Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Marcus Herz
Geb. 17.1.1747 in Berlin;
gest. 19.1.1803 ebenda
Exemplarisch zeigt H.’ Werk die existentielle Zerrissenheit sowie die geschichtliche Schutzlosigkeit des modernisierten jüdischen Lebens im Zeitalter der Emanzipation. So legt es auch die philosophischen Spannungen sowie die sozial-psychologischen Belastungen bloß, die vom Unternehmen herrührten, ein deutsch-jüdisches Leben für die Aufklärung im Zeitalter der Aufklärung zu führen. Dadurch, daß H.’ Selbstbewußtsein seiner jüdischen Abstammung sich im Streben nach geistiger Anerkennung und sozialer Geltung in der deutschen Umwelt niederschlug, mußte es die Zerrissenheit einer bisher nie dagewesenen deutschjüdischen Existenz nur verschärfen. Sein Denken hält sich demnach in den Rissen und Spalten, die sich damals zwischen den wissenschaftlichen Systemen und zwischen den kulturellen Tendenzen auftaten.
Mendelssohn und Kant, diese zwei maßgebenden Philosophen der deutschen Aufklärung, bestimmten weitgehend H.’ geistigen Horizont. »Sie allein sind es dem ich […] ganz mich selbst schuldig bin; ohne Ihnen würde ich […] eine Seele ohne Kräfte haben, ein Verstand ohne Thätigkeit, kurz ohne Ihnen wäre ich dies was ich vor vier Jahre war, das ist ich wäre nichts« – so schrieb der eben nach Berlin heimgekehrte H. im September 1770 seinem ehemaligen Lehrer Kant. Dank der Wohltätigkeit der Königsberger Familie Friedländer konnte der Sohn des unbemittelten Berliner Toraschreibers sich als Philosophiestudent an der Universität Königsberg immatrikulieren und somit ein lebenslängliches Verhältnis zu Kant aufnehmen. »Ich umfaßte gleich im ersten Augenblick des Schreckens seinen Kopf und blieb so – Gott weiß wie lange versteinert stehen. Da neben ihm hinzusinken und mit ihm zu entschlafen, das war der heißeste Wunsch den ich gehabt und je haben werde« – so beschrieb H. seine erste Reaktion, als der gerade im philosophischen Streit mit Jacobi verfangene Mendelssohn in seinem Beisein verschied. Dank einem Empfehlungsschreiben Kants, das H. mit sich aus Königsberg brachte, wurde Mendelssohn nicht nur zu H.’ Mentor, sondern auch zum vertrauten Freund. Zeigt aber die Zusammenstellung dieser zwei Zitate, wie sehr H.’ Leben im philosophischen Rationalismus begründet war, so läßt sie auch ersehen, warum H. die kritische Wende der Philosophie Kants nicht mitvollziehen konnte. H., »der geschickte jüdische studiosus« (Kant an J. H. Lambert, September 1770), derjenige, der im Briefwechsel mit Kant in den frühen 1770er Jahren die Geburtsstunde der Kritik der reinen Vernunft miterlebte, der mit seinen Vorlesungen über Kants Philosophie in den späten 1770er Jahren an sozialem Ansehen gewann: gerade ihm wurde es 1781 beim Erscheinen des Hauptwerks Kants klar, daß die Philosophie seiner Studentenzeit, die seine eigene bürgerliche Verbesserung als deutscher Jude ideologisch ermöglicht hatte, fortan überholt war. Erst später (in einem Brief an Kant vom April 1789) bekennt er sich zu seiner Enttäuschung: »Sie stehen beständig mir vor Augen. Ihre unsterblichen Werke, ich lese fast täglich darin […]; aber das System […] zu durchdringen, dazu hat mich leider mein praktisches Leben völlig unfähig gemacht, und […] der Gedanke an diese Unfähigkeit trübt manche Stunde meines Lebens.« Später noch scheute er sich auch nicht, seiner Bitterkeit satirischen Ausdruck zu verleihen, wie in einem Aufsatz über Die kritische Laus, der im November 1798 im Neuen Teutschen Merkur erschien. H. hing, so wird deutlich, wesentlich dem vorkritischen Denken Kants an. Denn das rationalistische Weltbild der natürlichen Theologie faßte er, wie auch später David Friedländer, als eine vernünftige Form der Grundprinzipien des Judentums auf. Schon 1771 in seinen Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit hatte er seine Zweifel an dem kritischen Ansatz von Kants Inaugural-Dissertation (1770) so formuliert: »Wir wollen überzeugt seyn, daß ein Gott nothwendig existiren muß, nicht daß er uns zu denken nothwendig sey.« So aufklärerisch-modern er sich in seinem Denken auch zeigte, wirkte bei H. doch stets die Rückbindung an das Judentum unterschwellig fort. Dies zeigt sich auch daran, daß der Umgang mit Mendelssohn und seinem Kreis seine medizinischen, ästhetischen und psychologischen Interessen stets mitbestimmte.
Philosophie und Medizin, diese beiden wichtigen Betätigungsfelder der Aufklärung, waren es auch, die H. sich zu eigen machte. Als Jude war ihm eine akademische Laufbahn als Professor der Philosophie ohnehin verschlossen. Dafür aber konnte er sich 1772, dank der Unterstützung David Friedländers, an der Universität Halle als Medizinstudent immatrikulieren, wo er zwei Jahre später (1774) sein Doktorat erwarb. 1782 wurde er Chefarzt des Berliner jüdischen Krankenhauses, das er nach modernen wissenschaftlich-klinischen Methoden leitete. Seine medizinischen Leistungen waren öffentlich anerkannt, indem ihm 1785 der Titel eines Hofrats, 1787 von Friedrich Wilhelm II. der Titel eines Professors verliehen wurden. Wie die Aufsatzsammlungen Briefe an Aerzte (1777 und 1784) zeigen, stand er mit prominenten Ärzten der Zeit in Verbindung. Gleichzeitig neigte er aber auch zur Philosophie, so daß er sich immer über die anstrengenden Forderungen seines praktischen Lebens als Arzt beschweren mußte. Schon die Zeitgenossen kolportierten, daß H. über seinen philosophischen Interessen die Medizin vernachlässigte: »Später nahm er nun Lücken in seinem Wissen als Arzt wahr, die ihm sehr unangenehm waren und die große Anstrengung erforderten, um einigermaßen ausgefüllt zu werden.« Das ist wohl eine Anspielung auf H.’ Ablehnung des 1798 von E. Jenner veröffentlichten Verfahrens der Kuhpockenimpfung. H.’ Polemik Über die Brutalimpfung und deren Vergleichung mit der Humanen (1801), die eine durch die Kantische Ethik gestärkte Metaphysik des Menschen gegen den rein wissenschaftlichen Empirismus verficht, löste eine heftige Kritik aus, die H.’ veraltete medizinische Begriffe anprangerte. Dennoch war H. als gewissenhafter Arzt anerkannt. Er setzte sich für die Professionalisierung der Medizin ein und erarbeitete sich eine philosophische Einstellung, in der sich moralisches und ästhetisches Denken und wissenschaftliche Kenntnisse gegenseitig befruchteten. Der methodologisch wichtige Aufsatz Ueber den Gebrauch des Wasserfenchelsamens in der Lungenschwindsucht, der 1796 im Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst erschien, definiert diese kantianisch-anthropologisch begründete Auffassung der Medizin. Sie betont sowohl ein ethisches Verhalten, das den Menschen als Zweck an sich, der niemals einer experimentellen ärztlichen Behandlung aufgeopfert werden darf, als auch den moralischen und wissenschaftlichen Bildungsprozeß des Arztes selber. Das erlaubt H. zu behaupten: »ich setze den Unterschied zwischen dem ächten Künstler [d.h. dem philosophischen Arzt] und dem gemeinen Kurirer keinesweges in das eigentliche Heilen der Krankheit, sondern in das Erkennen der Krankheit, die zu heilen ist.« H. konnte sich als philosophischer Arzt um so selbstbewußter behaupten, als er überzeugt war, daß die Psychologie von der Vernunftkritik Kants unangetastet blieb, weil sie wesentlich zur Naturlehre gehörte. Demnach tritt H. in seinen philosophisch-medizinischen Hauptwerken, dem Versuch über den Geschmack und dem Versuch über den Schwindel, als »philosophe«, d.h. als moderner Intellektueller, der die aristotelische phronesis (die praktische Tugend) verkörpert, auf.
Vernunft gegen Unvernunft zu behaupten: das war das Hauptanliegen der Aufklärung. Für H. war die Suche nach zureichenden Gründen der Vernunft die zuverlässige Methode, das Unberechenbare der menschlichen Verhältnisse einzuschränken, sei es die Zufälligkeit der rein empirischen Erfindung in der medizinischen Wissenschaft; sei es die abergläubische Frömmigkeit orthodoxen Glaubens; seien es die ihm unbegreiflichen literarischen Ausschweifungen der Sturm und Drang-Bewegung, der Klassik und der Frühromantik. Doch gerade eine Position in bzw. zwischen diesen historischen Bewegungen und kulturellen Orten zu finden, war für einen deutschen Juden wie H. die Schwierigkeit. Konnte er mit ihnen nicht Schritt halten, weil er einem veralteten Begriff von Aufklärung anhing, so war er freilich zu aufgeklärt für die jüdische Orthodoxie. In der Tat befand er sich zwischen diesen Parteien, wie er selber schrieb: »Mein Eintritt in die handelnde Welt […] hat mich belehrt, daß dem größten Theil der Menschen das beständige Halten der Vernunftwaage ein beschwerliches Geschäft ist, daß sie […] es bequemer finden, an Gewohnheit sich zu halten […] und daß Haß und Verfolgung das Wenigste ist, was demjenigen zu Theil wird, der ihnen diese ruhige Bequemlichkeit zu entziehen wagt.« Dies schrieb H. in seiner Polemik Über die frühe Beerdigung der Juden (1788), worin er die Autorität der modernen Medizin gegen den traditionellen jüdischen Beerdigungsbrauch einsetzte, um die Gefahr des lebendig Begrabenseins zu bekämpfen. Damit einher ging seine für die Haskala entmutigende Feststellung, daß ein traditionelles Judentum die Wissenschaft auch da ablehnt, wo sie offensichtlich helfen kann.
1779 heiratete H. die um 17 Jahre jüngere Henriette de Lemos, die er (wie sie später sagte) stets als Kind behandelte. Von dieser Zeit an wurde ihr Salon zum Mittelpunkt der Berliner Gesellschaft. In diesem Rahmen hielt H., im Sinne des von Kant empfohlenen öffentlichen Gebrauchs der Vernunft, seine Vorlesungen über die Physik (vgl. Grundlage zu meinen Vorlesungen über die Experimentalphysik, 1787). Hier versammelten sich aber auch die Vertreter einer neuen Generation, unter ihnen K.Ph. Moritz, die Brüder Humboldt, F. Schlegel, F. Schleiermacher, zu denen H. sich doch geistig distanziert verhielt, wie aus zeitgenössischen Berichten zu ersehen ist. Er war vor allem bestrebt, mit seiner Person sowie mit seinen wissenschaftlichen und sozialen Leistungen ein Vorbild des modernen Juden zu sein. In diesem Sinne verstand er sich als Vertreter der jüdischen »Nation«: Durch sein geistiges Verhalten wollte er alte Vorurteile Lügen strafen. Jedoch sah er sich, wie andere maskilim (jüdische Aufklärer) nicht selten mit Rückschlägen konfrontiert. Und trotz der sozialen Anerkennung, die H. sich erworben hatte, bleibt bei seinen Äußerungen oft ein Grundton der Desillusionierung. Es ist, als bezweifelte er, ob es sich gelohnt hätte, seine Verpflichtungen gegenüber dem orthodoxen Judentum gegen eine philosophische Moderne eingetauscht zu haben. An der Anekdote Der überlistige Tod. Ein jüdisches Mährchen, die H. im August 1798 im Neuen Teutschen Merkur veröffentlichte, lassen sich sowohl seine Distanz zum Judentum als auch sein Schuldbewußtsein ermessen: Sie handelt von einem jüdischen Arzt, dessen weltlicher Erfolg ihn noch von seinem sterbenden Vater entfremdet.
Werke:
- Briefe an Aerzte. Erste Sammlung, Mietau 1777.
- Briefe an Aerzte, Zweite Sammlung, Berlin 1784.
- Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit, 2. Aufl. Berlin 1790.
- Versuch über den Schwindel, 2. Aufl., Berlin 1791.
- Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit, Hamburg 1990.
- Philosophischemedizinische Aufsätze, St. Ingbert 1997. –
Literatur:
- B. Ibing, M. H. Arzt und Weltweiser im Berlin der Aufklärung, Diss., Münster 1984.
- M. L. Davies, Identity or History? M. H. and the End of the Enlightenment, Detroit 1995.
Martin L. Davies
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