Metzler Philosophen-Lexikon: Berkeley, George
Geb. 12. 3. 1685 in Dysert Castle (Irland); gest. 14. 1. 1753 in Oxford
Bereits mit 15 Jahren tritt B. in das Trinity College in Dublin ein, wo er alte Sprachen, Philosophie, Logik, Mathematik und Theologie studiert. 1707 wird er Magister of Arts und kurz darauf Priester. Sein erstes philosophisches Werk, An Essay towards a New Theory of Vision (1709; Versuch über eine neue Theorie des Sehens), behandelt Probleme der Wahrnehmungstheorie, insbesondere die Probleme des räumlichen Sehens. Es kann als Vorbereitung seiner Philosophie des Immaterialismus gelesen werden, die er in seinem 1710 veröffentlichten Hauptwerk A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge (Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis) darlegt. Daß er hiermit weitgehend auf Unverständnis stößt, veranlaßt ihn, seine Thesen überzeugender und verständlicher in der literarischen Form des Dialogs darzustellen: in den Three Dialogues between Hylas und Philonous (1713; Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous). Von 1713 bis 1720 befindet sich B. auf Reisen in London, Frankreich und Italien. In Paris ist er vermutlich mit Malebranche zusammengetroffen. Nach seiner Beförderung zum Dekan von Derry (1724) und seiner Heirat (1728) bricht B. 1729 nach den Bermudas auf, um dort seinen langgehegten Plan der Errichtung eines Colleges zu verwirklichen, in dem Söhne englischer Siedler gemeinsam mit Indianern und Schwarzen zu Missionaren ausgebildet werden sollen. Dies scheitert, und er kehrt 1731 resigniert nach Irland zurück, wo er ab 1734 bis zu seinem Tod das Amt des Bischofs von Cloyne innehat. B.s nach den Three Dialogues veröffentlichte Schriften bieten, philosophisch gesehen, wenig Neues. Sein letztes Werk Siris (1744) ist ein Sammelsurium mehr oder weniger philosophischer Inhalte: von Grundfragen der Chemie über spekulative Betrachtungen zur Philosophie Platons bis hin zur Preisung der Heilwirkung des Teerwassergetränks: »Fröhlich stimmen diese Becher, aber sie berauschen nicht.«
B.s Hauptanliegen ist eine Kritik des zu seiner Zeit vorherrschenden Materialismus. Dieser behauptet eine unabhängig vom Bewußtsein existierende materielle Außenwelt. Im Zuge der Fortschritte der Naturwissenschaften durch Galilei, Boyle, Newton u. a., hatte er seine Verbreitung und im Werk John Lockes seine philosophische Ausformulierung gefunden. B.s Kritik ist in erster Linie von theologischen und moralischen Motiven geleitet, da er in dieser naturwissenschaftlich geprägten Weltsicht eine Gefahr für den Glauben sieht. Seine Argumentation aber ist streng philosophisch, mit dem Anspruch, vorurteilslos und ohne Zuhilfenahme unbegründeter metaphysischer Hypothesen zu verfahren. Mit Locke teilt B. die gegen den Rationalismus eines Descartes oder Leibniz gerichtete empirische Grundauffassung, daß die durch Sinneswahrnehmungen gewonnene Erfahrung die alleinige Basis unseres Wissens darstellt. Seinen entschiedenen Widerspruch hingegen erregt die von Locke vertretene kausale Wahrnehmungstheorie, nach der die Ideen (Vorstellungen) als Wirkungen von bewußtseinsunabhängigen materiellen Dingen anzusehen sind. Unhaltbar, weil in sich widersprüchlich, erscheint B. vor allem die dieser Konzeption zugrundeliegende dualistische Scheidung zwischen Dingen und Ideen. Man versuche nur einmal, sich die Existenz vorstellungsunabhängiger Dinge vorzustellen, fordert er den Leser auf, um ihn die logische Unmöglichkeit einer solchen Annahme unmittelbar einsehen zu lassen. Als Ursachen bzw. Urbilder unserer Ideen müßten die Dinge mit den Ideen vergleichbar, ihnen ähnlich sein; das aber setzt voraus, daß sie wahrnehmbar und somit selbst Ideen sind. Ist dies nicht der Fall, dann sind die Dinge nichts als ein unbekanntes, schlechthin unzugängliches Etwas ohne jede wahrnehmbare Eigenschaft. Als ein solches Etwas ist in B.s Augen der Lockesche Begriff einer materiellen Substanz eine unzulässige Abstraktion von den wirklichen Dingen und damit letztlich eine unbegründete metaphysische Annahme. Dinge gibt es nach B.s Auffassung immer nur als wahrgenommene bzw. wahrnehmbare Ideen oder Komplexe von Ideen: »esse est percipi« oder, wie Schopenhauer später sagt: »Die Welt ist meine Vorstellung.« Das bedeutet zugleich: Ihre Existenz ist untrennbar verbunden mit der Existenz von Subjekten, die sie wahrnehmen und für die gilt: »esse est percipere«.
Mit Lockes Materialismus wird für B. notwendigerweise auch dessen Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten (Eigenschaften) der Dinge hinfällig. Sie beruht auf der Annahme, daß die Ideen der primären Qualitäten uns die Dinge so zeigen, wie sie bewußtseinsunabhängig wirklich sind, da sie zu diesen in einer Ähnlichkeitsbeziehung stehen und außerdem mehreren Sinnen zugänglich sind. Dies gilt für die Qualitäten der Ausdehnung, der Bewegung, der Gestalt u. a., denen auch in der Geometrie und in den Naturwissenschaften, aufgrund ihres objektiv meßbaren Charakters, eine primäre Rolle zukommt. Die sekundären Qualitäten, wie Farbe, Geruch, Ton sind demgegenüber nach Locke rein subjektiv, also im Grunde bloße Ideen, die ohne Ähnlichkeit mit den sie verursachenden Eigenschaften der Dinge sind und nur von einem Sinn wahrgenommen werden können. Aufgrund der dargelegten Unhaltbarkeit des Dualismus zwischen Dingen und Ideen, gilt nach B. für alle Qualitäten, daß sie subjektiv und sinnesspezifisch sind. Daß auch die von Locke als primär bezeichneten Qualitäten nur einem Sinn zugänglich sind, wird nur durch die Doppeldeutigkeit ihrer Bezeichnungen verdeckt. So sind z.B. gesehene und getastete Ausdehnung gänzlich voneinander verschiedene Ideen, die nur gewohnheitsmäßig miteinander auftreten; nur deshalb belegen wir sie mit demselben Namen. Sich neben der gesehenen und getasteten Ausdehnung noch eine Ausdehnung an sich vorzustellen, ohne sicht- oder tastbare Eigenschaften wie Farbe oder Härte, stellt für B. eine ebenso unmögliche Forderung an das menschliche Abstraktionsvermögen dar wie die Vorstellung einer bewußtseinsunabhängigen Materie. B. sieht sich daher zu einer gründlichen Kritik der Lockeschen Abstraktionstheorie veranlaßt. Er demonstriert sie an dem Beispiel der unmöglichen abstrakten Vorstellung eines allgemeinen Dreiecks, das »weder schiefwinklig noch rechtwinklig noch gleichseitig noch gleichschenklig, sondern alles dieses zugleich und zugleich auch nichts von diesem« sein soll. Nach B. reicht es für die Aufstellung allgemeingültiger Urteile völlig, wenn man ein bestimmtes Dreieck als Stellvertreter für alle Dreiecke mit der betreffenden Eigenschaft, unter Absehung von allen übrigen, ansieht. Ein Urteil z.B., das die Rechtwinkligkeit eines Dreiecks betrifft, läßt sich so auf alle übrigen rechtwinkligen, wenn auch ansonsten verschiedenen Dreiecke übertragen. Im Falle allgemeiner Ideen werden wir nach B.s Auffassung durch die Sprache irregeleitet, wenn wir allgemein verwendbare Ausdrücke wie »Dreieck« als Namen von abstrakten allgemeinen Dingen auffassen.
Indem B. die bewußtseinsunabhängige Existenz einer materiellen Wirklichkeit bestreitet, will er keineswegs die Objektivität und Realität unserer Erfahrung überhaupt in Frage stellen und die Ursache der Ideen nur von der Außenwelt in das einzelne Subjekt verlegen, was sie von dessen Träumen und Phantasien nicht mehr unterscheidbar sein ließe. An die Stelle der materiellen tritt bei B. vielmehr die geistige Substanz des dem Subjekt übergeordneten göttlichen Bewußtseins. Gott als Urheber unserer Vorstellungen garantiert die Regelmäßigkeit ihres Auftretens, die ihre Objektivität ausmacht, sowie ihre allen Subjekten in gleicher Weise zugängliche Realität. Er leistet dasselbe, was bei Locke die Materie leisten sollte. Wie die Einbildungskraft des menschlichen Geistes Vorstellungen produziert, so produziert Gott in höchst vollkommener Weise die Wahrnehmungsvorstellungen für den Menschen. So berechtigt und gut begründet B.s Kritik am Materialismus sein mag, so metaphysisch erscheint diese letzte Konsequenz.
Schantz, Richard: Der sinnliche Gehalt der Wahrnehmung. München 1988. – Kulenkampff, Arend: George Berkeley. München 1987.
Martin Drechsler
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