Lexikon der Biologie: Säugling
Säugling, menschliches Kind (Abb., Tab.) im 1. Lebensjahr. Bis Mitte der 1960er Jahre war der gesunde Säugling nicht von wissenschaftlichem Interesse. Man ging von einem physisch und psychisch unfertigen, unvollkommenen und hilflosen Wesen aus. Selbst als die Baby-watcher Anfang der 1970er Jahre die bereits hohe Differenzierungsstufe unterschiedlichster Sinnesmodalitäten aufzeigten und Aktionen und Reaktionen dokumentiert wurden, die von einer ausgeklügelten Verarbeitung des Wahrgenommenen Zeugnis gaben, blieb immer noch der Verdacht von Inkompetenz zurück; das implizite Kindheitskonzept war das eines „defizitären Erwachsenenmodells“. Die hohe Pflegebedürftigkeit des Traglings führte im Laufe der Stammesgeschichte zu soziokummunikativen Anpassungsleistungen im Dienste einer engen Bindung an seine Bezugspersonen. Komplementär entstand das intuitive Elternprogramm, um das Interaktionssystem beidseitig abzustützen. Die Säuglingsforschung, speziell Makro- und Mikroanalysen der face-to-face-Interaktionen (face-to-face), hat im Säugling einen beeindruckenden Interaktionspartner entdeckt, mit differenzierten Einzelfähigkeiten und überzeugenden crossmodalen Leistungen, mit einem reichen Verhaltensrepertoire zum sozialen Austausch ausgestattet sowie mit einer fast grenzenlosen Lernkapazität (Lerndisposition, Prägung) – vorausgesetzt, die „Umwelt“ bietet die für einen Erfahrungsgewinn (Erfahrung) nötigen Sinneseindrücke ausreichend, angemessen und zum richtigen Zeitpunkt. Die Komplementarität und „Passung“ der Interaktionen in der frühesten Kindheit sollten nicht darüber hinwegtäuschen, „daß eine dyadische Sichtweise zwar angebracht ist, aber die Beziehungsqualität in überwiegendem Maße von den erwachsenen Interaktionspartnern bestimmt wird“ (Chasiotis, A. & Keller, H. [1992]: Zur Relevanz evolutionsbiologischer Überlegungen für die klinische Psychologie. Psychoanalytische und interaktionistische Ansätze im Lichte der Kleinkindforschung. Integrative Therapie 1–2, 74–100.). – Die vorsprachliche Lautproduktion des Säuglings (präverbale Vokalisationen) und seine Funktion für die frühe Eltern-Kind-Kommunikation und die Sprachentwicklung sind aktuelle Forschungsthemen der Entwicklungspsychobiologie. Unmutsäußerungen wie Quengeln, Weinen oder Schreien haben eine alarmierende Wirkung – auch auf die Physiologie des Zuhörers. Es wird hierbei aber nur unspezifisch ein aktiviertes kindliches Bedürfnis signalisiert. Erst zusätzliche Kontextinformationen erlauben es der Bezugsperson, die eigentliche Ursache des Schreiens (Schmerz, Schreck, Hunger, Hitze, Kälte, Kontaktbedürfnis, Langeweile) zu erkennen. Die Schreifrequenz ist in allen bisher untersuchten Kulturen in den ersten Lebensmonaten am höchsten, typisch ist der n-förmige Verlauf der Schreikurve (Anstieg der täglichen Schreidauer bis zur 3.–6. Lebenswoche, danach Abfall), der als Universalie betrachtet wird. Auf westliche Kulturen beschränkt (kulturgebundenes Syndrom) sind dagegen exzessiv anhaltende Schreiepisoden, die vor allem in den Abendstunden andauern. Die Ursache des „exzessiven Schreiens“ ist nicht, wie ursprünglich gedacht, eine gastrointestinale Störung („Drei-Monats-Kolik“), sondern wahrscheinlich eine vorübergehende Reifungsverzögerung (Reifung) bei besonders reaktiven und selbstregulationsschwachen Säuglingen, die nach dem 3. Monat meist überwunden ist. Ursprüngliche Betreuungspraktiken, d.h. eine hohe Antwortbereitschaft (Responsivität; Responsiveness), viel körperliche Nähe (rooming in, co-sleeping) und das richtige Erkennen der vom Kind ausgehenden Bedürfnisäußerungen nach Nahrung, Schlaf und Anregung, sind näher am evolutionsbiologischen Modell und verringern die Länge der Schreiepisoden (mismatch theory). Anwesenheitssignale, Babysprache, Eltern-Kind-Beziehung, Eltern-Kind-Konflikt, Erstkontakt, Frühkindliche Reflexe, Humanethologie, Kinderethologie, kindliche Entwicklung, Klammerreflex, Körperkontakt, Lächeln, Let-down-Reflex, Neugeborenes, Objektpermanenz, Stillen, Verlassenheitsangst.
G.H.-S./J.Be.
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