahren dominiert und mehr oder weniger ausschließlich die proteincodierenden Sequenzen des Erbguts betrachtet. »Anscheinend haben wir die Natur der genetischen Programmierung grundsätzlich missverstanden«, schrieben die Molekularbiologen Kevin Morris von der Queensland University of Technology und John Mattick von der University of New South Wales (beide Australien) in einem »Nature«-Artikel aus dem Jahr 2014.
»Anscheinend haben wir die Natur der genetischen Programmierung grundlegend missverstanden«John Mattick und Kevin Morris, Molekularbiologen
Eine weitere wichtige Erkenntnis war, dass manche ncRNAs bei Krankheitsprozessen eine bedeutende Rolle spielen. Sie regulieren zum Beispiel zelluläre Prozesse, die an der Krebsentstehung mitwirken. Das macht es möglich, Medikamente zu entwickeln, die auf solche nicht codierenden Moleküle abzielen. Vielleicht lassen sich ncRNAs sogar selbst als Arzneistoffe verwenden. Codiert ein Gen etwa für ein Protein, welches das Tumorwachstum fördert, dann könnte eine ncRNA, die das Gen abschaltet, gegen Krebs helfen.
Einige ncRNAs kennen Fachleute seit Jahrzehnten. Außerdem weiß man schon lange, dass diese Moleküle an der Proteinproduktion mitwirken. So entdeckten Forscherinnen und Forscher bereits kurz nach Aufklärung der DNA-Doppelhelixstruktur: Eine bestimmte RNA-Sorte, die so genannte Transfer-RNA (tRNA), koppelt an Aminosäuren, die daraufhin in den zellulären Proteinfabriken zu Eiweißen verkettet werden.
Molekulare Umwicklung mit Folgen
In den 1990er Jahren stellte sich heraus, dass ncRNAs auch Aufgaben übernehmen, die nichts mit dem Aufbau von Proteinen zu tun haben. Das kam ans Licht, als man versuchte, die so genannte X-Inaktivierung zu verstehen. Hierbei wird eines der beiden X-Chromosomen stummgeschaltet, die typischerweise zu dem Chromosomensatz einer Frau gehören. Etwa 1000 Gene werden bei diesem Vorgang inaktiviert, der routinemäßig in weiblichen Säugerzellen abläuft, damit nicht zu viele der entsprechenden Genprodukte entstehen. Die zentrale Steuerung erfolgt offenbar durch ein Gen namens XIST. Fachleute bemühten sich intensiv darum, das zugehörige XIST-Protein zu finden, hatten aber keinen Erfolg.
Wie sich später herausstellte, konnten sie das Protein gar nicht finden, weil es nicht existiert. XIST übt seine Funktion nicht mittels eines Proteinprodukts aus, sondern mit Hilfe einer langen nicht codierenden RNA (lncRNA, abgekürzt von »long non-coding RNA«). lncRNAs bestehen meist aus mehr als 200 Nukleotiden, den Grundbausteinen von DNA- und RNA-Molekülen. Mit einer speziellen Mikroskopietechnik zeigten Jeanne Lawrence und ihr Team, dass sich die XIST-lncRNA in jeder Körperzelle um eines der beiden X-Chromosomen wickelt – um welches, hängt offenbar vom Zufall ab. Das führt zu einer dauerhaften Stummschaltung der Gene auf diesem Chromosom. »Dies war der erste Nachweis einer lncRNA, die eine klare zelluläre Funktion ausübt«, sagt Lawrence.
Dabei blieb es nicht. Bereits Anfang der 2000er Jahre stand fest, dass sehr viele DNA-Sequenzen nicht für Proteine codieren und trotzdem in RNA umgeschrieben (»transkribiert«) werden. Ein Team des Biotech-Unternehmens Affymetrix in Santa Clara (Kalifornien) etwa berichtete im Jahr 2002, auf den menschlichen Chromosomen 21 und 22 würden wesentlich mehr Abschnitte transkribiert als nur jene, die Baupläne für Eiweiße enthalten.
Nachdem das ENCODE-Team 2012 seine Forschungsergebnisse veröffentlicht hatte, war es unmöglich geworden, die biologische Bedeutung der ncRNA zu ignorieren. Trotzdem hielt bei manchen Wissenschaftlern die Skepsis an. Ein Grund dafür sei gewesen, dass nicht codierende RNA wie eine »unerwünschte und unnötige Komplikation« im Theoriengebäude wirkte, erläutert Peter Stadler, Bioinformatiker an der Universität Leipzig. »Die biologische Community ging davon aus, dass bereits im Wesentlichen geklärt sei, wie eine Zelle funktioniert«, sagt er. »Da erschien die Entdeckung der ncRNAs wie ein Störfaktor.« Zudem zeigte sich, dass die vergleichsweise einfachen Lebewesen, an denen die Genregulation lange Zeit erforscht worden war, nur begrenzt als Modellorganismen taugen. Denn Bakterien enthalten weitaus weniger ncRNA als menschliche Zellen. Erkenntnisse, die an ihnen gewonnen werden, lassen sich daher nicht ohne Weiteres verallgemeinern.
»Die biologische Community ging davon aus, dass bereits im Wesentlichen geklärt sei, wie eine Zelle funktioniert«Peter Stadler, Bioinformatiker
Mittlerweile haben Fachleute mehrere tausend Arten menschlicher lncRNA nachgewiesen. John Mattick vermutet, dass deren Gesamtzahl bei mehr als einer halben Million liegt. Jedoch hat man nur für wenige davon eine konkrete zelluläre Funktion gefunden, und ob überhaupt alle eine solche Funktion haben, ist unklar. »Ich persönlich glaube nicht, dass jede dieser RNAs eine spezifische Aufgabe erfüllt«, sagt Lawrence. Einige könnten etwa in Gruppen agieren, um Einfluss auf das zelluläre Geschehen zu nehmen.
Rätselhafte Wirkungsweise
Noch ist umstritten, wie lncRNAs ihre regulierende Wirkung entfalten. Womöglich tragen sie dazu bei, so genannte Kondensate zu bilden. Das sind dichte, flüssige Klumpen, die ein breites Spektrum an regulatorischen Molekülen enthalten. Jene Tropfen könnten die beteiligten molekularen Akteure lange genug zusammenzuhalten, damit diese ihre Arbeit gemeinsam erledigen können. Vielleicht beeinflussen lncRNAs auch die Struktur des Chromatins – jenes Komplexes aus DNA und Proteinen, aus dem die Chromosomen im Zellkern bestehen. Die Chromatinstruktur bestimmt darüber, welche DNA-Abschnitte überhaupt für ein Umschreiben in RNA zugänglich sind: Ist sie zu dicht gepackt, kommt der Transkriptionsapparat nicht mehr an den DNA-Strang heran. »Einige lncRNAs wirken anscheinend daran mit, die Packungsdichte des Chromatins zu regulieren«, erklärt Marcel Dinger, Genomforscher an der University of Sydney in Australien.
Lawrence und Hall spekulieren zudem, lncRNAs könnten Gerüste bilden, mit deren Hilfe sich andere Moleküle organisieren. Sie könnten zum Beispiel einige der vielen hundert RNA-bindenden Proteine zu funktionalen Verbänden zusammenbringen. Eine lncRNA namens NEAT1 etwa hilft, kleine Kompartimente (abgeschlossene Reaktionsräume) im Zellkern zu formen, so genannte Paraspeckles. NEAT1 bindet sich nachweislich an bis zu 60 der daran beteiligten Proteine. Vielleicht geben RNA-Gerüste sogar die Struktur des Chromatins vor und beeinflussen so die Genregulation. Ein solcher RNA-Komplex könnte regelmäßig wiederkehrende und somit repetitive Sequenzen aufweisen – eine Eigenschaft, die lange als Merkmal von »Junk-DNA« galt, aber vielleicht gar nicht so nutzlos ist wie zunächst gedacht.
Die Sichtweise, lncRNA könnte als molekulare Stütze wirken, hat weiteren Auftrieb erfahren durch eine Fachpublikation aus dem Jahr 2024. Darin berichtet ein Forschungsteam um Sara Zocher vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Dresden über ncRNAs in Gehirnzellen von Mäusen. Diese enthalten zahlreiche repetitive Sequenzen und erwiesen sich in der Studie über mindestens zwei Jahre hinweg als chemisch stabil. Laut den empirischen Daten scheinen sie nötig zu sein, um Teile des Chromatins in einem kompakten und inaktiven Zustand zu halten.
Absurde Kürze
Nicht codierende RNAs stellen eine ganze Molekülfamilie dar, von der lncRNAs nur einen Teil ausmachen. Biologinnen und Biologen entdecken immer neue Varianten, die offenbar sehr verschiedene Funktionen innehaben und den Organismus auf unterschiedliche Weise beeinflussen. Einige davon sind überraschend kurz. Ihre Entdeckungsgeschichte begann in den 1980er Jahren, als der damalige Postdoc und heutige Nobelpreisträger Victor Ambros am Massachusetts Institute of Technology (USA) mit Fadenwürmern experimentierte. Er untersuchte die Funktion des Gens lin-4, das im Erbgut der Tiere enthalten ist. Mutationen von lin-4 führen zu Entwicklungsstörungen, bei denen »die Körperzellen komplette Entwicklungsprogramme wiederholen, die sie eigentlich bereits abgeschlossen haben sollten«, schildert Ambros, der heute an der University of Massachusetts Medical School tätig ist. Es schien, als sei das Gen so etwas wie ein Hauptregulator, der den zeitlichen Ablauf verschiedener Wachstumsprozesse steuert.
»Zunächst nahmen wir an, lin-4 sei ein proteincodierendes Gen«, erinnert sich Ambros. Um herauszufinden, welche Rolle sein vermeintliches Proteinprodukt spielt, nahmen Ambros und seine Kollegen die RNA-Abschrift des Gens genauer unter die Lupe und stellten fest, dass wahrscheinlich sie selbst die Wirkung ausübt – und nicht etwa ein Eiweiß, für das sie die Bauanleitung liefert. Das RNA-Molekül war absurd kurz: nur 22 Nukleotide lang, was winzig erschien angesichts seiner erheblichen Wirkung auf die Entwicklung des Organismus.
Das RNA-Molekül war absurd kurz: nur 22 Nukleotide lang, was winzig erschien angesichts seiner erheblichen Wirkung
Das Molekül, das Ambros & Co. entdeckt hatten, war die erste bekannte microRNA, kurz miRNA. »Anfangs dachten wir, sie sei ein besonderes Merkmal des Fadenwurms Caenorhabditis elegans, mit dem wir experimentiert hatten«, sagt Ambros. Im Jahr 2000 jedoch stellte ein Team um Gary Ruvkun, einen Kollegen von Ambros und heute ebenfalls Nobelpreisträger, fest: Ein weiteres Gen im Erbgut von C. elegans, das für eine miRNA codiert und die Bezeichnung let-7 trägt, kommt in beinahe identischer Form noch bei vielen anderen Organismen vor – einschließlich Wirbeltieren, Weichtieren und Insekten. Es muss sich demnach um eine sehr alte Erbanlage handeln, die bereits existierte, bevor sich all diese verschiedenen Abstammungslinien voneinander trennten – also seit schätzungsweise 600 Millionen Jahren. Wenn die Klasse der miRNAs aber derart alt ist, so die damalige Überlegung, dann musste sie höchstwahrscheinlich noch weitere Vertreter haben.
Ein Organismus mit tausenden Steuereinheiten
Und in der Tat: Bis heute sind mehr als 2000 Sorten von miRNAs im menschlichen Organismus identifiziert worden. Die meisten haben regulatorische Funktionen. Sie üben ihre Wirkungen vor allem dadurch aus, dass sie die Translation (das Übersetzen der Nukleinsäuresequenz in ein Protein) von mRNAs stören. In der Regel gehen miRNAs aus größeren, etwa 70 Nukleotide langen Vorstufen hervor, den so genannten Prä-miRNAs. Diese Vorläufermoleküle werden von einem Enzym namens Dicer in kleinere Fragmente zerlegt, wobei die aktiven miRNAs entstehen (»to dice« bedeutet so viel wie »in Würfel schneiden«).
Die fertigen miRNAs treten anschließend in Wechselwirkung mit bestimmten Proteinen, den »Argonauten«, die zu größeren Molekülkomplexen (RNA-Induced Silencing Complex oder kurz RISC, deutsch: RNA-induzierter stummschaltender Komplex) gehören. Sie dirigieren den RISC zu einer mRNA, was entweder deren Translation verhindert oder dazu führt, dass sie abgebaut wird. Der Effekt ist in beiden Fällen der gleiche: eine Stummschaltung des zugehörigen Gens. Auf diese Weise steuern miRNAs diverse zelluläre Prozesse – von der Differenzierung in bestimmte Zelltypen über den Teilungszyklus bis hin zum Zelltod.
Die Molekularbiologen Andrew Fire und Craig Mello hatten bereits 1998 bei Studien am Fadenwurm C. eleganswichtige Erkenntnisse darüber gewonnen, wie solche kleinen RNA-Moleküle die Wirkung anderer RNAs regulieren können. Im Jahr 2006 erhielten sie dafür den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Die beiden hatten herausgefunden, dass RISC von RNA-Strängen, so genannten »small interfering RNAs«, kurz siRNAs, gesteuert werden, die sich in ihrer Sequenz leicht unterscheiden können. Das Ganze endet damit, dass eine mRNA in zwei Teile zerschnitten wird – ein Prozess, den Fachleute als RNA-Interferenz bezeichnen.
Mysteriöse Zielgenauigkeit
Noch liegt die Funktionsweise von miRNAs aber zum Teil im Dunkeln. Eine bestimmte miRNA hat üblicherweise eine Sequenz, die mit vielen verschiedenen Sorten von mRNAs übereinstimmt. Wie kann sie dann selektiv Gene zum Schweigen bringen? Denkbar erscheint, dass sich mehrere miRNAs zusammenschließen und dann als Gruppe spezifisch genug wirken, um gezielt einzelne Erbanlagen zu regulieren. In diesem Fall wären es Kombinationen von miRNAs, die für die jeweilige Selektivität sorgen.
Warum ist die Genregulation über miRNAs derart kompliziert? Victor Ambros vermutet, dass es eine »evolutionäre Fluidität« ermöglicht: Die zahlreichen Kombinationen, in denen miRNAs zusammenarbeiten können, und die große Menge ihrer potenziellen Ziele schaffe eine enorme Flexibilität, um Genaktivitäten zu regulieren. Das gebe einem Organismus sehr viele Optionen, sich an veränderte Bedingungen anzupassen.
Nach und nach treten immer mehr Varianten nicht codierender RNA zu Tage. Einige kleine Vertreter regulieren die Genexpression, indem sie direkt in die Transkription im Zellkern eingreifen und dadurch den Abbau von mRNA auslösen. Solche Varianten heißen PIWI-interagierende RNAs, kurz piRNAs. Sie arbeiten mit einer Gruppe von Proteinen, den PIWI-Argonauten, zusammen. piRNAs entfalten ihre Wirkung in Keimbahnzellen, wo sie »egoistische« DNA-Sequenzen bekämpfen, die als Transposonen oder springende Gene bezeichnet werden. Transposonen können sich selbst vervielfältigen und Kopien von sich entlang des gesamten DNA-Strangs einfügen, was die dortige Sequenz zerstört und oft schädlich wirkt. piRNAs gehörten somit zu einem »Immunsystems des Genoms«, wie es Julius Brennecke beschreibt, der am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien arbeitet. Werde das piRNA-System künstlich abgeschaltet, dann »werden die Genome der Keimbahnzellen vollständig geschreddert, was den betroffenen Organismus steril macht«, sagt Brennecke.
Nur ein Abfallprodukt?
Noch eine andere Sorte der ncRNAs, die so genannten kleinen kernständigen RNAs, arbeiten innerhalb von Kernkörperchen – das sind winzige kugelförmige Bereiche im Zellkern. Ihre Aufgabe ist es, die RNA in den Ribosomen – den Proteinfabriken der Zelle – zu modifizieren und dies auch mit Transfer-RNA- und mRNA-Molekülen zu tun. Als wäre das alles nicht genug, gibt es darüber hinaus zirkuläre RNA, besonders in Neuronen: mRNA-Moleküle, die eine Schlaufenform annehmen, bevor sie aus dem Zellkern ins Zytoplasma übertreten. Es ist nicht klar, inwieweit solche ringförmigen Moleküle eine echte Funktion ausüben – manche könnten lediglich ein Abfallprodukt der Transkription sein. Doch zumindest einige von ihnen scheinen regulatorisch zu wirken.
Die »vault-RNA« unterstützt den Transport anderer Moleküle innerhalb und zwischen Zellen. »Kleine Cajal-Körper-spezifische RNA« wiederum beeinflusst andere ncRNAs, die helfen, RNA-Moleküle zu verarbeiten. Und so weiter und so fort. Angesichts der kaum überschaubaren Vielfalt dieser Molekülklasse glaubt John Mattick, dass nicht die DNA »die Rechenmaschine der Zelle« sei, sondern die RNA.
Medizinische Anwendungen in Sicht
Etliche Fachleute gehen davon aus, dass in ncRNAs ein großes medizinisches Potenzial schlummert. Krankheiten resultieren oft aus Zellen, die sich infolge einer Fehlregulation nicht so verhalten, wie sie das im Gewebeverband eigentlich sollten. Zellen beispielsweise, die ihren Wachstums- und Teilungszyklus nicht mehr hinreichend kontrollieren können, bringen Tumoren hervor. Ein gegenwärtig viel versprechender Ansatz lautet, so genannte Antisense-Oligonukleotide (ASOs) gegen Erbkrankheiten einzusetzen – das sind kurze RNA-Stränge, mit denen sich die regulatorische Wirkung von ncRNAs gezielt beeinflussen lässt. Ihre Nukleotidsequenzen sind komplementär zu jenen der Ziel-RNA. Deshalb binden sie sich an diese und deaktivieren sie. ASOs kennt man bereits seit den späten 1970er Jahren, es war jedoch lange Zeit sehr schwierig, sie therapeutisch zu nutzen. Denn sie werden im Innern von Zellen rasch abgebaut und neigen außerdem dazu, an die falschen Zielstrukturen zu koppeln – mit unter Umständen fatalen Folgen.
Einige Forschungsgruppen arbeiten an ASOs, mit denen sich lncRNAs ausschalten lassen, die mit Krebserkrankungen wie dem Lungenkarzinom oder der akuten myeloischen Leukämie in Verbindung stehen. Andere lncRNAs könnten selbst als Arzneistoffe dienen. Eine Substanz aus dieser Gruppe zum Beispiel, welche die Bezeichnung MEG3 trägt, hemmt laut ersten Tests das Tumorwachstum. Manche Arbeitsgruppen entwickeln kleine synthetische Moleküle, die sich an lncRNAs binden oder deren Wechselwirkung mit Proteinen stören sollen. Sie lassen sich oft leichter optimieren als ASOs und unkomplizierter als Arzneimittel verabreichen. All diese Verfahren stehen freilich vor dem Problem, dass sie sich nur sehr schwer in medizinische Anwendungen überführen lassen. »Soweit mir bekannt, hat es noch kein lncRNA-Therapeutikum in die Phase der klinischen Entwicklung geschafft«, sagt Gingeras.
Kleinere regulatorische Moleküle wie miRNAs eignen sich womöglich gut als therapeutische Ziele. Typischerweise interagieren sie mit verschiedenen zellulären Strukturen und können deshalb viele Reaktionen auf einmal auslösen. So haben sich etwa Vertreter der Molekülklassen miR-15a und miR-16-1 als wirksame Tumorsuppressoren erwiesen, indem sie die Aktivitäten mehrerer Gene beeinflussen, die den programmierten Zelltod (eine Abwehrreaktion gegen Zellentartung) unterdrücken. Fachleute untersuchen jetzt, inwieweit sich das für Krebsbehandlungen nutzbar machen lässt.
Unerwünschte Abwehr
Kleine RNA-Wirkstoffe werfen allerdings das Problem auf, dass sie eine Immunreaktion auslösen. Weil das körpereigene Abwehrsystem unter anderem die Funktion hat, virales Erbgut zu bekämpfen, attackiert es normalerweise jede körperfremde RNA. Um therapeutische RNA vor Immunangriffen zu schützen, kann man ihre molekulare Struktur so verändern, dass sie von den Akteuren des Immunsystems nicht erkannt wird. Das gelingt zum Beispiel, indem man den Nukleinsäuren eine unnatürliche Ringstruktur verleiht.
Kleine RNA-Wirkstoffe werfen das Problem auf, dass sie eine Immunreaktion auslösen
Einige kurze ASOs, die auf körpereigene RNAs abzielen, sind bereits zur Behandlung zugelassen. Dazu gehören die Arzneistoffe Inotersen gegen das Krankheitsbild der Amyloidose sowie Golodirsen zur Behandlung der Muskeldystrophie Typ Duchenne. Ein wichtiger Forschungsschwerpunkt sind therapeutische Antisense-RNAs, die körpereigene regulatorische miRNAs beeinflussen und weniger als 21 Nukleotide lang sind. Denn erst jenseits dieser Länge beginnen die körperfremden Moleküle, eine Immunreaktion zu triggern.
Noch steht die RNA-basierte Medizin ganz am Anfang. Das liegt daran, dass die Rolle nicht codierender RNA im Organismus noch kaum verstanden ist. Der Biochemiker Nils Walter vom Center for RNA Biomedicine an der University of Michigan (USA) betonte Anfang 2024 in einem Fachartikel, das Potenzial der RNA-Therapeutika erscheine immer größer und das mache es »umso dringlicher, die Funktionen der ncRNAs zu entschlüsseln«. Würden wir dieses Ziel erreichen, fügte er hinzu, dann könnten wir »das Versprechen des Human Genome Project endlich einlösen«.
Anhaltende Zweifel
Ungeachtet der medizinischen Verheißungen nicht codierender RNA-Moleküle hält die Debatte an, welche Bedeutung sie tatsächlich im zellulären Geschehen haben. Die Genetiker Chris Ponting von der University of Edinburgh und Wilfried Haerty vom Earlham Institute in Norwich (beide im Vereinigten Königreich) vertreten eine eher skeptische Perspektive. Im Jahr 2022 argumentierten sie, die meisten lncRNAs seien bloß »transkriptionales Rauschen«, sprich Molekülfragmente, die beim versehentlichen Transkribieren zufälliger DNA-Abschnitte entstünden. »Nur relativ wenige menschliche lncRNAs (...) tragen in gewichtiger Weise zur menschlichen Entwicklung, Physiologie oder zum Verhalten bei«, schrieben sie.
Angesichts der hohen Schätzungen, was die Anzahl nicht codierender Sequenzabschnitte angeht, rät auch Brennecke zur Vorsicht. Zwar stimmt er zu, dass die Bedeutung dieser Sequenzbereiche lange Zeit unterschätzt wurde. Doch er nimmt nicht an, dass alle lncRNAs eine Funktion haben. Viele davon werden lediglich in geringen Mengen transkribiert – und genau das wäre zu erwarten, wenn es sich tatsächlich nur um eine Art Hintergrundrauschen handeln würde. Der Genetiker Adrian Bird von der University of Edinburgh weist darauf hin, dass es von zahlreichen ncRNA-Sorten im Schnitt deutlich weniger als ein Molekül pro Zelle gibt. »Es ist schwer vorstellbar, wie eine ncRNA essenzielle Zellfunktionen ausüben kann, wenn sie in den meisten Zellen gar nicht vorkommt«, sagt er.
»Es ist schwer vorstellbar, wie eine ncRNA essenzielle Zellfunktionen ausüben kann, wenn sie in den meisten Zellen gar nicht vorkommt«Adrian Bird, Genetiker
Gingeras hält dagegen, dass diese niedrige Expressionsrate eine sehr hohe Gewebespezifität von ncRNAs widerspiegeln könnte. Die Moleküle würden demnach nur in wenigen Körpergeweben und dort auch nur in speziellen Bereichen hergestellt. Ein solcher Prozess reagiere in jeder einzelnen Zelle womöglich sehr empfindlich auf Signale aus der Umgebung. Und Jeanne Lawrence weist darauf hin, trotz der niedrigen Expressionsrate sei zu erkennen, dass Zellen ähnlichen Typs oft ähnliche ncRNAs produzierten. Das mache es weniger wahrscheinlich, dass deren Transkription bloß zufällig erfolgt.
Haushalten Zellen wirklich so schlecht?
Lisa Hall wiederum bezweifelt, dass Zellen permanent nutzlose RNA produzieren. Und wenn lncRNAs sich wirklich kollektiv auf die Chromatinstruktur auswirken, wie manche Fachleute annehmen, dann wäre es laut Hall verständlich, warum manche dieser Molekülsorten in derart geringer Menge transkribiert werden. Denn dann würden einzelne Sorten überhaupt nicht in hoher Anzahl benötigt und es wäre zudem nicht allzu wichtig, welche exakten Sequenzen sie aufweisen. Mutationen in nicht codierenden DNA-Sequenzabschnitten sollten sich demnach meist weniger schädlich auswirken als solche in codierenden.
Was die Erforschung dieses Gebiets zusätzlich erschwert: Viele lncRNAs wirken wahrscheinlich gar nicht direkt als biochemisch aktive Moleküle. Stattdessen könnten sie, vermutet Thomas Gingeras, in kurze RNAs aufgespalten werden, die dann die eigentliche Arbeit erledigen. Da lange und kurze Nukleinsäuren üblicherweise mit unterschiedlichen Techniken analysiert werden, suchen Forscherinnen und Forscher in vielen Fällen womöglich nach dem Falschen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Um es noch komplizierter zu machen: Oft werden lange RNAs in Fragmente zerschnitten und dann in unterschiedlichen Kombinationen wieder zusammengesetzt, wobei das finale Produkt vom jeweiligen Zustand der Zelle abhängt.
Nicht codierende RNAs scheinen auf unschärfere, kollektivere Funktionsprinzipien des Lebens hinzuweisen
Letztlich geht es bei der Debatte um nicht codierende RNA darum, unter welchen Umständen einem RNA-Molekül eine Funktion zugeschrieben wird. Sollte das darauf basieren, ob das Molekül bei verschiedenen Arten in weitgehend gleicher Form vorkommt? Oder ob sich ein Merkmal des Wirtsorganismus verändert, wenn man es aus ihm entfernt? Oder ob sich nachweisen lässt, dass es an einem biochemischen Prozess mitwirkt? Wenn beispielsweise RNAs mit vielen repetitiven Sequenzabschnitten als »Gerüst« für andere Moleküle dienen oder wenn sie zusammen mit anderen in einer Art Schwarm agieren, haben dann einzelne von ihnen wirklich eine Funktion?
Vielleicht wird die Diskussion so intensiv geführt, weil es um die Fundamente der Biologie geht. Seit der epochalen Entdeckung der DNA-Doppelhelix und des Mechanismus, über den sie Informationen transportiert, hängen viele Molekularbiologen der Idee an, das Erbgut enthalte exakte Anweisungen, die spezifische Moleküle für bestimmte Aufgaben vorsehen. Nicht codierende RNAs scheinen jedoch auf unschärfere, kollektivere Funktionsprinzipien des Lebens hinzuweisen – solche, die schwerer zu erkennen und zu verstehen sind. Es gilt nun, mit dieser Unschärfe richtig umzugehen, um den Geheimnissen des Lebens näher zu kommen.
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