Metzler Philosophen-Lexikon: Irigaray, Luce
Geb. 1930 in Blaton (Belgien)
I. s Forderung, die sexuelle Differenz zu denken, hat feministisches Philosophieren entscheidend beeinflußt. Während Simone de Beauvoir als Vordenkerin des Gleichheitsfeminismus gilt, hat I. den sog. Differenzfeminismus geprägt. Sich der Bedeutung der sexuellen Differenz zuzuwenden, wird durch die philosophische Tradition erschwert, die die Frage ständig verdeckt und beharrlich im Verborgenen hält. Den Horizont dieser Fragestellung zu öffnen, würde nach I. eine ungeahnte Produktivität zur Folge haben, die keineswegs auf die Reproduktion der Körper und des Fleisches reduziert bleiben müßte.
I. hat an der Universität in Löwen Philosophie studiert und bis 1959 in Brüssel unterrichtet. Im Anschluß daran ging sie zum Psychologiestudium nach Paris. Zu einer eigenständigen Art der Auseinandersetzung findet sie in Speculum de l autre femme (1974; Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, 1980), nach dessen Erscheinen sie aus der französischen psychoanalytischen Vereinigung École Freudienne ausgeschlossen wurde. I. engagierte sich in der Frauenbewegung und fand zunächst dort ein Auditorium. Sie wurde zu Seminaren und Vorlesungen in ganz Europa eingeladen. Später übernahm sie eine Stelle am CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique) in Paris. Wie viele andere feministische Arbeiten hat auch Speculum wichtige Impulse durch die Psychoanalyse erhalten. I. zufolge ist es in der Philosophie bislang nicht gelungen, zwei eigenständige, nicht aufeinander reduzierbare Geschlechter zu konzipieren. Der Frau als das »Andere des Gleichen« kommt die Aufgabe zu, als Spiegel des Männlichen zu dienen.
Besonders offensichtlich wird das Fehlen eines Konzepts eigenständiger Weiblichkeit in Sigmund Freuds Aussagen über die Entstehung sexueller Identität, die strikt am männlichen Modell orientiert sind. Schwierigkeiten, die Entwicklung weiblicher Identität zu begründen, sind damit vorprogrammiert. Philosophische und feministische Bedeutung erlangt I.s Analyse dadurch, daß sie Freuds Thesen nicht als zufälligenˆ Irrtum des Autors auffaßt, sondern als notwendige Folge aus der Geschlechterordnung der westlich abendländischen Tradition. Deren bislang unausgesprochene Voraussetzungen werden von Freud erstmals benannt. Im Mittelteil von Speculum zeigt I. anhand einiger Beispiele auf, in welchem Maße bisherige Theorien des Subjekts dem Männlichenˆ entsprechen. Für Frauen bedeutet dies den Einschluß in männliche Phantasmen und den Verzicht auf die Besonderheit ihrer Beziehung zum Imaginären.
Im Verlauf der Auseinandersetzung mit Platons Philosophie entdeckt I. die Urszene eines Denkens, das seine weibliche Herkunft (Geburt) und seine irdisch-materielle Gebundenheit leugnet. Ihre kreativen Versuche, die (männliche) Logik des Diskurses zu verwirren, zielen nicht gegen die Gesetze der philosophischen Logik oder der Mathematik. Vielmehr soll mit ungewöhnlichen argumentativen und stilistischen Mitteln die Einseitigkeit des traditionell vom Mann ausgehenden Denkens aufgezeigt werden. I. versteht Speculum als ein Buch ohne Anfang und Ende. Ihre Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition ist keine Analyse im herkömmlichen Sinne, sondern der Versuch, durch Kommentare, Paraphrasen, spielerisches Wiederholen und Karikaturen Textordnungen und Textstrukturen aufzubrechen.
Ausgehend von der weiblichen Anatomie versucht I., Bilder für eine kulturelle Interpretation von Weiblichkeit zu finden. So entwickelt sie in Ce sexe qui n en est pas un (1977; Das Geschlecht, das nicht eins ist, 1979) weibliche Vielfalt entlang des Bildes der Zweiheit der Schamlippen. Damit gelingt ihr ein weiblicher Gegenentwurf zum in der Lacanschen Theorie allgegenwärtigen Phallus. Weiblichkeit soll jedoch nicht auf körperliche Merkmale reduziert werden, sondern aus weiblicher Perspektive und auf das Erleben von Frauen bezogen, kulturell produziert und interpretiert werden. Die Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition führen Werke wie Amante marine. De Friedrich Nietzsche (1980), L Oublie de l air. Chez Martin Heidegger (1983), und Éthique de la différence sexuelle (1984; Die Ethik der Sexuellen Differenz, 1991) weiter. Ein Teil ihrer Arbeiten konzentriert sich mit dem Versuch, eine Ethik des Paares zu entwickeln, auf die Beziehung zwischen Mann und Frau. Während in Speculum der Gebrauch von »hommosexualité« durch die Schreibweise mit zwei mˆ verdeutlicht, daß aufgrund des männlichen Maßes – des »Eichmaß des Phallus« – nicht von wirklichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen die Rede sein kann, versucht I. in späteren Werken den kulturellen Reichtum menschlicher Beziehungen und erotisch-sexueller Begegnungen philosophisch zu erfassen. Weibliche Subjektivität als Voraussetzung, Partnerin in vielfältigen Beziehungen mit anderen Menschen zu sein, ist keine Privatangelegenheit. Die bewußte Gestaltung von Beziehungen zwischen Frauen ist notwendig und geht weit über eine Nachahmung männlicher Organisationen und Netzwerke hinaus. Die Mutter/Kind-(Tochter-)Beziehung wird in ihrer kulturellen Tragweite diskutiert und in einen mythologisch-religiösen Rahmen gestellt. I.s Interesse an weiblicher Genealogie soll den Muttermord, den sie am Anfang der Gesellschaft konstatiert, rückgängig machen; so etwa in Sexes et parentés (1987; Genealogie der Geschlechter, 1989). Diese Betrachtungsweise ist zu verknüpfen mit einer juristisch-politischen Umsetzung und dem entsprechenden ökonomischen Rahmen. Neuere Publikationen I.s verweisen auf eine praktische Wendung innerhalb einer »Kultur der Differenz«. Die religiöse Dimension von Weiblichkeit führt sie in Richtung weibliche Spiritualität.
Lange Zeit stand für I. die Bedeutung des Elements des Wassers, des Mukösen, des sich Vermischens von Flüssigkeiten im Vordergrund. In ihren neueren Arbeiten ist es der Atem und mit ihm das Element der Luft, so in Le souffle des femmes. Luce Irigaray présente des credos au féminin (1996; Der Atem von Frauen. Luce Irigaray präsentiert weibliche Credos, 1997) oder in Le temps du souffle (1999). I. betont die Verbindung von Innen und Außen, die der Atem herstellt. Die »Suche nach spirituellen Müttern und Schwestern« ist dabei ebenso wichtig wie die Suche nach neuen Formen der Kommunikation. Formulierungen wie bereits der Titel J aime à toi (1992) sollen die Verobjektivierung des Gegenübers vermeiden. Der Gebrauch des Verbs liebenˆ, das ein direktes Objekt verlangt, wird verändert und betont nun stärker die Bewegung des Liebens selbst. A deux, nous avons combien d yeux? (2000; Zu zweit, wie viele Augen haben wir?) ist in einer viersprachige Ausgabe erschienen. Der meditativ wirkende Text, der die Vielfalt weiblicher Perspektiven zum Thema hat, darf als Beitrag zur Diskussion um das umstrittene feministische Wirˆ gelten und ist gleichzeitig Teil einer spirituellen Praxis. Die Erneuerung des Verhältnisses von Natur und Geist, die neue Balance zwischen mikro- und makrokosmische Rhythmen, die I. beschreibt, zeigen das Ausmaß der Rettung, die das Denken der Geschlechterdifferenz bringen soll. I. appelliert an die Verantwortung für eine bessere Zukunft.
Chanter, Tina: Ethics of Eros. Irigaray’s Rewriting of the Philosophers. New York 1995. – Kroker, Britta: Sexuelle Differenz. Einführung in ein feministisches Theorem. Pfaffenweiler 1994. – Whitford, Margaret: Luce Irigaray: Philosophy in the Feminine. London/New York 1991.
Bettina Schmitz
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