Lexikon der Geographie: Semiotik
Semiotik, Zeichenlehre, Semiologie, manchmal auch Semantik, Wissenschaft, die sich mit der Bildung von Zeichen und ihrer Benutzung beschäftigt. Die Semiotik entwickelte sich im 20. Jh. zu einem interdisziplinären Theoriegebäude, welches zunehmend auch in der Geographie Anwendung findet, v.a. in der Kartographie, der postmodernen Geographie, der New Cultural Geography, aber auch in der Stadtgeographie und der Sozialgeographie.
Als Begründer der modernen Semiotik gilt allgemein C. S. Peirce (1839-1914). Nach seinen Vorstellungen setzt sich ein Zeichen aus drei Elementen zusammen: dem materiellen Zeichensymbol, "Repräsentamen", z.B. ein Wort, ein Fingerzeig, ein anzeigendes Geräusch, das beim Zeichenempfänger eine bestimmte Idee, den "Interpretant", hervorruft. Dieser findet seinen Widerpart in einem außerhalb der Vorstellung des Interpreten liegenden Objekt, dem "Referens". Das triadische Modell von Peirce verbindet damit die materielle Objektebene mit der Zeichenebene und dem Handlungs- und Interpretationsaspekt.
Der semiologische Ansatz von F. de Saussure (1857-1913), einem Vertreter des linguistischen Strukturalismus, weist dagegen dem Zeichen rein ideellen Charakter zu. Saussure differenziert dyadisch zwischen Signifikant als bezeichnendem Lautbild und Signifikat als bezeichneter Idee. Die Beziehung zwischen beiden ist beliebig, unterliegt aber sozialen Konventionen, um Verständlichkeit zu garantieren. Dabei muss Bedeutungskonstanz gewährleistet sein, Spielräume sind jedoch möglich. Die Saussure'sche Semiotik wurde von R. Barthes und U. Eco auf nichtsprachliche "Sprechweisen", wie Mode, Essensgebräuche, Architektur u.Ä. übertragen. Barthes führt dazu den Begriff des Syntagma als eines logischen (=grammatischen) Zusammenhangs im Gegensatz zum kulturell differenzierten Paradigma ein. Zum Beispiel besteht der syntagmatische Raum eines Hauses aus Wand, Tür, Fenster und Dach, während seine Konstruktionsformen paradigmatisch bei einer gotischen Kathedrale zu Pfeilerwänden, Portalen, Glasbildfenstern und Spitzbogengewölben werden. Jedes Zeichen hat insofern seinen funktionalen Wert (Denotation), unterliegt jedoch vielfältigen symbolischen Belegungen (Konnotationen).
Die Beziehungen zwischen Signifikant und Signifikat sind interpretierbar und in so genannten Semiosen ständig veränderlich . Dies hat v.a. im Poststrukturalismus Aufmerksamkeit gefunden. Derrida z.B. beschreibt die wahrgenommene Welt als unbegrenzten semiotischen Prozess, der sich aus ständig neuen Kontextualisierungen ergibt.
In der Geographie haben semiotische Theorien indirekt schon immer Einfluss auf die Disziplin genommen. Bereits die Kulturgeographie von Sauer betrachtete die Landschaft als Matrix kultureller Spuren des Menschen, sozusagen als Signifikantenplatte, eine Betrachtungsweise, die sich ähnlich auch bei Hartke (Indikatorenansatz) und G. Hard (Artefaktanalyse) findet. Herausragend in semiotisch-geographischer Hinsicht sind v.a. die Interpretationen des Landschaftsbegriffs von G. Hard sowie die des psychologischen Raumes durch die präsentative Raumsymbolik von P. Jüngst und O. Meder. In der englischsprachigen Geographie hat die New Cultural Geography neue zeichentheoretische Bezüge in der Geographie aufgedeckt. Dazu gehören z.B. die Interpretationen von Landschaften und Städte als Text und die Unzahl poststrukturalistischer Arbeiten, die sich mit Fragen der Identität, des Subjektes und der Dekonstruktion von Machtbeziehungen auseinandersetzen.
WDS
Lit: [1] BARTHES, R. (1964): Èléments de sémiologie. – Paris. [2] DERRIDA, J. (1992): Grammatologie. – Frankfurt/M. [3] DUNCAN, J. (1990): The City as Text. – Cambridge. [4] ECO, U. (1994): Einführung in die Semiotik. – München. [5] HARD, G. (1970): Die "Landschaft" der Sprache und die "Landschaft" der Geographen. Colloquium Geographicum 11. – Bonn. [6] HARTKE, W. (1956): Die "Sozialbrache" als Phänomen der geographischen Differenzierung in der Landschaft. Erdkunde 10, 4, 257-269. [7] JÜNGST, P. & MEDER, O. (1990): Psychodynamik und Territorium, Bd. 1. Urbs et regio 54. – Kassel. [8] PEIRCE, C.S. (2000): Semiotische Schriften. – Frankfurt/M. [9] SAUSSURE, F. de (1916): Cours de linguistique générale. – Paris.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.