Lexikon der Geographie: Orientalismus
Orientalismus, Bezeichnung für einen in Wissenschaft und Politik über den Orient ausgeübten westlichen Herrschaftsdiskurs, der sich in der deutschsprachigen Rezeption sprachlich von der wissenschaftlichen Orientalistik abgrenzt. Beim arabischen "istisraq" und englischen "orientalism" geht diese Unterscheidung allerdings in einer begrifflichen Einheit auf. Der Begriff des Orientalismus geht auf das 1978 von E. Said publizierte Werk "Orientalism" zurück und verdeutlicht eine im 19. Jh. von französischen und englischen Autoren begründete und im 20. Jh. von anglo-amerikanischer Seite fortgeführte Konstruktion des Orients. Das Forschungsobjekt "Orient" fungiert dabei als negatives Spiegelbild und Definitionshilfe des Abendlandes. In einer zweiten Bedeutung wird Orientalismus von Said als Instrument zur Beherrschung und Aneignung des Orients mittels einer von der Politik instrumentalisierten Wissenschaftsdisziplin im Zusammenspiel von Wissen und Macht begriffen. In der Geographie wurden Saids Thesen einer "imaginative geography" des Orients aufgegriffen und zur Konzeptualisierung von "geographical imaginations" herangezogen und weiterentwickelt. Der Orientalismus kann entsprechend im Spannungsfeld zwischen unreflektiert-unkritischen und strategisch-machtpolitischen "geographical imaginations" gesehen werden. Insgesamt führte Saids Kritik am westlichen Orientdiskurs zu einer nachhaltigen Orientalismusdebatte, die sich zunehmend verselbstständigte und in eine arabische und westliche Debatte untergliedert werden kann. In der arabisch-islamischen Welt wird der Orientalismus als Problem der Wissenschaft sowie als politisches Problem diskutiert. Auf der Ebene der Wissenschaft kritisieren arabische Autoren die Konstruktion des Orients als Objekt der westlichen Wissenschaft und verurteilen den Orientalismus als Alteritätspraxis im Sinne einer Differenzierung und Abgrenzung. In einer kritischen Selbstreflexion wird von arabischer Seite eine Mitverantwortung am Orientalismus gesehen, die auf Versäumnisse einer eigenständigen arabischen Wissenschaftstradition und der unreflektierten Übernahme westlicher Forschungsmethoden zurückgeführt wird. In der Idealisierung der eigenen Vergangenheit sehen arabische Wissenschaftler ebenfalls einen Beitrag zum Orientalismus und warnen gleichzeitig vor einer gegenläufigen Reaktion, die letztlich zu einem "umgekehrten Orientalismus" oder "Okzidentalismus" führen muss. In politischer Hinsicht wird vornehmlich die westliche Dominanz über den Orient kritisiert, die sich seit der Kolonialisierung in einer geistigen und kulturellen Form erhalten hat. Die religiös motivierte arabische Kritik sieht hier die Ursachen im uralten Kampf zwischen Islam und Christentum begründet, der durch den Orientalismus eine neuerliche Auflage erfährt. In einer stärker säkular ausgerichteten Interpretation wird die westliche Vormachtstellung auf einen starken Eurozentrismus zurückgeführt, der mit der Globalisierung seine Fortsetzung erfährt. In der Globalisierung sehen arabische Autoren allerdings auch die Möglichkeit zum interkulturellen Austausch und zur geistigen Dekolonisierung, die eine Überwindung des Orientalismus ermöglicht. Von westlicher Seite wird die Orientalismusdebatte hauptsächlich als wissenschaftliches Problem gesehen, wenngleich einige Autoren auch politische Verwicklungen des Orientalismus ausmachen. Zwei Annäherungen können unterschieden werden. Der Orientalismus wird auf die Entwicklung der Orientalistik in ihrem geistes- und ideengeschichtlichen Zusammenhang zurückgeführt. Defizite beim Verständnis des "anderen" sollen und können demnach durch eine Weiterentwicklung der Orientalistik mittels einer verbesserten Methodik – etwa durch die Übernahme neuer sozialwissenschaftlicher Ansätze oder einer marxistischen Geschichtswissenschaft – überwunden werden. Besonders den arabischen Wissenschaftlern wird eine Brückenfunktion in diesem Erneuerungsprozess zugesprochen. In einem zweiten Diskussionsansatz wird die Orientalistik nicht als Wissenschaft, sondern als Diskurs erfasst, der ein Verständnis des "Anderen" nur mithilfe dessen Abgrenzung und Alterität erreicht. Orientalistik und Orientalismus werden hier als einheitlicher Diskurs verstanden, der mit der Konstruktion des Orients einerseits die Selbstdefinition des Westens bewirkt, andererseits den westlichen Herrschaftsanspruch in Politik und Wissenschaft legitimieren soll.
Diese Perspektive liefert über den Ansatz der Dekonstruktion, der sowohl in der arabischen wie westlichen Teildebatte diskutiert wird, eine geeignete Methodik zur wissenschaftstheoretischen Aufarbeitung des Orientalismus. Ein im Zusammenhang mit der Dekonstruktion angewandter "permanenter Perspektivenwechsel" verdeutlicht den diskursiven Charakter der Orientalismusdebatte, die sich z.B. über den "umgekehrten Orientalismus" selbst zu einem eigenen Diskurs erhoben hat. Die Diskussion über den Orientalismus liefert dennoch erste Ansatzpunkte eines Perspektivenwechsels und entwickelt eine dekonstruktivistische Wirksamkeit, die zum Zweck einer geistigen Dekolonisierung durch (weitere) Selbstreflexionen fortgeführt werden muss.
HSc
Lit: SAID, E. (1978): Orientalism. Western Conceptions of the Orient. – London.
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