Metzler Lexikon Philosophie: Dekonstruktion
spezifische Art, Texte zu lesen, die verdeutlicht, dass es einen grundsätzlichen Widerstreit gibt zwischen dem, was ein Autor mit einem Text meint, und dem, was der Text selbst kundgibt. Entwickelt und dargelegt hat diesen Gedanken, in Anlehnung an Heideggers Programm einer Destruktion der Metaphysik, Jacques Derrida. D. bezieht sich, wie bei Heideggers »Destruktion«, auf Metaphysik, wobei Derrida Metaphysik mit Präsenzdenken gleichsetzt. Die D. leistet Derrida vor allem an Texten, die selbst den Anspruch haben, mit alten metaphysischen Traditionen zu brechen. Er arbeitet sich z.B. in Texte von Austin, Hegel, Husserl, Rousseau und Saussure ein, und zeigt dann jeweils auf, wie sie gegen die Metaphysik vorgehen und an welchen Stellen sie doch nicht mit diesen Traditionen brechen können. Aber Derrida geht es nicht nur um das Herausarbeiten metaphysischer Implikationen in vorhandenen Theorien, sondern um ein Infragestellen des üblichen Modells von Wissenschaft überhaupt. Jede wissenschaftliche Theorie muss ihren Gegenstand bestimmen. Der Geltungsbereich der getroffenen Aussagen muss festgelegt werden. Derrida behauptet, dass diese Bedingung für Wissenschaftlichkeit, nämlich die Ausgrenzung, der Ort ist, wo sich metaphysische Traditionen, die man eigentlich ablegen wollte, wieder einnisten. Saussure und Rousseau schlossen z.B. die Schrift, als abgeleitete Form der Sprache, aus ihren Theorien aus. Bei Austin sind es die sogenannten parasitären Sprechakte. An den Stellen der Ausgrenzung, d.h. an den »Rändern« der jeweiligen Theorien entstehen so Oppositionen, die typisch sind für die metaphysische Tradition. Diesen Dichotomien (bei Saussure z.B.: gesprochene Sprache – Schriftsprache) und den theorie-immanenten Oppositionen (bei Saussure z.B.: Signifikat – Signifikant, langue – parole) liegt laut Derrida eine gemeinsame »Struktur« zugrunde, die nicht mehr bestimmt ist durch Einheiten, im Sinne von Zeichen, deren Wert sich negativ differentiell bestimmt, wie bei Saussure. Derrida fasst Differenz nicht mehr präsenzphilosophisch, sondern verzeitlicht sie und bezeichnet sie mit dem Neologismus »differance«. So hält er nicht mehr an einem Identischen fest, das in der Präsenzphilosophie angenommen werden muss, um zwei Zeichen voneinander unterscheiden zu können. Diese Philosophie des Nicht-Identischen hat Ähnlichkeit zur Philosophie Adornos. – Ein anderer Zugang zur Philosophie der D. geht über die traditionelle Bestimmung von Schrift. Und zwar funktioniert Schrift laut Derrida: (1) in Abwesenheit des Empfängers, (2) in Abwesenheit des Senders und (3) in Abwesenheit eines Wissens über den Kontext der Herstellung der Schrift. Derrida will deutlich machen, dass diese drei Formen der Abwesenheit, die traditionell den Begriff der Schrift bestimmen, für alle Zeichensysteme gelten. Diese drei Punkte laufen darauf hinaus, dass als Grundstruktur von Schrift, und damit als Grundstruktur aller Zeichensysteme, die Wiederholbarkeit (Iterabilität) von Zeichen übrigbleibt. Da aber die dritte Form der Abwesenheit die Möglichkeit der Schrift, sich von Bedeutungen zu lösen, ist, kann sich Iterabilität nicht mehr auf Zeichen im Sinne von Saussure beziehen. Und in der Tat geht es Derrida nicht um Zeichen, verstanden als Einheit von Signifikat und Signifikant, sondern um »Zeichen« im Sinne von Markierung oder Spur. Er nennt sie »marques« und bewegt sich so im Feld des Vorpräsenten. – Über die D. philosophischer Texte hinaus hat Derridas Denken heute vor allem Einfluss auf die Literatur- und Architekturtheorie.
Literatur:
- J. Culler: Dekonstruktion. Reinbek 1988
- J. Derrida: Grammatologie. Frankfurt 1974
- Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt 1976
- Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988
- Ders.: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt 1979.
TF
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