Metzler Philosophen-Lexikon: Horkheimer, Max
Geb. 14. 2. 1895 in Zuffenhausen bei
Stuttgart; gest. 7. 7. 1973 in Nürnberg
Als »Geburt der Kritischen Theorie aus dem nonkonformistischen Geist Schopenhauers« charakterisierte Alfred Schmidt, ein Schüler H.s, einmal frühe Texte seines Lehrers. Daß H. als Begründer und gewissermaßen Schulhaupt der neomarxistischen Kritischen Theorie oder Frankfurter Schule in seinem letzten Lebensabschnitt wieder entschieden zu Schopenhauer zurückfand, mag ein erster Hinweis sein auf das einheitliche geistige Spannungsfeld, in dem sich H.s vielschichtige Entwicklung vollzog. Sein konsequentes, lebenslanges Eintreten für eine bessere Gesellschaft, seine sensible und theoretisch geschulte Erfahrungsfähigkeit sowie sein unbeirrbarer Wille zur Wahrheit haben ihn vor Resignation und Anpassung ebenso geschützt wie vor dogmatischer Verhärtung.
Als H. 1930, gerade 35 Jahre alt, Leiter des »Instituts für Sozialforschung« wird, können sich endlich seine beiden widerstrebenden Lebenspläne glücklich verbinden. Von seinem Vater, dem wohl- habenden Textilfabrikanten Moritz Horkheimer, war ihm von klein auf die Rolle als unternehmerischer Nachfolger zugedacht. Doch so sehr die Erziehung im konservativ-jüdischen Elternhaus dieses Ziel verfolgt – H. wird nach dem »Einjährigen« als Lehrling in der väterlichen Firma eingestellt –, so sehr regen sich auch H.s Interessen an Literatur und Philosophie. Maßgeblichen Anteil daran hat der Freund Friedrich Pollock, mit dem er 1911 einen Vertrag schließt, der ihre tatsächlich lebenslange Freundschaft als »Ausdruck eines kritisch-humanen Elans« besiegelt. Während H. also auf der einen Seite 1914 zum Betriebsleiter der Firma aufsteigt, liest er andererseits Ibsen, Strindberg, Karl Kraus und Schopenhauer und schreibt davon beeinflußte pessimistisch-sozialkritische Novellen (Aus der Pubertät, 1974 zusammen mit Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit veröffentlicht). 1916, nach der Verbindung mit der Privatsekretärin seines Vaters, der wesentlich älteren Rose Riekher, spitzen sich die häuslichen Auseinandersetzungen zu. Er holt mit Pollock nach dem Ersten Weltkrieg in München das Abitur nach und beginnt dort mit dem Studium der Psychologie, Philosophie und Nationalökonomie, das er bald in Frankfurt am Main fortsetzt. H. wendet sich mehr und mehr der Philosophie zu und verabschiedet sich endgültig von der seitens des Vaters zugedachten Berufsperspektive. Wichtigster akademischer Lehrer H.s ist nun der Philosoph Hans Cornelius, Vertreter eines eigenwilligen Neukantianismus, bei dem er 1923 mit einer Arbeit über Kant promoviert. H. wird Assistent von Cornelius, bei dem zu dieser Zeit auch Adorno studiert, und habilitiert sich 1925 mit einer Arbeit über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. In den Jahren bis 1930 erfolgt der schon vorher angelegte Durchbruch H.s zu der von ihm begründeten Position der Kritischen Theorie. Schon nach dem Krieg hatte er angefangen, Marx zu lesen, und Kontakt zu radikalen Studentengruppen gefunden. Angesichts der Weimarer Verhältnisse wandelt sich H.s früher moralischer Rigorismus zusehends in eine konkreter begründete und theoretisch weiterführende gesellschaftskritische Haltung. Diesen Prozeß der eigenen Positionsfindung und Lösung von akademischer Fachphilosophie dokumentiert die Aphorismensammlung Dämmerung. Notizen in Deutschland aus den Jahren 1926–1931 (veröffentlicht 1934 unter dem Pseudonym Heinrich Regius).
Entscheidend aber wird H.s Aufstieg zum Leiter des der Universität angeschlossenen »Instituts für Sozialforschung«, welches seit 1924 in Frankfurt als marxistische Forschungsstätte unter Mitwirkung Friedrich Pollocks besteht, gestiftet von dem vermögenden Mäzen Hermann Weil auf Initiative seines Sohnes Felix. Nach der Emeritierung des ersten Institutsleiters Carl Grünberg, eines orthodoxen Marxisten, wird der gerade zum Professor für Sozialphilosophie berufene H. im Oktober 1930 Leiter des Instituts. In seiner Antrittsrede Anfang 1931 über Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung formuliert H. erstmals das für die nächsten Jahre gültige Programm einer »dialektischen« Vermittlung von einzelwissenschaftlicher Forschung und philosophischer Fragestellung im Interesse einer Ökonomie, Soziologie und Psychologie umfassenden Theorie der Gesellschaft. Dieses gegen Metaphysik und Positivismus gerichtete Programm interdisziplinärer Forschung, das zunächst den Titel »Materialismus« erhält, beruft sich kritisch ebenso auf Hegel wie auf Marx und findet sein zentrales Forum in der von H. gegründeten, 1932 erstmals erscheinenden Zeitschrift für Sozialforschung, welche die 1930 eingestellte Zeitschrift Carl Grünbergs ablöst. Während H., neben seiner quasi unternehmerisch-organisatorischen Leitertätigkeit, die philosophische Programmatik in Einzelstudien konkretisiert, sind z.B. Erich Fromm für Sozialpsychologie, für Literatursoziologie Leo Löwenthal, für Ökonomie Friedrich Pollock und für Philosophie und Faschismustheorie Herbert Marcuse (ab 1933) zuständig. Zu den wichtigen philosophischen Beiträgen H.s in den nächsten Jahren zählen Materialismus und Metaphysik (1933), Materialismus und Moral (1933) und Zum Problem der Wahrheit (1935). Der Verfolgung durch die Nationalsozialisten hatten sich H. und die meisten seiner Institutsmitglieder inzwischen durch Emigration entzogen. H. geht 1933 nach Genf, wo das Institut eine Zweigstelle errichtet hatte, und 1934 nach New York, wohin das Institut nun seine wissenschaftliche Zentrale verlegt. Während die interdisziplinäre Arbeit des Instituts in den 1936 veröffentlichten Studien über Autorität und Familie ihren produktiven Höhepunkt erlebt, legt H. mit dem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) den wohl bedeutendsten Versuch einer Klärung des eigenen Theorieprogramms vor. Mit der hier erstmals verwendeten Bezeichnung »Kritische Theorie« wird die Abgrenzung von der herrschenden, traditionellen Wissenschaftstheorie auf einen bündigen Nenner gebracht. Während die traditionelle, auf Descartes zurückgehende Theorie am Vorbild der Naturwissenschaften orientiert ist und auf logisch schlüssige Konstruktion und technische Zweckmäßigkeit angelegt ist, versucht Kritische Theorie, die Gegenstände in ihrer historischen und gesellschaftlichen Vermitteltheit zu erfassen. Ihr Modell ist die Marxsche Theorie, sie hat »die Veränderung des Ganzen zum Ziel«, geleitet »vom Interesse an vernünftigen Zuständen«, während traditionelle Theorie sich mit den Zielen der herrschenden Gesellschaft identifiziert. Die Kritische Theorie H.s hat allerdings im Gegensatz zu Marx das Vertrauen in die progressive historische Rolle des Proletariats verloren.
Ende der 30er Jahre beginnt die enge Institutskooperation mehr und mehr zu zerfallen, und im Jahr 1941 ziehen H. und einige seiner Mitarbeiter nach Los Angeles um. Dort will er endlich sein lange geplantes Buch über Dialektik schreiben. Zwischen 1942 und 1944 entsteht dieses Buch nun in engster Zusammenarbeit mit Adorno und erscheint 1947 unter dem Titel Dialektik der Aufklärung. In diesem Hauptwerk der Kritischen Theorie rechnen H. und Adorno mit der abendländischen Aufklärungsgeschichte in einer Weise ab, die in ihrer Negativität dem bisherigen Denken H.s weitgehend fremd war. Waren die Schriften der 30er Jahre noch von der verhalten optimistischen Hoffnung auf eine Kontinuität aufklärerischer und marxistischer Perspektiven bestimmt, so scheint H. nun, daß die »Entzauberung der Welt«, das Programm der Aufklärung, in ihr Gegenteil umschlägt. Aufklärung erliegt selbst dem mythischen Zwang völliger Naturbeherrschung und technischer Rationalität. Selbsterhaltung ist das durchgängige »Prinzip der blinden Herrschaft« in Natur und Gesellschaft, das sich schließlich in der Absolutsetzung technischer, instrumentell gewordener Rationalität verkörpert. Diese Fehlentwicklung der Aufklärung konkretisieren die Autoren u. a. an der aufgeklärten Moral (Kant, de Sade) und an der modernen Kulturindustrie. In enger Verbindung mit diesem Werk stehen Vorlesungen H. s. von 1944, die später unter dem Titel Kritik der instrumentellen Vernunft auf Deutsch veröffentlicht werden: »Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozeß der Entmenschlichung begleitet« – diese Entwicklung untersucht H. an dem modernen Begriff der Vernunft, der statt auf vernünftige Zwecke ausschließlich auf die effektivsten Mittel reflektiert. Die Kritik der modernen Vernunft hat bei H. also den Charakter einer Selbstkritik der Vernunft an ihren reduzierten Formen, ist also Vernunftkritik im Dienst der Vernunft.
Als H. 1950 nach Frankfurt zurückkehrt, um dort das »Institut für Sozialforschung« erneut aufzubauen und seine frühere Professur wieder zu übernehmen, werden als letzter großer Ertrag der Emigrationszeit die Studies in Prejudice von ihm herausgegeben, das Ergebnis jahrelanger interdisziplinärer Antisemitismusforschung. Die Schwerpunkte seiner Arbeit in Frankfurt liegen im organisatorischen und administrativen Bereich sowie in der Lehre: Abschluß der Wiedererrichtung des Instituts 1951, von 1951 bis 1953 Rektor der Universität und von 1954 bis 1959 Gastprofessor in Chicago. Nach seiner Emeritierung zieht sich H. ab 1960 nach Montagnola in der Schweiz zurück. Das philosophische Spätwerk H.s besteht im wesentlichen aus Gelegenheitsarbeiten und Notizen. Der »verwalteten Welt« und dem Verlust von Individualität und praktisch politischer Perspektive entgegnet H. mit einer pessimistischen Rückwendung auf Schopenhauer, der ihm seit seiner Jugend präsent war. Diese Aktualität Schopenhauers verbindet sich nun, nachdem der selbstbewußte Vernunftanspruch der Philosophie abgewirtschaftet hat, mit dem gleichsam theologischen Motiv einer »Sehnsucht nach dem ganz Anderen«, die aus dem Wissen um menschliches Leid und Endlichkeit entspringt. In ihr drückt sich die gefährdete Hoffnung eines möglichen Sinns des Weltgeschehens aus.
Insbesondere in Philosophie und Sozialforschung entfaltet H. seit Mitte der 70er Jahre eine zunehmende Wirkung, die einen vorläufigen Höhepunkt mit den Beiträgen zur Horkheimer-Konferenz erreicht, die zum 90jährigen Geburtstag H.s im September 1985 in Frankfurt am Main stattfindet. Die Beiträge decken das ganze Spektrum des Denkens H.s ab und bestätigen die Einschätzung, daß der Autor noch Zukunft hat, der mit den Worten Adornos »für die Verbindung kritischgeschichtsphilosophischen Denkens mit einer emphatisch dem Ganzen zugewandten Gesinnung« steht. Eine breite und solide Textbasis findet die Beschäftigung mit dem zum modernen Klassiker gewordenen H. mittlerweile aufgrund des Erscheinens seiner Gesammelten Schriften in 19 Bänden von 1985 bis 1996.
Wiggershaus, Rolf: Max Horkheimer zur Einführung. Hamburg 1998. – Schmidt, Alfred/Altwicker, Norbert (Hg.): Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung. Frankfurt am Main 1986.
Peter Christian Lang
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