Metzler Philosophen-Lexikon: Toynbee, Arnold Joseph
Geb. 14. 4. 1889 in London;
gest. 22. 10. 1975 in York
T. ist mit seinem Hauptwerk A Study of History (Der Gang der Weltgeschichte), entstanden in zwölf Bänden von 1934 bis 1961, als der Universalhistoriker par excellence des 20. Jahrhunderts ins Bewußtsein der Öffentlichkeit eingegangen. Die herausragende Leistung T.s besteht darin, daß er die Historiographie zur Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie ausgeweitet hat. Seine akademische Karriere begann 1919, als er in London einen Lehrauftrag für Byzantinistik und neugriechische Sprache, Literatur und Geschichte erhielt; von 1925 bis 1956 hatte er dort eine Professur für internationale Geschichte inne und war gleichzeitig Direktor des »Royal Institute of International Affairs«. Einen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit machte zeitlebens das antike Gesellschafts- und Geschichtsverständnis aus (Greek Civilization and Character, 1924; Greek Historical Thought, 1924; Hellenism. The History of a Civilization, 1959). Während der langen Entstehungszeit von A Study of History beschäftigte er sich auch in anderen Werken mit zivilisationsgeschichtlichen Problemen (u.a. Christianity and Civilization, 1946; Civilization on Trial, 1948 – Die Kultur am Scheideweg). T., der nach den beiden Weltkriegen zweimal (1919 und 1946) an Friedenskonferenzen teilnahm, um das britische Außenministerium zu beraten, war sich im höchsten Maß der zeitgenössischen, seiner Ansicht nach in den entscheidenden, d.h. für alle Menschen vitalen Bereichen, destruktiven Entwicklungen bewußt. Bis in die 70er Jahre beschrieb er warnend in einigen Büchern (u. a. The World and the West, 1953; The Present-Day Experiment in Western Civilization, 1961 – Die Zukunft des Westens; Surviving the Future, 1971 – Die Zukunft überleben) die Diskrepanz zwischen dem rasanten technologischindustriellen Fortschritt und dem moralischen Selbstverständnis der Menschheit, das sich auf die lebensbedrohlichen globalen Gefahren (Atomwaffen, neue Dimension der Kriegsführung) nicht angemessen einstellt. Der daraus notwendig entstehenden moralischen Rückentwicklung hält T. sein christlich-humanistisches Ethos entgegen, für ihn Handlungsgrundlage und Verpflichtung, die westliche Welt aus ihrer existentiellen Krise herauszuführen.
Sein geschichtsphilosophisches Verständnis menschlicher Zivilisation entfaltet sich in A Study of History überaus komplex. T.s Werk ist der Versuch, die Geschichte der Menschheit auf einen Nenner zu bringen, Geschichte als einen universalen Sinnzusammenhang zu interpretieren. Aufgrund umfassender geschichtlicher und praktisch politischer Kenntnisse und unter Berücksichtigung anthropologischer und ethnologischer Ergebnisse sucht T., die treibenden Kräfte der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit aufzudecken. Durch das Studium aller jemals bestehenden Zivilisationen möchte er die Gesetze herausfinden, die ihren Aufstieg und Untergang bestimmen und auf diese Weise auch die Zukunftsaussichten der Zivilisation feststellen.
T. ist Anhänger der Lebensphilosophie Henri Bergsons. Für diesen wirkt eine geistige Kraft, ein »élan vital«, im Universum und erhält es nicht nur in seinem Zustand, sondern treibt seine Entwicklung voran. In der Methode ist T.s Werk ähnlich wie Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes eine vergleichende Kulturmorphologie. Seiner Geschichtsanschauung liegen zwei Leitgedanken zugrunde. Das Gesetz von Herausforderung und Antwort (»challenge and response«) steuert die historischen Abläufe; die kleinste Einheit für das Begreifen der Geschichte ist nicht der Nationalstaat, sondern der Kulturkreis. T. ist wie Spengler der Überzeugung, daß die Träger der Geschichte nicht Völker, Nationen, Staaten sind, sondern die übergreifenden Kulturkreise. Aus dem gesamten Geschichtsstoff läßt sich eine Anzahl deutlich voneinander unterschiedener Kulturen herausdestillieren, deren Abläufe man miteinander vergleichen kann; so lassen sich Rückschlüsse allgemeiner Art auf die Ursachen von Enstehung, Wachstum, Niedergang und Auflösung der Kulturen gewinnen.
Seine Geschichtsbetrachtung entfaltet T. also wie Spengler als Kulturvergleich. Während aber Spengler den Ablauf der Kulturen sich zwangsläufig in einer Art biologischem Determinismus vollziehen sieht, läßt T. dagegen der menschlichen Gestaltungsfreiheit einen Spielraum. Sowohl der Zyklentheorie wie dem Evolutionsgedanken nimmt er den deterministischen Charakter, den sie bei Spengler und Herbert George Wells mit sich führen. Träger der Geschichte ist nicht ein überindividueller, sei es ein zyklischer oder linearprogressiver Vorgang, sondern immer und ausschließlich der Mensch selbst als freier, schöpferischer, sich entscheidender Wille. Daher gibt es für T. auch keine sicheren Zukunftsprognosen. Der englische Historiker erklärt mit Nachdruck, »daß man auf dem Gebiet unserer Untersuchungen nicht zwangsläufig annehmen könne, daß dieselben Ursachen auch dieselben Wirkungen erzeugen«.
Unter Kulturen im Sinne T.s sind »Hochkulturen« zu verstehen. Jede Hochkultur ist die gemeinsame Erfahrung einer Menschengruppe, ist der Versuch, das Leben auf eine höhere Ebene zu führen. Dies ist ein schöpferischer Akt, der eine qualitative Veränderung der betreffenden Gesellschaft herbeiführt. So erscheint im Zuge der Entwicklung neben dem primitiven Menschen der Kulturmensch. Diese umwälzende Veränderung kann man nur erklären durch das Gesetz von Herausforderung und Antwort. T. glaubt feststellen zu können, daß der für die Entstehung der ersten Kulturen wirksame Anreiz von einer natürlichen Umgebung ausging, die nicht besonders günstige Lebensbedingungen anbot, sondern im Gegenteil eher eine Herausforderung für den Menschen bedeutete. Alle Kulturen der zweiten und dritten Generation sind durch Adoption oder Abstammung entstanden. Hier ist es die menschliche Umgebung, die innere und äußere Spannung einer sich auflösenden Gesellschaft, von der die Impulse ausgehen, den Problemen mit neuen schöpferischen Lösungen beizukommen. Wachstum realisiert sich in einer Kette erfolgreicher Antworten auf Herausforderungen, Anrufen und Aufgaben, die sich in steigendem Maße die Gesellschaft selbst stellt, so daß sich das Aktionsfeld von der Umwelt in das Innere des Sozialkörpers verlegt. Im Falle der westlichen Kultur ist dieser schöpferische Akt die Entstehung der Kirche. Deutlich wird, daß T. seine Begriffe aus der christlichen Anthropologie gewinnt. Der Mensch als Geforderter, für den es keine neutrale Situation gibt: Aus jeder Situation hört er den Anruf heraus, jede Situation birgt in sich die Möglichkeit des Versagens und der Bewährung.
Wenn Wachstum in einer Kette schöpferischer Antworten auf sich immer neu ergebende und zunehmend selbstgestellte Daseinsforderungen besteht, so ergibt sich der Niedergang aus einem Nachlassen dieser schöpferischen Potenz. T. weist alle deterministischen Erklärungsversuche zurück, die die Kulturen einem biologischen oder kosmischen Geschick unterworfen sehen; Kulturen gehen an ihrem eigenen Versagen zugrunde, nicht an Schicksalsschlägen oder Katastrophen, die über sie hereinbrechen.
Ging T. in den ersten Bänden seiner Study of History noch von einer philosophischen Gleichwertigkeit der Kulturen aus, so ändert er im fünften Band diese Annahme durch die Einführung eines qualitativen Prinzips, das sich in den höheren Religionen verkörpert. Als Vertreter einer höheren Art von Gesellschaften stehen diese Religionen in dem selben Verhältnis zu den Kulturen wie jene zu den primitiven Gesellschaften. T. gibt damit seine Vorstellung der zyklisch ablaufenden Geschichte auf und konstatiert stattdessen eine progressive Reihe von Weltstufen, die von den primitiven Gesellschaften über die primären und sekundären Kulturen zu den höheren Religionen aufsteigen, in denen die Geschichte ihr Endziel erreicht. Nach seinen eigenen Worten kommt das Studium der Geschichte zu »einem Punkt, wo die Zivilisation ihrerseits wie die Kleinstaaten der modernen abendländischen Welt zu Beginn unserer Untersuchung nicht sehr deutlich faßbare Studiengebiete für uns sind und ihre historische Bedeutung verloren haben, außer insofern sie dem Fortschritt der Religion dienen«. Beim Studium der Universalgeschichte ist der Religionsgeschichte der Vorrang einzuräumen: »Denn Religion ist schließlich die Aufgabe des Menschengeschlechts«, weil »Erlösung die wahre Bestimmung und der wahre Sinn des Erdenlebens ist«. Für T. erfüllt die Kultur eine dienende Funktion, indem sie dazu beiträgt, eine stets tiefere religiöse Einsicht zu wecken, mit dem Ziel, eine einzige, reife, höhere Religion hervorzubringen.
Die zyklischen Bewegungen, durch welche die Kulturen entstehen und untergehen, bilden nicht die gesamte Geschichte. Sie sind einem höheren Prinzip geistiger Universalität untergeordnet, das durch die Weltreligionen dargestellt wird. So erhält die Geschichte von neuem den Charakter eines Fortschrittes und Zweckes und wird ein geistiger Evolutionsprozeß, wie Hegel und die anderen idealistischen Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts sie aufgefaßt haben.
T.s Studie zur Weltgeschichte, seine Interpretation des kulturmorphologisch geordneten, universalhistorischen Materials, nimmt Kategorien zu Hilfe, die aus dem christlichen Verständnis der menschlichen Existenz gewonnen sind. Seine Leistung besteht darin, Wells und Spengler kombiniert zu haben, indem er beide in einem wichtigen Punkt, in ihren Aussagen über den Menschen, korrigierte. Beide hatten ihre Vorstellung des Menschen an der Natur orientiert, Wells am Gedanken der Evolution, Spengler am Gedanken eines starren zyklischen Geschichtsablaufs. T. gewinnt für sein Geschichtsbild die Dimension des Metaphysischen zurück. In der Spannung zwischen Natur und Übernatur liegt die Welt der Freiheit, die Geschichte. Macht T. die christliche Anthropologie zur Prämisse seiner Geschichtsdeutung, so steht und fällt mit deren Annahme oder Ablehnung auch T.s Werk.
Hablützel, Peter: Bürgerliches Krisenbewußtsein und historische Perspektive. Zur Dialektik von Geschichtsbild und politischer Erfahrung bei Arnold Joseph Toynbee. Zürich 1980. – Henningsen, Manfred: Menschheit und Geschichte. Untersuchungen zu Arnold Joseph Toynbees A Study of History. München 1967.
Martina Lunau
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