Lexikon der Biologie: Kamptozoa
Kamptozoa [von griech. kamptein = krümmen, zōa = Lebewesen, Tiere], Entoprocta, Calyssozoa, Kelchwürmer, Stamm fast ausschließlich meeresbewohnender, festsitzender wirbelloser Tiere, die, mit etwa 150 bis jetzt bekannten Arten ( vgl. Tab. ) weltweit verbreitet, besonders in Küstengewässern aller Meere von der Gezeitenzone bis zu etwa 500 m Tiefe regelmäßiger Bestandteil der Benthosfauna (Benthal) sind. Sie stellen eine im Bauplan einheitliche, vermutlich phylogenetisch junge Tiergruppe dar, deren Vertreter entweder als solitäre Formen epizoisch (Epökie) auf anderen Wirbellosen leben oder als koloniebildende Formen feste Substrate aller Art (Muscheln, Steine, Algen) mit individuenreichen stolonialen Kolonien überziehen. Die meist farblos durchsichtigen und im Habitus Hydroidpolypen ähnelnden Einzeltiere (Zooide) sind von geringer Größe (0,1 bis maximal 10 mm) und haben etwa die Form eines Weinglases: ein schlanker Stiel, mit dem sich die Tiere auf dem Untergrund festsetzen und mit dem sie bei Reizung lebhafte Nickbewegungen ausführen (Name!), erweitert sich oberseits zu einem kelchförmigen Körper, der an seinem freien Rand je nach Art 8–40 cilienbesetzte Tentakel zum Herbeistrudeln der Nahrung (Algen, Kleinplankton) trägt und alle inneren Organe birgt. In den tentakelumschlossenen Raum (Atrium) münden Mund, After (Name: Entoprocta im Gegensatz zu den Ectoprocta = Moostierchen), Exkretionsorgane (Protonephridien) und Gonaden. Anatomie ( vgl. Abb. ): Das Integument besteht aus einem einschichtigen zellulären Epithel. Nach außen scheidet dieses eine je nach Körperregion flexible oder formgebend starre, zuweilen auch mit Dornen besetzte Glykoprotein-Cuticula ab. An Drüsen sind bei Loxosomatiden gewöhnlich eine Klebdrüse (Haftung am Substrat) an der Stielbasis ausgebildet sowie ein- oder mehrzellige Schleimdrüsen an Kelchrand und Tentakeln, die teils Abwehrfunktionen erfüllen, bei einer Art auch den Klebkapseln der Nesseltiere (Glutinanten) ähnliche, kompliziert gebaute „Leimruten“ ausschleudern können, die wohl dem Nahrungserwerb dienen. Manche, namentlich koloniebildende Arten besitzen besonders in der Stielepidermis sog. Porenorgane, unter Cuticulaporen oder Hohldornen gelegene Drüsenzellen, die vermutlich der Salz-(Na+-, Cl–-) Ausscheidung dienen (Salzdrüsen, „Chloridzellen“ reduzierte Protonephridien). Unter dem Integument folgt jenseits einer Basallamina eine Lage schräggestreifter Längsmuskelstränge, die nur im Stiel einen geschlossenen Muskelschlauch bilden und dort in Innervation und Feinstruktur an die Muskulatur der Fadenwürmer erinnern; Ringmuskulatur fehlt. Bei den Coloniales ist an der Kelch-Stiel-Grenze ein dem Austausch von Körperflüssigkeit dienendes muskulöses Pumporgan als Derivat der Längsmuskulatur ausgebildet. – Der Darm, ohne Eigenmuskulatur und in ganzer Länge mit Cilien besetzt, durchzieht den Kelch als U-förmiges Epithelrohr. Er beginnt mit einer schlitzförmigen Mundöffnung und gliedert sich in 4 Abschnitte, den Oesophagustrichter, einen fast den ganzen Kelchraum ausfüllenden Magen, einen kurzen Mitteldarm und einen tonnenförmig aus dem Atrium hervorragenden Enddarm. Die aufgenommene Nahrung wird im Magen zu einer Schleimwurst verklebt und durch die Mitteldarmcilien während der Verdauung stetig in Rotation gehalten. Im Magenepithel wird die Nahrung resorbiert; es erfüllt gleichzeitig die Aufgaben eines Haupt-Stoffwechsel- („Leber“) und Exkretionsorgans. In der Darmkrümmung liegen von vorn nach hinten die paarigen Protonephridien (Osmo- und Ionenregulation), ein hantelförmiges Gehirn und ein Paar sackförmige Ovarien oder Hoden. Die einheitliche primäre Leibeshöhle in Kelch und Stiel ist flüssigkeitserfüllt und von einem lockeren Maschenwerk aus Parenchymzellen durchzogen. Nerven- und Sinnessystem sind entsprechend der sessilen Lebensweise einfach gebaut: Das vermutlich aus paarigen Anlagen hervorgehende Gehirn (Subintestinalganglion) entsendet motorische Fasern zu Tentakeln und Körpermuskulatur sowie beidseits in je einem Nervenbündel zum Stiel, und es nimmt sensible Axone von zahlreichen mit Sinnescilien ausgestatteten Sinnesnervenzellen (Chemo- und Mechanorezeptoren) auf, welche, über die ganze Körperoberfläche verteilt, besonders an den Tentakelspitzen gehäuft auftreten. Manche Arten besitzen zusätzlich beidseits an den Kelchflanken komplexe Sinnespapillen (Rädertiere). Geschlechtsverhältnisse: Die ursprünglicheren solitären Formen (Loxosomatiden) sind generell proterandrisch; die Ovarienentwicklung erfolgt jeweils erst nach Reifung und Entleerung der Hoden. Bei den höherentwickelten und koloniebildenden Pedicelliniden ( vgl. Abb. ) sind die einzelnen Zooide generell simultane Zwitter, während in der höchstentwickelten Gruppe (Barentsiiden) die Einzelzooide einer Kolonie generell getrenntgeschlechtlich sind. Innerhalb einer Kolonie gibt es aber Zooide unterschiedlichen Geschlechts, und ihre Geschlechtsdetermination erfolgt phänotypisch. Bei einigen Arten ließ sich zeigen, daß die ersten reifenden Kelche einer Population oder Kolonie zu Männchen werden. Von diesen ins freie Wasser abgegebene Stoffe (Hormone?, Spermien?) induzieren in weiteren reifenden Kelchen die Ausbildung von Ovarien. Fortpflanzung und Entwicklung: Nach innerer Befruchtung gelangen die Eier in den mütterlichen Brutraum, eine Atrialtasche zwischen Magendach und Enddarm, und entwickeln sich dort über eine echte Spiral-Furchung zu Schwimmlarven mit apikalem Wimpernschopf (Trochophora-Typ, Trochophora), die sich aber u.a. durch den Besitz eines zusätzlichen, bei solitären Arten mit Ocellen ausgestatteten Sinnesorgans am Episphärenvorderpol (Präoralorgan) von den typischen Trochophorae der Ringelwürmer unterscheiden. Die abgelösten, bereits den Kelchen erwachsener Tiere gleichenden Larven ( vgl. Abb. ) setzen sich nach einem oft nur Stunden dauernden freischwimmenden Leben (Verbreitung) mit dem Vorderpol auf einem passenden Substrat fest und metamorphosieren in einem Tag zum erwachsenen Tier, indem der Haftpol zum Stiel auswächst und das larvale Atrium mitsamt allen inneren Organen sich durch allometrisches Wachstum (Allometrie) um 90° aufwärts dreht. Bis auf die larvalen Sinnesorgane werden alle Organe der Larve in den Adultus übernommen; nur Gehirn und Gonaden entstehen neu. Neben der an günstige Lebensbedingungen gebundenen sexuellen Fortpflanzung besitzen alle Kamptozoa zeitlebens die Fähigkeit zu asexueller Individuenknospung, durch die sich rasch große Populationen entwickeln können. Bei den ursprünglichen, solitären Formen entstehen die Knospen an der Kelchwand und lösen sich später vom Muttertier ab, während bei den abgeleiteten, koloniebildenden Formen die Knospung an der Stielbasis erfolgt und zur Bildung von Zooidketten führt, die zeitlebens über Stolone miteinander verbunden bleiben und zu individuenreichen flächigen oder bäumchenförmigen Kolonien auswachsen können. Das Regenerationsvermögen einzelner Kelche beschränkt sich auf die Neubildung verletzter Tentakel; die Stiele der koloniebildenden Arten vermögen jedoch aufgrund der Trennung von Kelch und Knospungszone die periodisch absterbenden Kelche zu regenerieren und so die Rolle von Überdauerungsorganen (Dauerknospen, Hibernacula) zu übernehmen. – Die meist unter 1 mm großen solitären Loxosomatiden ( vgl. Abb. ) findet man verbreitet als Epizoen auf Schwämmen, Polychaeta, Sipunculida, Echiurida und Stachelhäutern, wo sie oft einen vom Wirt erzeugten Atemwasserstrom zum Nahrungserwerb nutzen. Die größeren koloniebildenden Pedicelliniden und Barentsiiden sind an allen Küsten häufig in Strudler-Gesellschaften anzutreffen, gewöhnlich im Verein mit Moostierchen, Manteltieren und Hydroidea. Die einzige süßwasserbewohnende Art, Urnatella gracilis, mit starken Anpassungen an ihren veränderten Lebensraum (komplexes Protonephridiensystem, reduzierte sexuelle Fortpflanzung), wurde, wahrscheinlich von Fließgewässern Nordamerikas ausgehend, in den letzten 60 Jahren durch den Schiffsverkehr weltweit über die großen Stromsysteme aller Erdteile verbreitet (Dauerstadien) und in Europa in Maas, Donau, Havelseen, Theiß, Dnjepr und Dnjestr gefunden. Größte bekannte Art ist die an südaustralischen Küsten vorkommende Pedicellinopsis fruticosa, die bis 30 cm hohe Stämmchen mit Tausenden spiralig angeordneter Zooide bildet. Ein in den kambrischen Burgess-Schiefern (Kanada) entdeckter fossiler Organismus (Dinomischus) wurde ursprünglich den Kamptozoa zugerechnet, gehört aber mit Sicherheit nicht in diese Gruppe. Dagegen wurde aus etwa 150 Millionen Jahre alten Schichten des oberen Jura in Mittelengland ein fossiles Kamptozoon beschrieben, das bereits alle Merkmale der Barentsiiden zeigt und dieser Formengruppe mit Sicherheit zuzuordnen ist. Verwandtschaft: Die systematische Stellung der Kamptozoa ist umstritten. Von manchen Biologen wegen äußerlicher Ähnlichkeiten (Konvergenzen?) als Basisgruppe der Moostierchen angesehen, werden sie meist als eigenständiger Typus primär oder sekundär acoelomater Spiralia betrachtet, der entweder in die nähere Verwandtschaft der Fadenwürmer und Rädertiere einzuordnen ist oder, aus neotenen Trochophorae entstanden, den Ringelwürmern nahesteht. Neuere Untersuchungen auf der Basis ribosomaler RNA-Verwandtschaftsanalysen stützen diese Annahme.
P.E.
Lit.:Mackay, L.Y., Winnepenninckx, B., Wachter, R. de, Backeljau, T., Emschermann, P., Garey, J.R.: 18SrRNA Suggests That Entoprocta Are Protostomes, Unrelated to Ectoprocta. J.Mol.Evol. 42, 552–559 (1996). Todd, J.A. & Taylor, P.D.: The First Fossil Entoproct. Naturwissenschaften 79, 311–314 (1992).
Kamptozoa
1 Bauplan der Kamptozoen im Längsschnitt; 2 solitäres Kamptozoon: Loxosomella ssp. (Familie Loxosomatidae) mit Knospe; 3 Kamptozoen-Kolonie (Pedicelliniden); 4 Larve von Barentsia matsushimana.
Ed Enddarm, Fu Fuß mit Klebdrüse, Ga Ganglion, Go Gonade, Lm Längsmuskeln, Ma Magen, Md Mitteldarm, Oe Oesophagus, Pn Protonephridium, Sp Sinnespapille
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