Metzler Philosophen-Lexikon: Fromm, Erich
Geb. 23. 3. 1900 in Frankfurt am Main;
gest. 18. 3. 1980 in Muralto (Schweiz)
Auf die Frage nach einer Selbstdefinition antwortete F. einmal, er sei »ein atheistischer Mystiker, ein Sozialist, der sich im Gegensatz zu den meisten sozialistischen und kommunistischen Parteien befindet, ein Psychoanalytiker, zugleich ein sehr unorthodoxer Freudianer«. Diese Selbsteinschätzung nimmt die wichtigsten Quellen und Impulse seines philosophischen und wissenschaftlichen Arbeitens zusammen: messianisches Judentum und Buddhismus, Marx und Freud.
Der junge F. wächst auf in einer orthodoxen jüdischen Familie in Frankfurt und besucht dort das Gymnasium. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs sensibilisiert ihn für sozialpsychologische und sozialphilosophische Fragestellungen. In der intellektuellen Autobiographie Beyond the Chains of Illusions (1962; Jenseits der Illusionen) bekundet er als sein Hauptinteresse in dieser Zeit: »Ich wollte die Gesetze verstehen lernen, die das Leben des einzelnen und der Gesellschaft – d.h. die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Existenz – beherrschen.« Mit Beginn des Studiums der Soziologie, Psychologie und Philosophie in Heidelberg 1919 bei Karl Jaspers, Heinrich Rickert und Alfred Weber, bei dem er mit der Arbeit Das jüdische Gesetz 1925 promovierte, wurden ihm dafür theoretische Konzepte zugänglich: die Frühschriften von Marx, die Soziologie Max Webers und die Psychoanalyse Freuds; daneben beeinflußten ihn die Schriften des Anthropologen und Entdeckers der mutterrechtlichen Gesellschaften Johann Jacob Bachofen, die später zu einer Modifizierung der Freudschen Triebtheorie beitrugen. Seit 1925 machte F. eine Ausbildung zum Psychoanalytiker bei den Professoren Karl Landauer und Wilhelm Wittenberg in München; von 1929 bis 1932 führte er seine Studien weiter am Psychoanalytischen Institut in Berlin bei Karl Abraham, Franz Alexander, Sándor Rado, Theodor Reik und Hanns Sachs. Seit Herbst 1926 praktizierte er als Psychoanalytiker. Über mehr als vierzig Jahre bleibt die konkrete psychoanalytische Erfahrung Quelle seines theoretischen Arbeitens.
Die Jahre zwischen 1926 und 1929 sind geprägt von der Arbeit als Psychoanalytiker und von tastenden wissenschaftlichen Versuchen auf der Grundlage der Freudschen Triebtheorie. Ein eigenständiger Ansatz wird erstmals sichtbar in F.s Beitrag zur Einweihung des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts 1929, das auf Initiative des Heidelberger Kreises um seine erste Frau Frieda Fromm-Reichmann, und gefördert von Max Horkheimer, gegründet werden konnte. Dieser Beitrag Psychoanalyse und Soziologie versucht, Psychologie und Soziologie unter dem Primat einer historischmaterialistischen Methode zu verbinden. F.s wichtigste wissenschaftliche Standortbestimmung und die Grundlegung seiner weiteren wissenschaftlichen Arbeit erfolgt nach der Berufung an das Frankfurter »Institut für Sozialforschung« 1930 als Fachmann für Fragen der Psychoanalyse in dem Aufsatz Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus von 1932. Eine analytische Sozialpsychologie hat demgemäß sowohl die gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen zu berücksichtigen, die Marx in seiner Theorie der sozioökonomischen Dynamik analysiert, als auch die Bedingtheit durch das Unbewußte, für die Freud mit seinem Begriff der Triebstruktur einen wissenschaftlichen Zugang eröffnete. Es ist die Aufgabe einer solchen Sozialpsychologie, »die Triebstruktur, die libidinöse, zum großen Teil unbewußte Haltung einer Gruppe aus ihrer sozioökonomischen Struktur heraus zu verstehen«. Dabei ergänzt die Psychoanalyse den historischen Materialismus vor allem durch ihre »Kenntnis eines der im gesellschaftlichen Prozeß wirksamen Faktoren, der Beschaffenheit des Menschen selbst, seiner Naturˆ«.
In den Arbeiten von 1932 bis 1937 – seit 1933 arbeitete F. mit dem emigrierten Institut in New York – konkretisierte F. seinen sozialpsychologischen Ansatz in Richtung auf eine soziologische Revision der Freudschen Triebtheorie. Der Mensch wird nicht als das Ergebnis eines bestimmten Triebschicksals begriffen; vielmehr erscheint die Ausprägung der Libidostruktur des Menschen als das Produkt vorherrschender ökonomischer und gesellschaftlicher Kräfte. F.s eigentümliche Revision der Freudschen Triebtheorie führte 1938 zur Trennung vom »Institut für Sozialforschung«. In der Folgezeit entwickelte F. mehr und mehr seine eigene Terminologie. Begünstigt wird dies dadurch, daß er ab 1938 in englischer Sprache veröffentlicht. In seinem ersten Buch Escape from Freedom (1941; Die Furcht vor der Freiheit), das wegen seiner Analyse des Nazismus und des autoritären Charakters Hitlers von einer breiten amerikanischen Öffentlichkeit aufgenommen wurde, löst der Charakterbegriff den Begriff der Libidostruktur ab. Charakter wird bestimmt als das System der meist unbewußten Haltungen und Einstellungen eines Individuums, aber auch einer Gruppe oder Gesellschaft. Von ihm her bestimmt sich das konkrete Verhalten der Menschen. Dabei erscheint der »social character« (»Gesellschaftscharakter«) sowohl als die Summe der Charaktere der meisten Mitglieder einer Gesellschaft, als auch als das »Medium«, in dem sich die einzelnen Charaktere ausprägen. Der Gesellschaftscharakter allererst gewährleistet sozialen Konsens. Er ist der »Kitt« einer Gesellschaft. Die unterschiedlichen Charaktere entstehen nicht wie bei Freud entsprechend den unterschiedlichen Formen der Libidoorganisation, sondern sie sind Manifestationen der unterschiedlichen Weisen, wie sich Menschen zu den Dingen und zu anderen Menschen in Beziehung setzen. F.s Charaktertheorie ist das Herzstück seiner wissenschaftlichen Arbeit. Sie stellt ein sozialanthropologisches Rahmenkonzept menschlich-gesellschaftlichen Handelns dar. Der Charakter ist anthropologisch gesehen eine Art Instinktersatz. Er bildet sich aufgrund der Notwendigkeit für den Menschen, Leben auf Dauer zu stellen. Die Charakterorientierungen sind Versuche, auf die »existentielle Dichotomie« des Menschen, nämlich aus der Einheit mit der Natur herausgefallen zu sein und zugleich diese Einheit immer wieder anstreben zu müssen, eine Antwort zu geben. In Man for Himself von 1947 (Psychoanalyse und Ethik) verbindet F. die sozialanthropologischen Einsichten der Charaktertheorie mit der ethischen Fragestellung. In einem analytisch konstruktiven Verfahren entwickelt er idealtypische Charakterorientierungen. Je nachdem, ob diese der Entfaltung der menschlichen »Natur« förderlich sind oder nicht, kann er sie als produktiv bzw. nicht-produktiv qualifizieren. Er gewinnt daraus einen »normativen Humanismus«, der ihm zum Motor und Kriterium seiner Gesellschaftskritik wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich F. sehr stark einer Analyse und Kritik der amerikanischen Gesellschaft zu. Neben seiner psychoanalytischen Praxis und seiner Lehrtätigkeit engagierte er sich auch im gesellschaftspolitischen Bereich. In The Sane Society (1955; Wege aus einer kranken Gesellschaft) beschreibt F. zunächst die natürlichen und unaufgebbaren Sinnbedürfnisse des Menschen und zeigt ihre krankmachende Befriedigung in einer kranken Gesellschaft. Einen Ausweg aus der fortschreitenden Zerstörung menschlicher Lebensbedingungen sieht er nur in einem »kommunitären Sozialismus«, der auf der Grundlage humanistischer Wertvorstellungen Wirtschaft und Gesellschaft radikal demokratisch umgestaltet. F. engagierte sich dafür in der American Socialist Party, in der Friedensbewegung SANE und im Wahlkampf für den Senator Eugene McCarthy, der sich für eine Beendigung des Vietnamkrieges einsetzte.
1944 hatte F. seine zweite Frau Henny Gurland geheiratet und war aus gesundheitlichen Gründen 1951 mit ihr nach Mexiko übergesiedelt. Er blieb dort auch nach ihrem Tod und übernahm neben seinen weiterlaufenden Lehraktivitäten in New York eine Professur für Psychoanalyse an der Universität in Mexiko City. 1956 gründete er das mexikanische Psychoanalytische Institut, wo er eine ganze Generation von Psychoanalytikern ausbildete. 1953 heiratete er seine dritte Frau Annis Grover Freeman und zog mit ihr in ein Haus nach Cuernavaca. F. publizierte hier meist gleichzeitig in englischer und spanischer Sprache und beeinflußte damit viele Menschen, die sich für bessere Lebensbedingungen und gerechtere soziale Verhältnisse in Südamerika einsetzten.
Nach einem Herzinfarkt 1968 zog F. sich von seinen politischen Aktivitäten zurück und siedelte erst teilweise, 1974 ganz in die Schweiz nach Muralto am Lago Maggiore über. Nicht zuletzt die Widerstände, die er in seinen politischen Aktivitäten erlebte, veranlaßten ihn, sich stärker mit dem Problem der menschlichen Aggressivität auseinanderzusetzen. In The Anatomy of Human Destructiveness (1973; Anatomie der menschlichen Destruktivität) legt er eine materialreiche Studie zur Aggressionstheorie vor, in der er sich mit ethologischen und triebtheoretischen Konzepten menschlichen Aggressionsverhaltens auseinandersetzt. Destruktive Aggression wird darin begriffen als Resultat von Lebensbedingungen, die eine Entfaltung positiver menschlicher Möglichkeiten verhindern.
F. s literarisches Schaffen wurde in Deutschland nur sehr langsam wahrgenommen. Zu einem regelrechten Fromm-Boom kam es erst mit seinem Buch To Have or to Be (1976; Haben oder Sein). F. stellt darin die idealtypische Unterscheidung seiner Charaktertheorie in die Gruppen der produktiven und nicht-produktiven Orientierungen dar als zwei letzte alternative Existenzbestimmungen des Menschen – Haben und Sein –, zwischen denen dieser sich entscheiden müsse. Im Rückgriff auf die Schriften des Alten und Neuen Testamentes und auf die Mystik Meister Eckharts erhebt F. die Forderung nach einer neuen »humanistischen Religiosität«, die in der Lage sein soll, die Selbstzerstörung des Menschen in der total technisierten Zivilisation zu verhindern. »Die neue Gesellschaft und der neue Mensch werden nur Wirklichkeit werden, wenn die alten Motivationen – Profit und Macht – durch neue ersetzt werden: Sein, Teilen, Verstehen; wenn der Marktcharakter durch den produktiven, liebesfähigen Charakter abgelöst wird und an die Stelle der kybernetischen Religion ein neuer, radikal-humanistischer Geist tritt.«
Für die einen ist F. ein »neo-freudianischer Revisionist« (Herbert Marcuse), für die anderen ein Visionär und »Prophet« (Rainer Funk). Von philosophischer Bedeutung ist sicherlich sein methodischer Ansatz einer Sozialanthropologie auf psychoanalytischer Grundlage. Allerdings durchziehen widersprüchliche Elemente sein Werk: Der nahezu hoffnungslosen Gesellschaftsdiagnose stehen allzu unvermittelt utopisch-visionäre Momente gegenüber. Das birgt die Gefahr, daß sein »normativer Humanismus« im Appellativen verharrt. Ungeachtet der begrifflichen Heterogenität seines Werkes aber ist F. nicht zuletzt in den Alternativ- und Friedensbewegungen Amerikas und Westeuropas als ein theoretischer Hoffnungsträger einer menschlicheren und friedfertigeren Welt wirksam geworden.
Bierhoff, Burkhard: Erich Fromm. Analytische Sozialpsychologie und visionäre Gesellschaftskritik. Opladen 1993. – Funk, Rainer: Erich Fromm. Hamburg 1983. – Reif, Adelbert (Hg.): Erich Fromm. Materialien zu seinem Werk. Wien/München/Zürich 1978.
Günther Fütterer
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