Lexikon der Geographie: Historische Geographie
Historische Geographie, genetische Kulturlandschaftsforschung, thematisch und auch in der Forschungspraxis eng mit den Geschichtswissenschaften verwandte Teildisziplin der Geographie. Kern der Historischen Geographie ist das Gewinnen von Einsichten in die Regelhaftigkeiten im Verhältnis von Mensch und Umwelt in historischer Zeit. Als historische Raumwissenschaft beschäftigt sie sich in diesem Sinne mit den raumrelevanten Prozessen, den raumprägenden Strukturen und der konkreten Umgestaltung der Naturlandschaft zur Kulturlandschaft durch das Wirken des Menschen vom Beginn der menschlichen Geschichte bis in die Gegenwart herein. Das setzt die Erfassung, Beschreibung und Erklärung der Qualität und Quantität kulturgeographischer Prozesse in der raumzeitlichen Differenzierung voraus und schließt die Rekonstruktion von Landschaftszuständen zu einer bestimmten, mehr oder weniger weit zurückliegenden Zeit (Querschnittverfahren) und die Geschichte von Regionen (Längsschnittverfahren) ein (historisch-geographische Betrachtungsweisen). Die Erklärung gegenwärtiger räumlicher Strukturen und Prozesse aus der Vergangenheit heraus ist Ziel der Historischen Geographie. Sie geht dabei nur soweit in die Geschichte zurück, als noch Bezüge zur Gegenwart bestehen (Genese).
Noch bis zum Anfang des 20.Jh. setzten sich Geographen die Aufhellung historisch überlieferter Schauplätze zum Ziel. Da sich aufgrund der zeitlichen Distanz der behandelten Themen keine Gegenwartsbezüge herstellen lassen, versteht sich diese Art von Historischer Geographie als geschichtliche Teildisziplin. Bis in die 1950er-Jahre waren historisch-genetisch arbeitende Geographen vornehmlich dem traditionellen Landschaftskonzept verpflichtet. Sie sahen ihre Hauptaufgabe einmal in der querschnittlichen Rekonstruktion vergangener Raumgefüge, den Urlandschaften und Altlandschaften, wobei oftmals bis ins Neolithikum zurückgegangen wurde (Steppenheidetheorie). Die Zusammenarbeit mit der Ur- und Frühgeschichte sowie der Mittelalterforschung war entsprechend intensiv, zumal die Erforschung der spätmittelalterlichen Wüstungen einen Schwerpunkt darstellte. Darüber hinaus sahen Geographen in der genetischen Erklärung sichtbarer Elemente und Strukturen der gegenwärtigen Landschaften ein bedeutsames Arbeitsfeld. Der Ansatz war dabei ein eher morphographischer. Das brachte eine Fülle an historisch-genetischen Typologien zur Beschreibung regelhafter Abfolgen von Erscheinungsformen, wie etwa Siedlungs- und Flurformen, sowie von Verbreitungskarten (historische Karten) hervor. Ferner finden sich Versuche, Abschnitte der Kulturlandschaftsgeschichte (Siedlungsperioden) nach dem Vorherrschen von Siedlungs- und Landnutzungsmustern sowie den zugehörigen oder verursachenden demographischen und sozioökonomischen Prozessen zu charakterisieren; historisch-genetische Kulturlandschaftsforschung war im Kern vor allem genetische Siedlungsforschung. Bildete die historisch-genetische Kulturgeographie mit ihrer Orientierung auf Landschaftsstudien und die Rekonstruktion vergangener Raumzustände bis Ende der 1960er-Jahre einen Kernbereich der Geographie, so wurde ihr im Zuge der Ausbildung der Sozial- und Angewandten Geographie vorgeworfen, unwissenschaftlich und für die Planungspraxis irrelevant zu sein. Viele Geographen, die als historische Geographen begonnen hatten, wandten sich neuen Themen und Arbeitsrichtungen zu. Historisch-genetisch ausgerichtete Professuren wurden in solche für Wirtschafts- und Sozialgeographie oder für Raumplanung umgewidmet. Bemühungen die Anwendungsbezüge historisch-genetischer Forschung herauszustellen waren der Ansatz für die Ausbildung einer Angewandten Historischen Geographie.
Als Disziplin zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften gewinnt die Historische Geographie ihre Erkenntnisse aus der kombinierenden Interpretation von drei Quellengattungen: a) aus der quellenkritischen Analyse von Schriftstücken (Archivforschung) und Karten (historische Karten, historische Atlanten), b) aus der Landschaft selbst (Relikt, Persistenz) und c) aus der Integration von Befunden aus naturwissenschaftlichen Analyseverfahren (z.B. Pedologie, Dendrochronologie, Pollenanalyse).
Aktuelle Forschungsfelder der Historischen Geographie sind: a) Landnutzungsformen und Landschaftszustände in unterschiedlichen Energiesystemen, damit verbunden die Rekonstruktion von Stoffkreisläufen etwa im Rahmen der historischen Klimaforschung; b) raumbezogene Formen kultureller Organisation im raumzeitlichen Wandel (Kulturstufe), etwa zu den Prozessen der Landschaftsgestaltung in der Feudalzeit, zur industriezeitlichen Ressourcennutzung und ihren Folgen (Umweltverschmutzung); c) phänologisch-landschaftsgenetische Arbeiten nach dem Konzept des Kulturlandschaftswandels zu historischen Nutzungsformen des Acker- und Grünlandes, des Waldes und der Gewässer (immer in enger Beziehung zu den Siedlungen) und d)die Angewandte Historische Geographie.
WS
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