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Lexikon der Geographie: Zivilgesellschaft

Zivilgesellschaft, bezeichnet den intermediären Bereich öffentlichen Lebens, die Sphäre kollektiven Handelns und öffentlicher Diskurse zwischen Individuum bzw. Privatbereich und Staat. Ihr Spektrum umfasst u.a. Bürgerinitiativen und Bürgerrechtsgruppen, Verbände und Interessensgruppen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, religiöse Vereinigungen, Entwicklungsorganisationen und verschiedenste Selbsthilfegruppen. Zivilgesellschaft meint eine pluralistische Gesellschaft mit freiwilligen Vereinigungen, Organisationen, Akteuren und Netzwerken, welche konfliktträchtige gesellschaftspolitische Fragen und Problemkreise aufnehmen und den Prozess der politisch-administrativen Entscheidungsfindung kritisch begleiten. Dem deutschen Begriff entspricht die englische "civil society" (Locke), die französische "société civile" (Tocqueville); verwandte Begriffe sind "Bürgergesellschaft" (R. Dahrendorf) oder "zivilcouragierte Gesellschaft" (U. Beck). Ein wesentliches Charakteristikum der Zivilgesellschaft ist ihre Unvereinbarkeit mit autoritären und totalitären Systemen.
Der Begriff der Zivilgesellschaft gehört mittlerweile zum festen Repertoire des politischen Diskurses – häufig unter Bezugnahme auf das antike Ideal einer aktiven Bürgergesellschaft – und ist aufgrund seiner Popularität ziemlich unscharf geworden, d.h. er dient als Bezeichnung für verschiedene Konzepte. In einem groben begriffsgeschichtlichen Überblick lassen sich drei Bedeutungen unterscheiden:
a) Identität von politischer und ziviler Sphäre:
Im Begriff der griechischen "polis" war eine bestimmte Qualität politischer Herrschaft prägend, die sich nach Ansicht ihrer Bürger von den barbarischen und nichtstädtischen Gemeinschaften durch ihr zivilisiertes Zusammenleben unterschied. Freie Bürger organisierten nach selbstbestimmten Regeln und im Einvernehmen miteinander ihre politische Ordnung. Im Römischen Reich meinte die "societas civilis" die bürgerliche Gemeinde als Herrschaftsverband (civitas) und umfasste zugleich ihre Funktion für die Sorge um die allgemeinen öffentlichen Angelegenheiten (res publica). In der Neuzeit verblasste unter dem Einfluss der naturrechtlichen Vertragslehren zunehmend dieses Verständnis einer quasi von der Natur vorgegebenen politischen Arena freier Bürger.
b) Dualismus von politischer und ziviler Sphäre:
Die Idee der Zivilgesellschaft als einer vom Staat unterscheidbaren, eigendynamischen Handlungssphäre entwickelte sich in der politischen Philosophie des 18. Jh. Mit Hobbes "Leviathan" und den Überlegungen von John Locke (1632-1704) setzte unter dem Einfluss von Montesquieu ein Wandel der Wort- und Begriffsgeschichte ein, die Entwicklung einer zunehmenden Dichotomie zwischen "civilis" und "politicus". Im Zentrum stand die Frage nach der Konstruktion von Staat und Gesellschaft und der Überwindung des vorstaatlichen Zustandes durch vertragliche Übereinkunft der Individuen untereinander. Dabei wurden dem Staat Friedens- und Ordnungsfunktionen für das Zusammenleben der Bürger zugeschrieben. Dieser theoretisch formulierte Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat und damit zur Politik, der besonders durch die Philosophie G. W. F. Hegels (1770-1831) konzeptionell unterfüttert wurde, hatte sich im 19. Jh. im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert.
c) Vermittelnde Position, Mischformen:
Doch findet sich auch bereits bei Hegel die Einsicht in die Notwendigkeit der Durchdringung und wechselseitigen Beeinflussung von staatlicher Sphäre und Zivilgesellschaft. Hegel begriff den Bürger nicht nur als "Bourgeois" (Privatmann), sondern auch als "Citoyen" (politischer Bürger). Das Selbstverständnis der im Prozess von Industrialisierung und Nationalstaatsbildung entstehenden bürgerlichen Gesellschaft ist damit von Anfang an durch die Spannung zweier divergierender Traditionslinien geprägt: einerseits wird die bürgerliche Gesellschaft als der Ort konkurrierender Bedürfnisse und Einzelinteressen verstanden, andererseits definiert sich Bürgergesinnung am Ideal des klassischen Republikanismus.
Im jüngeren Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff Zivilgesellschaft daher weder die Gleichsetzung von gesellschaftlicher und politischer Sphäre noch den Gegensatz zwischen beiden, sondern eine vermittelnde Position. Es geht um die Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, deren unterschiedliche Interessen als legitim anerkannt und staatlich vermittelt werden. Zivilgesellschaft bildet dabei ein notwendiges Korrelat zu staatlichen Institutionen.
Die verschiedenen historischen Begriffsverständnisse pausen sich noch bis in die aktuelle Diskussion durch. Im liberalen Verständnis wird Zivilgesellschaft primär als Freiraum gegenüber dem Staat verstanden. Sie zeichnet sich aus durch weitgehende Selbstregulierung, Pluralität und Autonomie der Akteure auf der Basis eines allgemeinen Bürgerstatus. Nur durch eine solche Bürgergesellschaft, in der die Bürger ihre Anrechte wahrnehmen und gegenüber dem Staat behaupten, wird das Ziel der Freiheit gewährleistet. In der republikanischen Tradition wird Zivilgesellschaft hingegen eher als ein offenes Projekt fortschreitender Demokratisierung verstanden, das über die Schaffung und Aufrechterhaltung einer öffentlichen Sphäre der Meinungs- und Willensbildung zur Weiterentwicklung der Demokratie beiträgt.
Zivilgesellschaft wird in dieser heute verbreiteten Sicht als komplementär zum institutionalisierten Prozess der demokratischen Selbstorganisation über Parteien und Parlamente verstanden, der zwar notwendiger Rahmen ist, innerhalb dessen demokratische Prinzipien aber durch eine aktive Zivilgesellschaft immer wieder "aktualisiert" werden müssen. Ebenso in dieser Tradition steht die auf Tocqueville zurückgehende Auffassung, dass eine aktive, pluralistisch-partizipatorische Zivilgesellschaft den Ort zur Herausbildung und Einübung von Bürgertugenden darstellt und damit als Unterbau und Schule der Demokratie fungiert. Zivilgesellschaft hat dabei einen Platz außerhalb der "vermachteten" institutionellen Strukturen einer Gesellschaft.
Habermas greift diese Gedanken auf, wendet sie aber vor allem kommunkationstheoretisch. Bei ihm ist es das aus lebensweltlichen Kontexten gewachsene Geflecht von Organisationen, freien Initiativen, sozialen Bewegungen, aber auch von lernfähigen politischen Akteuren, welche latente und neue Gefährdungslagen in einer Demokratie thematisieren und so nachhaltig in die Öffentlichkeit rücken, dass sie als regelungsbedürftiges Thema von der Politik aufgenommen werden. Die Zivilgesellschaft trägt in diesem Verständnis die Hauptlast der Erwartungen an eine effektive Gestaltung des demokratischen Prozesses. Die großen Themen der öffentlichen Debatten der letzten Jahrzehnte, wie Wettrüsten, Atomenergie, Verelendung der Dritten Welt, Ökologie, Genforschung, belegen nach Habermas, dass zivilgesellschaftliche Kommunikationskontexte und die an sie anschließenden Prozesse öffentlicher Meinungsbildung im Vergleich zu den politischen Entscheidungszentren vielfach über sensitivere Mechanismen der Problemwahrnehmung verfügen (Heming 2000). Wichtige gesellschaftliche Themen werden in der Regel nicht vom politischen Establishment oder den Vertretern großer Organisationen oder gesellschaftlicher Funktionssysteme aufgeworfen, sondern sie entfalten ihre öffentliche Wirksamkeit durch sich sukzessiv verdichtende strukturelle Handlungskontexte von Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen. Nicht die etablierten Kommunikationskanäle, sondern erst die spontane Kommunikation in systemisch (noch) nicht integrierten Bereich der Lebenswelt erzeugt nach dieser Auffassung eine öffentliche Basis, auf deren Grundlage Interessen Eingang in die demokratische Willensbildung finden.
Eine Renaissance des Begriffs Zivilgesellschaft in Politik und Wissenschaft hatte im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen und Lernprozesse seit den 1960er-Jahren eingesetzt. Zivilgesellschaft diente zunächst in Lateinamerika angesichts autoritärer Repression als Leitbild, um eine Perspektive zukünftiger demokratischer Regierungssysteme zu entwickeln. In Europa gewannen Überlegungen zur Zivilgesellschaft seit den 1960er-Jahren im Kontext außerparlamentarischer Bewegungen und Bürgerinitiativen an Gewicht und in den 1980er-Jahren diente der Diskurs um Bürgerrechte und Zivilgesellschaft in autoritären, sozialistischen Regimen Osteuropas als Gegenstrategie zur Allgegenwart der Staatsmacht (Charta 77, Dissidentenbewegungen). Nach dem Zusammenbruch dieser Diktaturen verbanden sich Hoffnungen auf Mitbestimmung und Mitwirkung beim Aufbau einer Zivilgesellschaft mit Einrichtungen wie "Runden Tischen" und ähnlichem. Dabei wurde allerdings sehr rasch deutlich, dass eine Zivilgesellschaft notwendig des Rahmens des Verfassungsstaates und seiner Institutionen bedarf, welche die Einhaltung demokratischer Spielregeln und den Ausgleich und Schutz von wenig organisationsfähigen Interessen gewährleisten müssen. Zivilgesellschaft weist in diesem Sinne auch ein problematisches Potential auf, da sie auch intoleranten Gruppen und Diskursen (etwa Rechts- und Linksradikalismus und Ausländerfeindlichkeit) eine Bühne bietet, die ihr selbst letztlich den Nährboden entziehen.
Eine neue Qualität begann der Begriff in den 1990er-Jahren als Mittel gegen Anomie, Fragmentierung und Unregierbarkeit postindustrieller Gesellschaften zu gewinnen. Die Notwendigkeit einer "civil society" mit sozialen Ausgleich verbürgenden politischen Prozessen erweist sich in unseren zunehmend fragmentierten Gesellschaften, in denen sich Lebensbedingungen der vormals Dritten Welt auch in den Zentren der Ersten ausbreiten, als unabweisbar. Eine Politik, die um des Zieles internationaler Wettbewerbsfähigkeit willen hohe Dauerarbeitslosigkeit und den Abbau sozialer Sicherungsleistungen toleriert und somit den bislang integrationsstiftenden sozialstaatlichen Kompromiss aufzukündigen beginnt, die dazu führt, dass "die Quellen der gesellschaftlichen Solidarität auszutrocknen beginnen" und der demokratische Prozess zunehmend zu einem Instrument "einer starke Minderheiten ausgrenzenden Mehrheitsherrschaft" wird (Habermas, 1996, S. 379), bedarf dringend eines politischen Regulativs, mit Hilfe dessen auch gesellschaftlichen Rand- und Problemgruppen mittels deliberativer Verfahrensweisen Gehör verschafft wird. Das Bedingungsgefüge, das auch perspektivisch die Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit und nicht zuletzt die Integrationskraft komplexer Gesellschaften gewährleisten kann, erblickt Habermas: a) im Zusammenspiel von privater und öffentlicher Autonomie einer selbstbewussten Bürgerschaft und einer dadurch zum Ausdruck gelangenden Zivilgesellschaft, b) in einer über deliberative Strukturen für zivilgesellschaftliche Impulse offenen Funktions- und Aufgabenbestimmung des demokratischen Staates und seiner Institutionen sowie c) in der rechtlich regulierten Rückbindung der einzelnen Funktionssysteme an eine gesellschaftpolitische Verantwortung.

HG

Lit: [1] FRANKENBERG, G. (1997): Die Verfassung der Republik. Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft. – Frankfurt. [2] HABERMAS, J. (1996): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. – Frankfurt. [3] HABERMAS, J. (1998): Jenseits des Nationalstaats? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung. In: Beck, U. (Hrsg.): Politik der Globalisierung. – Frankfurt. [4] KNEER, G. (1997): Zivilgesellschaft In: Kneer, G. et al. (Hrsg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen. – München. [5] NOHLEN, D. (Hrsg.)(2001): Kleines Lexikon der Politik. – München. [6] SCHIMANK, U. u. VOLKMANN, U. (Hrsg.)(2000): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme. – Opladen. [7] SCHÖNHERR-MANN, H.-M. (2000): Politischer Liberalismus in der Postmoderne. Zivilgesellschaft, Individualisierung, Popkultur. – München. [8] WALZER, M. (1996): Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. – Frankfurt.

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Grafik:
Mathias Niemeyer (Leitung)
Ulrike Lohoff-Erlenbach
Stephan Meyer

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