Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Margarete Susman
Geb. 14.10.1872 in Hamburg;
gest. 16.1.1966 in Zürich
S.s über neunzig Jahre währendes Leben erstreckte sich über die lebendigste Phase deutschjüdischer Kulturgeschichte wie ihrer Vernichtung gleichermaßen. Heranwachsend in einem großbürgerlichen jüdischen Hause, genoß S. die behütete Erziehung einer höheren Tochter. Erst nach dem Tod des Vaters konnte sie ein Studium aufnehmen, zunächst an der Düsseldorfer Kunsthochschule, wo sie Hanns Heinz Ewers und ihren späteren Ehemann, den Maler und Kunsthistoriker Eduard von Bendemann kennenlernte, dann in München, wo sie die Kant-Vorlesungen des vom Psychologismus Fechners und Wundts beeinflußten Theodor Lipp hörte. Durch die Kunsthistorikerin G. Kantorowics, die zum Kreis um Stefan George gehörte und mit G. Simmel eng befreundet war, wurde sie in den berühmten Kreis um Karl und Hanna Wolfskehl eingeführt, dem auch Stefan George angehörte. Durch ihn und K. Wolfskehl lernte sie eine »Arbeit am Dichten« kennen, der ihre eigene nicht gewachsen zu sein schien: Sie zog die dritte Auflage ihres Gedichtbandes Mein Land (1901) zurück.
In Berlin lernte sie im Hause Georg Simmels Ernst Bloch kennen, der ihr sein Buch über Thomas Müntzer widmen sollte. Mit der Gertrud Simmel gewidmeten Studie Vom Sinn der Liebe (1912) legte S. ihre erste, von Musil ablehnend, von Scheler begeistert besprochene Arbeit vor, eine philosophische Auseinandersetzung mit ihrem Lehrer G. Simmel. Durch H. Simon, den Chefredakteur der Frankfurter Zeitung, angeregt, schrieb S. Essays und Rezensionen und machte sich durch ihre richtungweisenden Bewertungen H.v. Hofmannsthals, R.M. Rilkes und A. Momberts in der Reihe Neue Lyrik (1907–1909) einen Namen. In den folgenden Jahren entstanden zahlreiche Essays über G. Lukacs, F. Nietzsche, Jean Paul, B. Spinoza, M. Buber, in denen sich ihre außergewöhnliche Hellsichtigkeit für geistige Tendenzen der Zeit und die ihnen zugrunde liegenden sozialen Verwerfungen ausdrückt. Mit Mann und Sohn lebte sie in Berlin, in Frankfurt, in Zürich und in der Zeit der Weimarer Republik in Säckingen, wo ihr Mann versuchte, einen Bauernhof zu bewirtschaften. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs bewirkten eine politische Annäherung an die Positionen G. Landauers, mit dem sie befreundet war (Die Revolution und die Frau, 1918). Seine Ermordung in der Münchner Räterepublik weckte in ihr das Bewußtsein für die Problematik des assimilierten Judentums (Die Revolution und die Juden, 1919).
Philosophisch wird für S., wie für ihre Generation, der durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs bewirkte Bruch mit der abendländischen Philosophietradition zur Herausforderung. Zumeist nachts entstanden unter den Entbehrungen der bäuerlichen Erwerbsarbeit Arbeiten über B. Groethuysen, E. Rosenstock und F. Rosenzweig. Viele entstanden aus der doppelten Wahrnehmung der Lektüre und des unmittelbaren persönlichen Gesprächs mit den befreundeten Autoren. Ihr Nachdenken konzentrierte sich auf die existentielle Situation des Menschen in einer sich radikal verändernden Welt, an der die überkommenen bürgerlichen Wert- und Denkkategorien angesichts von Krieg, Revolution und Inflation versagen. In der jüdischen Mystik, die sie zunächst in den Publikationen M. Bubers kennenlernte, fand sie Denkbilder, die ihrem eigenen religiösen Bedürfnis entgegenkamen, das gespeist war aus einem nicht minder elementaren Bedürfnis, die geistige Situation des Menschen unter den Bedingungen einer sich bedrohlich verändernden Welt zu verstehen (Der große Maggid). Mit Bildern der lurianischen Kabbala (z.B. dem Exil der shekhinah, der heiligen Gegenwart Gottes) charakterisierte sie die Situation des gegenwärtigen Menschen als eine der extremen Gottesferne, Entfremdung und Sinnleere (Botschaft der chassidischen Mystik an unsere Zeit; Die messianische Idee als Friedensidee). Sie verharrte jedoch nicht in rückwärtsgewandter Resignation, sondern begriff ihre Diagnose als denkerische Provokation. Bedrohung, Angst, Zerstörung – die Themen des Ersten Weltkriegs – erhalten, aus dem Erfahrungsschatz der Religionen interpretiert, eine den Sinnhorizont erweiternde existentielle Dimension. Der religiöse Impuls ihres Denkens wird besonders da deutlich, wo sie sich mit areligiösen Stoffen beschäftigte. So etwa im Essay über die Freudsche Psychoanalyse, wenn sie die von Freud zunächst als klinische Hypothese formulierten Begriffe Ich und Überich auf den Problemhorizont des biblischen Judentums bezieht: In der Spannung zwischen Ich und Überich wird der »ganze Abgrund zwischen Sehnsucht und Bewährung, wird die Unermeßlichkeit der menschlichgöttlichen Spannung«, mithin das alte Hiobproblem, sichtbar (Sigmund Freud, 1940). Ihr Verfahren, moderne Theorie-Entwürfe auf mythologische oder biblische Sinngehalte zu beziehen, verfolgt keine ursprungsmythische Intention, sondern denkt aus und in der Tradition der Propheten auf das Ziel des von ihnen verheißenen »Bildes vom Menschen« hin. In dieser Perspektive reflektierte sie auch die Situation der modernen Frau unter gewandelten sozialen und ökonomischen Bedingungen (Frau und Geist; Wandlungen der Frau). In ihren Studien Frauen der Romantik (1929) und Deutung einer großen Liebe – Goethe und Charlotte von Stein (1951) griff sie die Liebesthematik ihrer frühen Studie wieder auf.
Schließlich zwangen die Nationalsozialisten S., Deutschland zu verlassen. Über England und Holland konnte sie in die Schweiz fliehen, wo sie bis zu ihrem Tod in Zürich, Krönleinstraße 2a, lebte. Hier fand die Emigrantin Aufnahme in den Kreis der religiösen Sozialisten um Leonhard Ragaz. Hier kommt es auch zu einer zweiten intensiven Begegnung mit Karl Wolfskehl (KW – Die Stimme spricht). Seine Auseinandersetzung mit dem Judentum bestärkte S., das Hiob-Thema wieder aufzunehmen, das sie bereits in einer Studie über Kafka (Der Morgen, 1929) entfaltet hatte. Die in Hiob personifizierte Denk- und Erfahrungsfigur der »Urbeziehung des Judentums zu Gott« wird zur paradigmatischen Denkfigur ihres Versuchs, die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten zu verstehen: »Es gibt keine große Leistung des Judentums im Exil, […] die den Prozeßpartner nicht mehr mit Namen nennt, die nicht im Kern eine Theodizee, der Versuch einer Rechtfertigung Gottes vor seinem Volk oder eine Rechtfertigung des Volkes vor Gott wäre« (Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, 1946). Das Buch, das S. anläßlich der Staatsgründung Israels 1948 mit einem neuen Vorwort versah, blieb im Nachkriegsdeutschland weitgehend unbeachtet, wie ihr gesamtes nach dem Krieg entstandenes Werk. Hierzu gehören die Deutungen biblischer Gestalten (1956), mit denen S. ihr Bemühen fortsetzte, biblische Figuren für ein Verständnis der gegenwärtigen Welt fruchtbar zu machen. Im Jahre 1959 legte sie in der Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts die Studie Die geistige Gestalt Georg Simmels vor. Ferner erscheinen Anthologien ihrer mehr als 300 in Zeitschriften wie Der Morgen, Der Jude, Neue Wege oder Die literarische Welt erschienenen Essays und Rezensionen (Gestalten und Kreise, 1954; Vom Geheimnis der Freiheit, 1964). Ihre Autobiographie, die die über Neunzigjährige schon fast erblindet verfaßt hat, zeugt von der Intensität und dem tief religiösen Verstehenswillen auch des eigenen Lebens (Ich habe viele Leben gelebt, 1964). S. wird heute als deutsch-jüdische Dichterin und Denkerin gewürdigt, in ihrer spirituellen Weltdeutung jedoch auch in eine Reihe mit Simone Weil oder Edith Stein gestellt.
Werke:
- Vom Sinn der Liebe, Jena 1912.
- Frauen der Romantik, Jena 1929.
- Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, Zürich 1946 (Nd. Frankfurt a.M. 1996).
- Gestalten und Kreise, Zürich 1954.
- Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin 1958.
- Ich habe viele Leben gelebt. Erinnerungen, Stuttgart 1964.
- Das Nah- und Fernsein des Fremden, hg. I. Nordmann, Frankfurt a.M. 1992. –
Literatur:
- M. Schlösser (Hg.), Auf gespaltenem Pfad. Festschrift zu M.S.s 90. Geburtstag, Darmstadt 1964 (mit Bibliographie).
- H. Delf: In diesem Meer von Zeiten, in: J. Dick u. B. Hahn (Hg.), Von einer Welt in die andere, Wien 1993.
Hanna Delf von Wolzogen
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