Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Manuel Joel
Geb. 19.10.1826 in Birnbaum (Provinz Posen); gest. am 3.11.1890 in Breslau
J. gehörte einer traditionell orientierten jüdischen Gelehrtenfamilie an. Sein Vater Heymann Joel (geb. 1792) wirkte in seinem Geburtsort Inowraclaw, in Birnbaum und Schwerin als Richter, gelehrter Talmudist, Prediger und Rabbiner und hatte neben seiner traditionellen Ausbildung auch in seiner Jugend bei Schelling studiert. Seine beiden älteren Brüder David und Hermann traten 1849 als Autoren des Werkes Die Religionsphilosophie des Sohar und ihr Verhältnis zur allgemeinen jüdischen Theologie hervor. David wirkte von 1859 bis 1879 als Rabbiner in Krostoszy (Provinz Posen) und von 1880 an bis zu seinem Tod als Talmud-Lehrer und Rabbiner am Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminar (der Basler Philosoph Karl Joel, Sohn von Hermann Joel, war J.s Neffe).
In den talmudischen Wissenschaften von seinem Vater ausgebildet, lernte J. ab 1845 in Berlin bei Michael Sachs und Leopold Zunz. Gleichzeitig studierte er auch an der philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelm-Universität Philologie und Philosophie bei August Boeckh und Friedrich Adolf Trendelenburg. Im Jahr 1852 legte J. in Berlin das Oberlehrer-Examen ab, welches ihn dazu berechtigte, in allen Stufen des preußischen Gymnasiums zu unterrichten, und wurde noch in demselben Jahr in Halle zum Dr. phil. promoviert. Auf Empfehlung von Michael Sachs berief ihn Zacharias Frankel an das im Jahr 1854 eröffnete Jüdisch-Theologische Seminar (Fraenkel’sche Stiftung) in Breslau, wo er neben Z. Frankel, H. Graetz, J. Bernays und B. Zuckermann Griechisch, Lateinisch und Deutsch und außer Geschichte und Geographie auch Religionsphilosophie und vor allem Homiletik unterrichtete. Im Jahr 1863 wurde er zum Nachfolger von Abraham Geiger in das Amt des Rabbiners der israelitischen Gemeinde in Breslau berufen, das er bis zu seinem Tod 1890 ausübte.
Als Rabbiner, Forscher, Lehrer und wissenschaftlicher wie auch populärer Schriftsteller und Organisator wirkte J. wesentlich an dem Versuch mit – in programmatischer Anknüpfung an die erneuernden Bestrebungen der von Rabbi Akiva im 2. Jahrhundert gegründeten Schule –, die zeitgenössische jüdische Kultur in Gestalt der Wissenschaft des Judentums von Grund auf zu erneuern. Dem diente vor allem eine Reihe religionsphilosophischer Abhandlungen, worin sich J. in Anknüpfung an die Ziele vergleichbarer Studien von Michael Sachs der Aufgabe widmete, das religionsphilosophische Studium als eine der Quellen für die Erneuerung des Judentums zu erschließen. In diesem Sinn untersuchte er Maimonides, das Verhältnis Alberts des Großen zu Maimonides, Lewi ben Gershom (Gersonides), Salomon ibn Gabirol, Crescas, Spinoza, Philon, Saʽadja und Moses Mendelssohn. In diesen Studien folgt J. seinem Interesse an einer universellen Komparatistik, indem er dem Austausch von Gedanken nachgeht, der quer zu den religiösen, sprachlichen, politischen und kulturellen Grenzen und Differenzen stattgefunden hat. Diese Untersuchungen, die in der Regel zunächst als wissenschaftliche Beilagen in den Jahresberichten des Breslauer Seminars veröffentlicht wurden, hat er 1876 in zwei Bänden als Beiträge zur Geschichte der Philosophie herausgegeben.
Innerhalb des Lehrsystems im Breslauer Seminar erhielt die Tätigkeit von J. dadurch eine besondere Bedeutung, daß er für den gesamten Bereich der Homiletik – sowohl für die Theoriebildung als auch den praktischen Unterricht – zuständig war. Ihre Relevanz für die Erneuerung des wissenschaftlichen-gelehrten jüdischen Unterrichtes hatte die Homiletik schon zuvor durch Leopold Zunz unter Beweis gestellt, der seinen Begriff und die Praxis der neu entstehenden Wissenschaft des Judentums auf der Erforschung der jüdischen Predigtpraxis aufgebaut hatte (Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 1832). Dort stellte er die Predigt als den immerwährenden Versuch dar, jeweils einen biblischen Text durch die methodische Verbindung mit einem ethischen Grundsatz – wie in den »Sprüchen der Väter« – für die Erkenntnis der Aufgabe der Zukunft fruchtbar zu machen. Zusammen mit den gesammelten Predigten seines Lehrers Michael Sachs (hg. David Rosin, 1866) prägte J. die Auffassung der Predigttätigkeit ganzer Generationen gelehrter Rabbiner. Er selbst hat 1867 seine gesammelten Festpredigten herausgeben, denen nach seinem Tod seine Schüler Eckstein und Ziemlich noch einmal drei Bände aus dem Nachlaß hinzugefügt haben (1893, 1894 und 1898). Sein Schüler Siegmund Maybaum hat in seinem Buch Jüdische Homiletik nebst einer Auswahl von Texten und Themen (1890) J.s Lehre fortzuführen versucht.
Als Nachfolger Abraham Geigers im Amt des Rabbiners der israelitischen Gemeinde in Breslau war es die Aufgabe von J., das Geigersche Gebetbuch von 1854 neu zu fassen und die Liturgie gemeinsam mit dem gelehrten Kantor der Gemeinde (und des Breslauer Seminars) Moritz Deutsch neu zu ordnen. Das öffentlich-liturgische Gemeindeleben sollte dabei zugleich den baulichen und musikalischen Bedingungen der neuen Synagoge in Breslau entsprechen. J.s Israelitisches Gebetbuch für die öffentliche Andacht des ganzen Jahres (2 Teile, 1872), das dabei entstanden war, wurde zum weit verbreiteten Muster für die deutschen Reformgebetbücher in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts.
J. hat seine homiletischen, religionsphilosophischen und liturgischen Tätigkeiten durch religionsgeschichtliche Forschungen ergänzt, in denen er die Beziehungen des Talmud zur griechischen Sprache und den Konflikt des Heidentums mit dem Christentum in seinen Folgen für das Judentum behandelt hat. J. suchte dabei das Bewußtsein der Überlegenheit in den jüdischen Gemeinden des 3. und 4. Jahrhunderts gegenüber dem sich formierenden Christentum zu begründen, in dem die Juden dieser Zeit eine vorbeiziehende Wolke sahen, die wieder verschwinden würde, sobald die religiöse Erkenntnis gekommen ist. Er veröffentlichte seine Studien in dem zweibändigen Werk Blicke in die Religionsgeschichte zu Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts mit Berücksichtigung der angrenzenden Zeiten (1880/83 und 1887), das er in der Festschrift für Heinrich Graetz ergänzte und das A. Eckstein posthum durch die Herausgabe von J.s Vorarbeiten für einen dritten Band aus dem Nachlaß vervollständigt hat.
J. wurde zum weithin sichtbaren Mustergelehrten des deutschen sog. »Doktor-Rabbiners«. Zu dieser Gelehrsamkeit trug ein ausgebildetes philosophisches Bewußtsein bei, dessen kantianische Grundlage er programmatisch in der Schrift Religiös-philosophische Zeitfragen in zusammenhängenden Aufsätzen besprochen (1876) dargestellt hat. J. behauptet dort, die »philosophische Grundansicht« Kants habe wie keine andere der Religion »den Boden bereitet«, »auf dem sie sich, ohne mit den Ansprüchen der Wissenschaft in Widerstreit zu gerathen, anbauen kann«. Ausgehend von dieser Auffassung, die auch die Basis der philosophischen Entwicklung seines Schülers im Breslauer Seminar, Hermann Cohen, war, hat J. eine umfassende publizistische Tätigkeit entfaltet. Sie reichte von der Kritik an Heinrich von Treitschke – die berühmte Kontroverse um Heinrich von Treitschke (»[…] die Juden sind unser Unglück«) hatte er selber durch einen Offenen Brief an Herrn Prof. H. v. Treitschke (Breslau, 1879) in Gang gesetzt – bis zur gerichtlichen Verteidigung der talmudischen Kulturen und des Shulchan ʽArukh. So trat J. sowohl 1877/1886 in dem langjährigen Prozeß um die Schrift Der Talmudjude von August Rohling, wie in dem Prozeß wegen Gildemeisters Beschimpfung des »jüdischen Ritualcodex« (d.h. des Shulchan ʽArukh) 1884 gutachterlich auf. Den Hintergrund bildete dabei seine durchgreifende Kritik an der philosophischen Entwicklung in Deutschland für die Zeit nach dem Tod von Immanuel Kant bei Hegel, Schopenhauer und in der Religionsphilosophie von David Friedrich Strauss. Während die Kantische Philosophie das besondere Verdienst habe, die Religion von den Fesseln metaphysischer Vorgaben freigesetzt zu haben, handele es sich bei der Philosophie Hegels um eine heidnische Theogonie, die den Weg gebahnt habe, den Theismus der jüdischen Überlieferung zu bekämpfen.
Daneben war J. in vielfältiger Weise für die Organisation des jüdischen Lebens auch über seinen unmittelbaren Verantwortungsbereich hinaus in der israelitischen Gemeinde in Breslau tätig. Dies tat er in seiner Funktion als erster Vorsitzender des im wesentlichen von ihm selbst auf der Rabbinerversammlung im Jahr 1884 in Berlin ins Leben gerufenen »Rabbinerverbandes in Deutschland«, dem Vorläufer des dann aus dem Kreis seiner Schüler (S. Maybaum als erstem Vorsitzenden) im Jahr 1896 gegründeten »Allgemeinen Rabbiner-Verbandes in Deutschland«.
Werke:
- [Ein nahezu vollständiges Verzeichnis der Schriften von J. befindet sich in: M. Brann, Geschichte des Jüdisch-Theologischen Seminars (Fraenckel’sche Stiftung) in Breslau. Festschrift zum fünfzigsten Jubiläum der Anstalt, Breslau 1904, 126–127].
- Beiträge zur Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Breslau 1876 (Nd. in einem Bd. Hildesheim 1978).
- Blicke in die Religionsgeschichte zu Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts, Breslau 1880–83 (Nd. Amsterdam 1971). –
Literatur:
- Lessing-Loge zu Breslau (Hg.), Gedenkblätter. Zur Erinnerung an Dr. M.J., Rabbiner zu Breslau, Breslau 1890, 1–72 [mit Beiträgen der Rabbiner Knoller, Ziemlich, Rosenthal, Maybaum, Vogelstein, B. Jacob, A. Eckstein, Rabb und Dr. Philipp Bloch-Posen].
- A. Eckstein, Die Entstehungsgeschichte des Joel’schen Gebetbuches, in: MGWJ 63 (1919), 210–226.
- I. Heinemann, M.J. als Darsteller der Religionsphilosophie des Mittelalters, MGWJ 70 (1926), 351–355 (wieder abgedruckt in: G. Kisch, Das Breslauer Seminar: Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenkel’scher Stiftung) in Breslau 1854–1938, Gedächtnisschrift, Tübingen 1963, 255–260).
- K. Joel, Erinnerungen an M.J., MGWJ 70 (1926), 9–20.
- A. Altmann, The New Style of Preaching in the 19th Century German Jewry, in ders.: Essays in Jewish Intellectual History, Hannover/London 1981, 190–245.
Dieter Adelmann
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