Lexikon der Neurowissenschaft: Sensitivierung
Sensitivierungw [von latein. sentire = fühlen], Sensibilisierung, Sensitisierung, Pseudokonditionierung, Esensitization, eine einfache Form des nichtassoziativen Lernens, bei der nach intensiver (und evtl. Vermeidensreaktionen bzw. Schmerz auslösender) Reizung die Antwort auf nachfolgende, auch unterschwellige Reize verstärkt wird. Die Reiz- und Antwortspezifität ist gering, d.h., die Reaktion auf Reize unterschiedlichster Art ist erhöht, bzw. der konditionierende Reiz kann unspezifischer Natur sein. Die Sensitivierung ist komplexer als die Habituation und kann diese auch außer Kraft setzen (Dishabituation, Extinktion). So verstärkt sich bei Aplysia der Kiemenrückziehreflex, der durch Habituation rasch schwächer wird, deutlich nach einem einzigen elektrischen Schlag auf das Hinterende. Diese Kurzzeitsensitivierung dauert minutenlang an, während bereits fünf Schwanzschocks zu einer tagelangen Langzeitsensitivierung führen. Sensitivierung und Habituation können einander ablösen. Bei der Sensitivierung aktiviert der sensibilisierende Reiz Interneurone, die die synaptische Übertragung zwischen Sinneszellen und postsynaptischen Motoneuronen oder weiteren Interneuronen erleichtern. Dabei können dieselben Synapsen, die bei der Habituation geschwächt werden, in entgegengesetzte Richtung modifiziert, d.h. in ihrer Effektivität verstärkt werden. Im Gegensatz zur homosynaptischen Depression bei der Habituation kommt es hier zu einer heterosynaptischen Verstärkung, bei der erregende Interneurone dazu veranlaßt werden, die Transmitterausschüttung sensorischer Neurone zu erhöhen. Bei Aplysia konnte gezeigt werden, daß diese Bahnung durch eine Calcium-abhängige Modulation der Transmitterfreisetzung aus der präsynaptischen Endigung bewirkt wird ( siehe Zusatzinfo ).
Sensitivierung
Sensitivierung bei Aplysia:
Serotonin und andere von erregenden Neuronen abgegebene Neurotransmitter aktivieren Rezeptoren, die über das G-Protein Gs das Enzym Adenylatcyclase aktivieren. Sie wandelt Adenosintriphosphat in cAMP um und erhöht dadurch die Konzentration dieses sekundären Botens in den sensorischen Neuronen. cAMP aktiviert die Proteinkinase A (PKA), wobei diese in ihre beiden katalytischen und regulatorischen Untereinheiten dissoziiert. Die katalytischen PKA-Untereinheiten können verschiedene Proteine phosphorylieren, d.h. deren Aktivität durch räumliche Konformationsänderungen modifizieren. Die Folgen sind 1) ein geringerer Einstrom von Kalium über Kaliumkanäle, was das Aktionspotential verlängert, den Calcium-Einstrom über die Calciumkanäle vom N-Typ steigert und damit die Transmitterfreisetzung erhöht, 2) eine erhöhte Mobilität der mit Transmitter gefüllten Vesikel und die Effizienz der Transmitterfreisetzung über einen calciumunabhängigen Mechanismus, 3) ein erhöhter Calcium-Einstrom durch Calciumkanäle vom L-Typ, was ebenfalls die Beweglichkeit der Vesikel erhöht. Eine Kooperation mit anderen biochemischen Reaktionsketten, z.B. über die MAP-Kinasen, steigert die Wirksamkeit des cAMP-Systems noch. Außerdem aktiviert Serotonin in der Präsynapse die Proteinkinase C über einen anderen Rezeptor, das G-Protein Go und die Aktivierung einer Diacylglycerol freisetzenden Phospholipase. Die Proteinkinase erhöht ebenfalls die Mobilität der Vesikel. Alle diese Prozesse wirken kurzfristig (Kurzzeitverstärkung), sind also Mechanismen des Kurzzeitgedächtnisses. Die Langzeitverstärkung (Langzeitgedächtnis) wirkt über mehrere Tage und länger. Sie beruht auf der Synthese neuer Proteine und der Ausbildung neuer Synapsen. Dies wird durch die PKA ausgelöst, die in den Zellkern gelangt und dort Transkriptionsaktivatoren (CREB-Proteine) phosphoryliert und Gene aktiviert. Die Folge ist eine Synthese von Proteinen, die die cytologischen Veränderungen bewirken und (über die Ubiquitin-Hydrolase) die PKA-Aktivität andauern lassen. Langzeithabituation führt dagegen zum Verlust (E pruning) von Synapsen, pro Neuron um bis zu einem Drittel.
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