Metzler Lexikon Philosophie: Leben
Der biologische Lebensbegriff verzichtet auf eine problematische Definition und beschreibt stattdessen Eigenschaften des Lebendigen. Als notwendig gelten das Vorhandensein von Stoffwechsel, die Fähigkeit zur Reproduktion und Mutation. Lebewesen sind durch die ihnen zugehörige körperliche Grenze individualisiert und von ihrer Umwelt abgesetzt, mit der sie aber als offenes System im Austausch stehen. Naturwissenschaftlich zeigt sich keine prinzipielle Grenze zwischen Lebendigem und Unbelebtem, wie etwa das Vorhandensein von Übergangsformen (Viren) und die Theorie der Entstehung des Lebendigen aus anorganischen Strukturen (Miller’scher Versuch) entsprechend M. Eigens »Hyperzyklus« zeigt. Die Entwicklung des L.s von seinen einfachen Anfängen zu vielfältigen Formen und steigender Komplexität ist Gegenstand der Evolutionstheorie. Eine physikalische Besonderheit des L.s ist die Eigenschaft, seine eigene Ordnung durch beständige Energieaufnahme aufrechtzuerhalten unter Erhöhung der Entropie seiner Umgebung.
Die antike philosophische Tradition identifiziert L. mit der Fähigkeit zur Selbstbewegung. Als Prinzip des L.s gilt die Seele, so dass sich die Bestimmungen von Seele mit denen von L. überschneiden. Die Seele ist die sich im Körper verwirklichende und so das individuelle Selbstsein eines Belebten hervorbringende Form. Innerhalb des Lebendigen setzt Aristoteles als hierarchisches Ordnungsschema die Merkmale von vegetativem (Pflanzen), sensitivem (Tiere) und geistigem (Menschen) Seelenvermögen an. Der Gedanke von Aufbaustufen des Lebendigen mit jeweils neuen Eigenschaften, aus dem sich eine ontologische Trennung der jeweiligen Lebensformen ergibt, findet sich bis in die Neuzeit und ist etwa in N. Hartmanns Schichtenlehre ausgeprägt. Für den Begriff des L.s lassen sich so zum einen die eingangs genannten Minimaleigenschaften alles Lebendigen angeben, zum anderen jeweils bestimmte Eigenschaften, die dem jeweiligen höheren Organisationsgrad von Organismen entsprechen. – Für die neuzeitliche Tradition ist der Widerstreit von mechanistischen und vitalistischen Positionen kennzeichnend. Nach mechanistischer Anschauung ist L. aus den materiellen Prozessen immanenten Gesetzlichkeiten vollständig erklärbar. Demgegenüber behauptet der Vitalismus eine dem Anorganischen gegenüber unabhängige Teleologie des Lebendigen. – Innerhalb der Lebensphilosophie fungiert L. als metaphysisches Prinzip, aus dessen Dynamik die unterschiedlichen Seinsformen entstehen (Bergson) oder auch als hermeneutischer Bezugspunkt des Verstehens der aus dem geistigen L. hervorgegangenen Kulturleistungen (Dilthey).
Dem objektiven Zugang zum Begriff des L.s steht die innere Selbsterfahrung des Lebendigen gegenüber. Zumindest für den Menschen ist L. sich selbst bewusst und legt sich von dieser Erfahrung her aus. Alles, was der Mensch so an sich selbst im Fühlen, Denken und Handeln erfährt, sind Eigenschaften seines L.s. Bestimmungen, die das jeweilige spezifische Selbstverständnis des Menschen betreffen, gehören daher eher zum Begriffsfeld von Mensch (Anthropologie).
Die Unantastbarkeit und Würde menschlichen L.s sind grundlegende normative Kriterien und schlagen sich in der Festlegung der Menschenrechte nieder. L. wird als Zweck in sich betrachtet und ist daher der beliebigen Verfügungsgewalt entzogen. Als normbestimmend werden auch grundlegende Entfaltungsbedingungen menschlichen L.s, wie Freiheit, Bildung, Sinnerfüllung, begriffen. Die Achtung des L.s bezieht sich in der Ethik traditionellerweise auf den Menschen, während die Ehrfurcht vor dem L. überhaupt erst in Ansätzen in die ethische Theoriebildung und tatsächliche Praxis eingedrungen ist (Bioethik, Tierethik). Das hierarchische Verständnis des L.s schlägt sich so auch in der Ethik nieder, mit der Vorrangstellung der menschlichen Interessenverwirklichung. – Eine definitorische Klärung von Anfang und Ende menschlichen L.s, mit der damit verbundenen Bestimmung seiner wesentlichen Eigenschaften, bilden ein grundlegendes Problem der Tmedizinischen Ethik.
Literatur:
- Aristoteles: De anima
- T. Ballauff: Die Wissenschaft vom Leben. Bd. 1. Freiburg/München 1954
- H. Driesch: Philosophie des Organischen. Leipzig 41928
- N. Hartmann: Philosophie der Natur. Berlin 21980
- F. Jacob: Die Logik des Lebendigen. Frankfurt 1972
- H. Jonas: Organismus und Freiheit. Göttingen 1973
- E. Mayr: Evolution und die Vielfalt des Lebens. Berlin 1979
- H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (Gesammelte Schriften. Bd. IV) Frankfurt 1981
- A. Portmann: Vom Lebendigen. Frankfurt 1973
- J. v. Uexküll: Das allmächtige Leben. Hamburg 1950
- E. Ungerer: Die Wissenschaft vom Leben. Bd. 3. Freiburg/München 1966.
FPB
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