Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Martin Buber
Geb. 8.2.1878 in Wien;
gest. 13.7.1965 in Jerusalem
B. wird oft als Hauptvertreter des deutschen Judentums bezeichnet; in Wirklichkeit war er aber, trotz seiner langen Jahre in Deutschland, ein polnischer Jude, wie er stolz verkündete. Er war ein Galizier – eine Anrede, die ihn als einen kennzeichnet, der in einer durch und durch jüdischen Kultur aufwuchs, die aber die Offenheit für andere kulturelle Welten nicht ausschloß. In Wien während der Turbulenzen der überstürzten Scheidung seiner Eltern geboren, wurde er im Alter von 3 Jahren zu seinen Großeltern väterlicherseits gegeben, die in Lemberg wohnten, der Hauptstadt der habsburgischen Provinz Galizien. Lemberg oder Lwow, wie die Stadt polnisch hieß, war eine Vielvölker-Metropole, in der Deutsche, Ukrainer, Polen und Juden lebten. Während B.s Jugend waren dreißig Prozent der Stadtbevölkerung Juden, deren größter Teil Jiddisch als Muttersprache hatte, obwohl einige der Reicheren bestrebt waren, ihre Kinder in polnische oder deutsche Schulen zu schicken. B. selber besuchte ein polnisches Gymnasium, wo er eine Leidenschaft für die polnische Kultur entwickelte. Sein erstes literarisches Wagnis war – im Alter von 17 Jahren – Friedrich Nietzsches Also Sprach Zarathustra ins Polnische zu übersetzen. Zu Hause sprach er jedoch mit seinen Großeltern, die fromme, traditionelle Juden waren, Deutsch und Jiddisch.
Sein Großvater, Salomon Buber (1827–1906), war ein berühmter Gelehrter, der die ersten kritischen, heute noch gültigen Midrasch-Editionen herausgegeben hat. Salomon unterwies seinen Enkelsohn auf den wichtigsten Gebieten der Tradition: im Gebetbuch, der Schrift, der Mischna und natürlich dem Midrasch. Obwohl B. schon in seinen Jugendjahren eine säkularisierte Lebensweise annahm, war er kaum ein assimilierter Jude. Gründlich ausgebildet in der religiösen Tradition Israels, den religiösen Quellen und Sprachen, hatte er auch ein stark ausgeprägtes jüdisch-nationales Bewußtsein entwickelt.
Aufgrund seiner Erziehung in Galizien befand sich B. an einem Kreuzungspunkt verschiedener Kulturen – der traditionell jüdischen (im Jiddischen und Hebräischen verwurzelt), der polnischen und der deutschen. Statt eine Dimension seines vielschichtigen kulturellen Erbes zu bevorzugen oder letzteres in einem synkretistischen Kosmopolitismus aufgehen zu lassen, sah er es als seine Lebensaufgabe an, als Vermittler der Kulturen zu wirken und die verschiedenen kulturellen Stimmen – bei Bewahrung ihrer jeweiligen Integrität – miteinander bekannt zu machen. In der Tat sah er sein Lebenswerk als »Brückenbauer« (Ernst A. Simon). Er suchte Brücken zu bauen zwischen Kulturen, zwischen Juden und Christen, zwischen Juden und Deutschen, zwischen israelischen Juden und Palästinensern und – was vielleicht das schwierigste war – zwischen Juden und Juden. Er machte westliche akkulturierte Juden und gebildete Nicht-Juden mit dem Chassidismus bekannt, einer Form volkstümlicher Mystik, die zuerst im 18. Jahrhundert in der Ukraine aufkam und die in Westeuropa bis zu diesem Zeitpunkt belächelt oder sogar als eine obskure, halb-asiatische Sekte abgetan worden war. Er übersetzte (zu Anfang noch mit seinem Freund Franz Rosenzweig) die Bibel neu ins Deutsche, in der Absicht, die Sprachmelodie und Textstruktur des original Hebräischen mit zu übertragen. Im Jahr 1898 schloß er sich der von Theodor Herzl gegründeten zionistischen Bewegung an und beförderte unermüdlich im Laufe von mehr als 60 Jahren die jüdischarabische Wiederannäherung und gegenseitige Anerkennung. Das Land Israel oder Palästina sei ein Land zweier Völker, in dem Juden und Araber lernen müßten, nicht nur einfach nebeneinander, sondern um ihrer gemeinsamen Zukunft willen miteinander zu leben.
B.s irenische Berufung zum Brückenbauen fand ihren höchsten Ausdruck in seiner Lehre, die er das »Leben des Dialogs« nannte. Schon als junger Mann wurde ihm klar, daß die Kenntnis verschiedener Sprachen und Kulturen allein noch nicht das gegenseitige Verstehen und den Respekt sichert. Die einmalige Herausforderung lag darin, in die direkte Rede einzutreten, in der die Stimme des Anderen ihren eigenen Bedingungen gemäß gehört würde, unbelastet von kategorialem Denken, Vorurteilen, Sorgen um die eigene Geschichte und selbstbezogenen Bedürfnissen und Hoffnungen. Dieses Prinzip des Dialogs, das er erstmals mit der Veröffentlichung von Ich und Du (1923) vorstellte, hatte für B. auch eine theologische und letztlich eine jüdische Dimension. Für ihn entsprach die Offenbarung der Ich-Du-Beziehung. Gott, das ewige Du, spricht uns durch die verschiedenen Lebenserfahrungen hindurch an – den scheinbar unbedeutenden und trivialen bis zu den großartigen und bedeutungsvollen –, was eine dialogische Antwort oder eine Bestätigung des Du, der besonderen Gegenwart des Anderen, der vor einem steht, erfordert. Im Stammeln des »Du« (ein tatsächlicher Sprechakt ist überflüssig) findet das Selbst, oder Ich, wiederum seine eigene Gegenwart bestätigt durch den Anderen. Die Ich-Du-Beziehung ist daher im umfassendsten Sinn gegenseitig.
Um eine Antwort auf die sich ständig erneuernde Gegenwart und Anrede eines Anderen zu sein, muß der Dialog stets neu geboren werden. Die Ich-Du-Antwort verlangt daher Spontaneität und kann nicht festgelegt werden durch vorgeprägte Ausdrücke, Gesten und Formulierungen. Daraus folgt, daß auch für Gottes Anrede – gebrochen (d.h. offenbart) in der anredenden Gegenwart des Du, der vor uns steht – Spontaneität erforderlich ist. B. behauptet weiter, daß authentischer Gottesdienst nur in solchen spontanen Antworten auf das ewige Du, das sich einem durch den Fluß der ständig wechselnden Umstände des Lebens mitteilt, gefunden werden kann. Obwohl er das Gebet und den Ritus als Träger der Möglichkeit einer spontanen und damit authentischen Beziehung zu Gott nicht gänzlich verwerfen will, betrachtet B. sie nicht als paradigmatische Formen des wahren religiösen Gottesdienstes.
Es ist klar, daß diese Konzeption göttlicher Offenbarung der klassisch-jüdischen und autoritativen Vorstellung von der historischen Offenbarung radikal widerspricht, d.h. die durch Moses den am Berge Sinai versammelten Kindern Israels anvertraute Tora. Dazu kommt, daß B.s Ambivalenz gegenüber dem liturgischen Gebet und den Mizwot als der ursprünglichen Form des Gottesdienstes nicht nur mit der Tradition, sondern auch mit allen Formen des institutionalisierten jüdischen religiösen Lebens in Konflikt gerät. B. artikulierte seinen für sich stehenden Begriff jüdischer Religiosität, den er demonstrativ von der Religion unterschied, in einer Serie von drei Essays, beginnend mit seinen Drei Reden über das Judentum (1911). Dieser Essay war das Vademecum einer Generation junger Juden, die eine Form jüdischen spirituellen Ausdrucks suchte, der weder an das orthodoxe noch an das liberale Verständnis jüdischer Treue und jüdischen Auftretens gebunden war. Sein Freund Franz Rosenzweig (1886–1929) sollte diese Position in einem öffentlichen Brief, Die Bauleute (1923), ablehnen mit dem Argument, daß B.s Vorstellung einer stets spontanen Religiosität dazu diene, das kulturelle Vorurteil gegen die traditionelle jüdische Praxis als heteronomer und damit ungeeigneter Form des Gottesdienstes zu verstärken. B. entschied sich dafür, seine Vorstellung von jüdischer Frömmigkeit in einer Reihe von Briefen zu rechtfertigen, die erst posthum veröffentlicht wurden und die – wie einige seiner Interpreten bemerkten – mit der Stimme eines der (späteren) Protagonisten seines Romans Gog und Magog (1949) sprachen: »Gott […] ist doch der Gott der Freiheit. Er, der alle Macht hat mich zu zwingen, zwingt mich nicht. Er hat mir von seiner Freiheit zugeteilt. Ich verrate ihn, wenn ich mich zwingen lasse.«
B. gab seine abweichende Position innerhalb des jüdischen religiösen Denkens zu, bestand aber darauf, daß er im formalen Sinn kein Theologe sei. Er beanspruchte für sich, weder offenbarte Aussagen über Gott rechtfertigen noch die offenbarten Schriften und Lehren verteidigen zu wollen. Er wollte einfach auf den Dialog als meta-ethisches Prinzip hinweisen, das die Lebensantworten eines Individuums festlegt und das gewährleistet, daß diese Antworten von Liebe und Gerechtigkeit geprägt und mit existentieller Bedeutung versehen sind (d.h. Selbstbestätigung durch das Du, das man im Dialog trifft). B. lehrte, daß dieses Prinzip sich im Zentrum aller großen spirituellen Traditionen befindet, besonders aber in dem des Judentums. Das Konzept des Dialogs könne dort als ein hermeneutisches Prinzip angewandt werden, um mit ihm die hebräische Bibel und andere grundlegende religiöse Texte der jüdischen Tradition zu lesen, wie die des Chassidismus.
Als individuelle »Gemeinschaft des Glaubens« zeichnet sich für B. das Judentum durch sein tausendjähriges, leuchtendes Zeugnis für das dialogische Prinzip aus, sowohl in seinem kollektiven Gedächtnis (bewahrt in seinen zentralen Mythen und heiligen Texten), als auch in seinen Institutionen. Tatsächlich war B. als Kulturzionist der Überzeugung, daß das jüdische religiöse Leben in der Diaspora zu Unrecht auf die Synagoge und das Heim beschränkt worden sei. So habe es den Kontakt mit dem unverzichtbaren dialogischen Impuls und seinem universalen Geltungsbereich als eines Gottesdienstes verloren. Nachdem die Juden die soziologischen Bedingungen zur Übernahme der Verantwortung für ein vollständiges Gemeinschaftsleben wiederhergestellt haben, die ihnen in der Diaspora verweigert worden waren, ermögliche es der Zionismus, daß das öffentliche Leben der Juden – geleitet vom Prinzip des Dialogs – einmal wieder zum eigentlichen Bereich ihrer Beziehung zu Gott werden könnte. Die Zurückgewinnung der öffentlichen Sphäre als »dialogische« Verantwortung der Gemeinschaft des Glaubens steht im Einklang mit den wichtigsten Verfügungen der Propheten Israels und konstituiert so die Erneuerung dessen, was B. das Hebräische oder den biblischen Humanismus nennt.
B.s religiöser Anarchismus und seine oft radikalen politischen Anschauungen (die anfänglich von seinem engen Freund, dem sozialistischen Anarchisten Gustav Landauer, geprägt waren), besonders im Hinblick auf die arabische Frage, entfremdete ihn vielen Juden, die religiös traditionell und politisch konservativ eingestellt waren. Doch seine Philosophie des Dialogs hat unübersehbar andere inspiriert, besonders diejenigen, die für den Ausdruck jüdischer Spiritualität außerhalb der Synagoge eintraten. Weiterhin übte sein Begriff des Dialogs als eine Weise, Texte zu lesen, d.h. die göttliche Stimme in einem Text zu erkennen – ohne notwendigerweise den geschriebenen Inhalt dieser Stimme, das geschriebene Wort, unkritisch akzeptieren zu müssen –, eine fruchtbare Wirkung auf die zeitgenössische jüdische Wissenschaft und hermeneutische Positionen aus. Kritisch-historische Forschung muß damit nicht mehr notwendig mit antiquarischen Neigungen einhergehen oder unvermeidlich zu einem trockenen Relativismus führen. Streng historische und philologische Analysen können durchaus eingesetzt werden, um erneut die »innere« ewige Wahrheit des Judentums freizulegen.
B.s ikonoklastische Ansichten gründeten in einer beachtlichen Kenntnis jüdischer und allgemeiner Quellen und konnten nicht leicht abgewiesen werden. So sagte Rosenzweig einmal zu einem Kollegen, der B. wegen seiner Zweifel an der traditionellen jüdischen Praxis angriff: »Ich brauche nicht leicht Superlative […]. Buber ist für mich ein imposanter Gelehrter. Ich lasse mir nicht leicht von Wissen imponieren, weil ich selbst einiges habe […]. Gegen Bubers Gelehrsamkeit aber empfinde ich mich als einen Zwerg […]. Daß mir auch sein judaistisches und hebräisches Wissen imponiert, will weniger heißen, obwohl ich im Laufe der letzten Jahre doch auch da einen gewissen Riecher bekommen habe und ›viel‹ und ›wenig‹ etwas zu unterscheiden gelernt habe. Für gewisse Gebiete der Judaistik ist er sicher im strengsten Sinne Fachmann […]« (Brief vom 23. 1. 1923). Genau so schwierig war es, B.s Integrität als Jude anzugreifen, denn er repräsentierte ein stolzes, sogar trotziges Judentum. Mitten im Ersten Weltkrieg, als der Antisemitismus erneut eine Steigerung erfahren hatte, gründete B. eine Zeitschrift mit dem erstaunlichen Namen Der Jude. Verziert in fetten Buchstaben auf ihrem Deckblatt prangend, proklamierte der Name ganz unapologetisch, daß ein Jude zu sein – damals für viele ein Ausdruck des Spottes – keine Schande war. Zwischen 1916 und 1924 regelmäßig und danach als mit allseitigem Beifall bedachte Sonderhefte (Judentum, Christentum, Deutschtum, 1927) erscheinend, mit Beiträgen von 42 der damals bekanntesten jüdischen und nicht-jüdischen Intellektuellen Europas, bot diese Zeitschrift für Juden verschiedener ideologischer und intellektueller Richtungen ein einzigartiges Forum, um die brennendsten politischen und kulturellen Fragen der damaligen Judenheit aufzugreifen. Sein hoher Standard eines verantwortlichen und engagierten Diskurses sprach auch Nicht-Juden an, auf ihren Seiten zu veröffentlichen. Mit dem Heraufkommen des Nationalsozialismus setzte B. unerschrokken sein ganzes intellektuelles Prestige ein, um einen, wie es später genannt wurde, »geistigen Widerstand« (Ernst Simon, Aufbau im Untergang) zu organisieren. Als Gründer der »Mittelstelle« für jüdische Erwachsenenbildung im Jahr 1933 und als ihr Direktor reiste B. durch Nazi-Deutschland und hielt Vorträge, lehrte und ermutigte seine jüdischen Glaubensgenossen. Nachdem die Gestapo seine öffentlichen Auftritte verboten hatte, vollzog er im Mai 1938 seine lange schon aufgeschobene Emigration nach Palästina, wo er eine Professur für Sozialphilosophie (später Soziologie) an der Hebräischen Universität in Jerusalem übernahm.
Zusätzlich zu seinen professoralen Pflichten engagierte sich B. in Palästina im kulturellen und politischen Leben der jüdischen Gemeinschaft. Er war einer der Gründer der politischen Bewegung »Jichud«, die für eine jüdisch-arabische Wiederannäherung eintrat, als eine notwendige Bedingung für die Ausführung der zionistischen Agenda. Er bat seine zionistischen Freunde anzuerkennen, daß das Land Israel ein Land zweier Völker sei. Der Jichud argumentierte, daß Gerechtigkeit in einem Land, das sich Juden und Araber auf der Basis von politischer Gleichheit teilen, nur möglich sei bei geteilter – unabhängig davon, welches Volk die demographische Majorität besitzt – Souveränität und daß ein bi-nationaler Staat gegründet werden müsse.
Darüber hinaus errichtete B. ein nationales Netzwerk von Erwachsenenbildungsprogrammen (nach seinem Tod weihte die Hebräische Universität zu seinem Gedächtnis das »Martin Buber-Zentrum für Erwachsenenbildung« ein). Gegen Ende seines Lebens wurde B. mit seiner Ernennung zum ersten Präsidenten der Israel Academy of Sciences and Humanities (1960–62) geehrt. Gleichzeitig war er an mehreren Publikationsprojekten beteiligt und arbeitete zeitweilig als Dramaturg am Habimah National Theatre. B. stand auch der Kibbuz-Bewegung nahe, die er sowohl als ein einzigartiges Experiment des Utopischen Sozialismus als auch als einen kommunalen Rahmen zur Förderung der Erneuerung des Judentums als einer kreativen und ethischen Kultur unterstützte.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs war B. unter den ersten Juden, die die Versöhnung mit dem deutschen Volk suchten. Ohne Deutschland von seinen Verbrechen gegen die Menschheit und das jüdische Volk zu entlasten, war er der Ansicht, daß die Wunden, die die Shoah geschlagen hatte, nur heilen könnten, wenn man die geistige Tradition des deutschen Humanismus stärkte, die ebenfalls ein Opfer des Nationalsozialismus geworden sei. Bezeichnenderweise kam die Initiative für B.s ersten offiziellen Besuch in Deutschland im Jahr 1952 von deutschen Christen. Der 25. Jahrestag der überkonfessionellen Zeitschrift Die Kreatur, die B. mitherausgab, bildete den Kontext seines Besuchs. Die Herausgeber der Zeitschrift, ein Jude, ein Protestant und ein Katholik, bemühten sich bewußt, die interreligiöse Debatte oder gar den Dialog zu vermeiden; vielmehr versuchte man die allgemeine Wahrnehmung darauf zu lenken, daß wir alle »Kreaturen« nach Gottes Ebenbild seien, als Basis für die Teilhabe an einem Diskurs, der an dem gemeinsamen Anliegen für Gottes Schöpfung orientiert sei. Jedoch schreckte B. nicht vor interreligiöser Polemik zurück, die er in die Form eines Dialogs zu gießen suchte, in dem ein aufmerksames und existentiell-respektvolles Zuhören ermutigt wurde. In diesen Gesprächen versuchte B. dadurch eine dialogische Orientierung zu geben, indem er von Jesus als »meinem Bruder« sprach. Er stellte aber auch deutlich und unerschrocken die tiefen theologischen Unterschiede zwischen Judentum und Christentum heraus. Die reifste Ausformung seines Verständnisses dieser Unterschiede hat B. in einem 1949 publizierten Band, Zwei Glaubensweisen, dargelegt.
Bei B.s erstem privatem Nachkriegsbesuch in Deutschland erhielt er 1951 von der Universität Hamburg den Goethe-Preis, der ein Jahr zuvor gestiftet worden war, um Wissenschaftler zu ehren, deren Lebenswerk dazu beitragen könne, die humanistische Tradition im Sinne Goethes zu erhalten. B. nahm den Preis an, trotz der zu erwartenden Kontroverse bei seinen Landsleuten, die fanden, daß die Wunden noch zu frisch für eine öffentliche Aussöhnung mit Deutschland seien. In einem Brief an Bruno Snell, den damaligen Rektor der Universität Hamburg, erläuterte er seine Gründe für die Annahme des Preises: »Die Ehrung, die mir durch die Erteilung des Hansischen Johann Wolfgang v. Goethe-Preises erwiesen wurde, nehme ich dankbar an. Ich möchte sie als eins der vorerst noch wenigen Zeichen einer aus der gegenmenschlichen Chaotik unserer Zeit erstehenden neuen Humanität ansehen dürfen« (Brief an Bruno Snell, 22.12.1951).
B.s friedliebende Worte waren nicht naiv gesprochen. Er gab bereitwillig zu, daß sie ihn zwangen, auf einem »schmalen Grat« gefährlich nahe am Rande des menschlichen Seins zu wandeln. Er versagte sich die Illusion von Sicherheit, die in gängigen Meinungen und festen Positionen liegt. Er wagte es, den Grat zu überqueren, sein Glaube gab ihm den Mut dazu oder vielmehr sein Vertrauen in Gottes schützende Hand. In einem Gedicht gab er Zeugnis von seinem Glauben und von dem, was er biblischen oder auch hebräischen Humanismus nannte:
»Eine fremde (laute) Stimme spricht:
Ein Seil ist über die Tiefe gestreckt,
Setz deinen Fuss nun darauf
Und eh dein Schritt den Widerspruch weckt,
Lauf!
Ein Seil ist über die Tiefe gespannt,
Versag dich unterwegs allem Hier!
Schon winkt von drüben dir eine Hand:
Zu mir!
Die vertraute (leise) Stimme spricht:
Folge nicht dem heischenden Ruf!
Der dich schuf
Meinte dir zu: »Sei bereit
Für jede irdische Zeit!«
Immer schon hält dich seine Hand –
Bleib liebend der Welt zugewandt!
Werke:
- Hinweise, Gesammelte Essays, Zürich 1953.
- Schriften zur Philosophie, Werke 1, München/Heidelberg 1962.
- Schriften zur Bibel, Werke 2, München/Heidelberg 1964.
- Schriften zum Chassidismus, Werke 3, München/Heidelberg 1963.
- Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln 1963.
- Nachlese, Heidelberg 1965.
- M.B. – Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hg. G. Schaeder, 3 Bde., Heidelberg 1972–75.
- Ein Land und zwei Völker, hg. P. Mendes-Flohr, Frankfurt a/M 19932.
- Die Schrift. Verdeutscht von M.B. gemeinsam mit Franz Rosenzweig, verb. Aufl. der neu bearb. Ausg. von 1954, 4 Bde., Stuttgart 1998.
- M.B. Werkausgabe 2001ff., hg. P. Mendes-Flohr u. P. Schäfer, Erster Band: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1898–1924, hg. M. Treml, Gütersloh, 2001. –
Literatur:
- E. Simon, Aufbau im Untergang. Jüdische Erwachsenenbildung im nationalsozialistischen Deutschland als Geistiger Widerstand, Tübingen 1959.
- H. Kohn, M.B. – Sein Werk und seine Zeit, Köln 19612.
- M. Friedman u. P.A. Schilpp (Hg.), M.B. (Philosophen des 20. Jahrhunderts), Stuttgart 1963 [der Band enthält 29 Einzelstudien zu Leben und Werk M.B.s und seine »Antworten an meine Kritiker«].
- G. Schaeder, M.B. – Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966.
- M.B. – Eine Bibliographie seiner Schriften 1897–1978, zusammengestellt von M. Cohn u. R. Buber, Jerusalem/München 1980. Paul Mendes-Flohr (Übersetzung: Monika Brand und Otfried Fraisse)
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