Metzler Lexikon Philosophie: Geschichte
sowohl das Geschehene (res gestae) wie dessen literarische Darstellung (historia rerum gestarum). Bereits in der Antike entwickelt sich neben dem weiten Verständnis von G., wonach jede Form empirischer Erkenntnis historia genannt werden kann, ein spezifischer Geschichtsbegriff, der die historische Analyse sozialer, politischer und kultureller Kontexte menschlichen Handelns umfasst. So charakterisiert Herodot sein Geschichtswerk als die »Darlegung von Forschungen, die den Zweck haben, daß mit der verstreichenden Zeit nicht in Vergessenheit gerät, was unter Menschen einst geschehen ist«. Seit dem 8. Jh. tritt im Dt. zum lat. Lehnwort »historie« das aus ahd. »giskehan« (geschehen, sich ereignen) abgeleitete »Gisciht«. Als Übersetzung von lat. »casus« steht »Gisciht« zunächst nur für singuläre Ereignisse und erst später für Ereignisabfolgen; in der Bedeutung von »Erzählung«, »Bericht über Geschehenes« wird es dann auch als Synonym für »Historie« gebräuchlich. Mit der im 18. Jh. programmatisch vollzogenen Ablösung der bis dahin üblichen Pluralbildungen »G.n« oder »Historien« durch den Kollektivsingular »die G.«, der die systematische Einheit der G. als eines »universalen Wirkungszusammenhangs in seiner jeweiligen Einmaligkeit« (Koselleck) akzentuiert, verliert das auf den Bericht exemplarischer Ereignisse eingeschränkte »Historie« zunehmend an Gewicht. Der Äquivokation des Ausdrucks »G.« entsprechend besitzt Geschichtsphilosophie den zweifachen Sinn einer Reflexion auf die allgemeinen Faktoren, Strukturen oder Ziele historischer Prozesse und der Theorie über Methode und Funktion der Geschichtsschreibung. In der antiken Philosophie bleibt die Interpretation historischer Prozesse weithin an zyklischen Modellen orientiert, die die Kontingenz geschichtlicher Ereignisse durch Integration in allgemeine Gesetzmäßigkeiten überwinden sollen und damit G. erst zum Gegenstand rationaler Erkenntnis machen. Unter der Prämisse dieses Kontrasts zwischen Kontingenz und Gesetzmäßigkeit ordnet Aristoteles die Dichtung der G. vor, weil sie stärker als diese das Allgemeine und Typische menschlichen Handelns betone. Heilsgeschichtliche und eschatologische Motive der jüdischchristlichen Religion bedeuten demgegenüber eine fundamentale Aufwertung der G. Sie verbinden sich von Beginn an mit apologetischen Intentionen, durch die es zur Ausbildung universalgeschichtlicher, Profan- und Heilsgeschichte vermittelnder Konzepte kommt (Euseb). Augustin begreift die G. ausdrücklich als pädagogisches Interim zwischen Weltschöpfung und Gericht, in dem der Dualismus von irdischem und göttlichem Reich letztlich im Dienste der »eruditio recta« des Menschengeschlechts stehe.
Augustins Kritik der antiken Kreislauftheorien, seine Betonung der Teleologie und der Erziehungsgedanke finden über die Säkularisierung Eingang in das neuzeitliche Geschichtsdenken, das sich trotz gegenläufiger Tendenzen (Vico, Leibniz) zunehmend von theologischen Prämissen emanzipiert. Bei Voltaire wird die Absage an die Autorität der Kirche zum ersten Mal im Namen einer unparteiischen, ausschließlich auf natürliche Ursachen rekurrierenden »Philosophie der G.« formuliert. Charakteristisch für das Geschichtsverständnis der Aufklärung ist dabei nicht nur der Glaube an die Perfektibilität der menschlichen Gattung, der seinen Ausdruck in den Fortschrittstheorien der Enzyklopädisten (Condorcet) findet, sondern ebensosehr die Interpretation der G. in rechtlichen Kategorien. Kant, der die Frz. Revolution als ein nachdrückliches »Geschichtszeichen« für ein »Fortschreiten des menschlichen Geschlechts zum Besseren« gewertet wissen will, definiert in diesem Sinne die Etablierung einer »vollkommenen Staatsverfassung« als Ziel der »allgemeinen Weltgeschichte«. Die schon bei Kant unterschwellig wirksame Rehabilitierung theodizistischer Motive der G. als »Rechtfertigung der Vorsehung« verdichtet sich in Hegels Geschichtsphilosophie zur »Aussöhnung« mit der »Masse des konkreten Übels« der G. durch die »Erkenntnis des Affirmativen« in ihr: Die Weltgeschichte ist zugleich das Weltgericht, das die Partikularität von Einzelinteressen am Prinzip einer übergeordneten Vernunft misst, die den geschichtlichen Progress als »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« verstehen lässt. Gegen den von Hegel als bereits realisiert unterstellten Endzweck der G. relativieren Marx und Engels »alle bisherige G.« als eine »G. von Klassenkämpfen« zur »Vor-G.« des »Reichs der Freiheit«, in dem durch die proletarische Revolution allererst der Antagonismus der Klassen überwunden sein wird. Unberührt von der antiidealistischen Wende zur materialistischen Theorie der G. bleibt aber auch im Marxismus der exponierte Rang der G.: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft von der G.«
Dieser Auszeichnung der G. opponiert vehement der Kulturpessimismus des ausgehenden 19. Jh. Der wissenschaftliche Status der G. wird in dem Maße prekär, in dem die Fokussierung auf die Irrationalität historischer Prozesse die G. nurmehr als »Sinngebung des Sinnlosen« (Th. Lessing) erscheinen lässt. Die mit dem Legitimitätsverlust teleologischer Geschichtskonzeptionen zusammenhängende Konjunktur von Anthropologie und Lebensphilosophie kulminiert bei Nietzsche im Primat des Lebens vor der Historie, deren »pathologischer« Objektivitätsanspruch die ursprünglich wertschöpferische Potenz des Lebens neutralisiere und den »Willen zur Macht« als das eigentliche »Urfaktum aller G.« verdecke. Im Kontrast zu Nietzsches »Depotenzierung der geschichtlichen Vernunft« (Marquard) vollzieht sich in der Hermeneutik (Dilthey) und im Neukantianismus (Windelband, Rickert) eine Rückbesinnung auf die Bedingungen der Möglichkeit von G. als Wissenschaft. Nachdem die dabei in Anspruch genommene methodische Differenz zwischen Kultur- und Naturwissenschaften durch neuere Entwicklungen der Wissenschaftstheorie (Popper) und der analytischen Philosophie (v.Wright) weitestgehend relativiert erscheint, dominieren in der zeitgenössischen Diskussion unterschiedlich gelagerte Versuche, durch Begriffe des »Verstricktseins« in G.n (Schapp), der Horizontverschmelzung (Gadamer) oder der Erzählung (Danto) die Bedeutsamkeit von G. jenseits methodologisch fixierbarer Kriterien aufzuzeigen.
Literatur:
- H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt 21974
- R. Bubner: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie. Frankfurt 1984
- A. C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1974
- P. Gardiner (Hg.): Theories of History. New York 91969
- R. Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 21992
- R. Koselleck/W. D. Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973
- K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart u.a. 61973
- O. Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt 1973
- M. Meyer: Ende der Geschichte? München 1993.
DK
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