Metzler Lexikon Philosophie: Theosophie
(griech. Gottesweisheit), bezeichnet zunächst allgemein eine Form der Hermeneutik, v.a. im Bezug auf schriftliche Offenbarungen, Prophezeiungen, Gründungsmythen und Visionen. Gegenstand sind göttliche und universelle Mysterien, die es zu untersuchen gilt; dabei sollen Erfahrung und Betrachtung des Symbols beim Theosophen eine tiefe, innere Transformation bewirken. Unter Th. werden heute oft fälschlich lediglich Institution und Lehre der 1875 gegründeten »Theosophical Society« verstanden. Im 16. Jh. bezeichnet Th. zunächst eine, auf der Basis der alchimistischen Naturphilosophie des Paracelsus entstandene esoterische Strömung, die v.a. mit Jacob Böhme, ferner den Rosenkreuzern in Verbindung zu setzen ist. In der Th. Böhmes wird die mittelalterliche, statische Gottessicht zu einem Sinnbild für den Kampf von Gegensätzen verändert. Dem Sein vorangestellt ist der sog. Ungrund. Das Sein selbst beruht nicht auf Vernunft, sondern auf einem irrationalen Willensprinzip. Diese Grundideen haben erheblichen Einfluss auf das spirituelle Bewusstsein Europas im 17.Jh., wo sie auch von den Rosenkreuzern aufgenommen werden. In dem 1614 in Kassel anonym veröffentlichten Rosenkreuzer-Manifest Fama Fraternitatis wird Kritik an der spirituellen Situation Europas geübt und eine mögliche Erlösung mittels einer angestrebten universalen spirituellen Wissenschaft mit Verschmelzung von Herz und Erkenntnis angestrebt. Einflüsse von christlicher Kabbala, Neupythagoreismus, Gnosis und paracelsischem Denken sind klar erkennbar. Der Name Rosenkreuzer leitet sich von dem Protagonisten des 1616 gedruckten, dritten Manifestes, dem barocken initiatischen Roman Chymische Hochzeit Christian Rosenkreutz Anno 1459 ab, dessen Reise eine alchimistische Metapher für die Hierogamie von Jesus Christus und seiner Kirche darstellt. Als Verfasser gilt u. a. der Arzt Johann Valentin Andreae. Konsequenzen der frühen Rosenkreuzerbewegung sind nach A. Faivre ein verstärktes Interesse der Epoche an theosophischen Spekulationen über die Natur im paracelsischen Sinne und die Gründung und Vermehrung von reellen, initiatischen Gesellschaften im Okzident. Mit der beginnenden Aufklärung werden die Werke Jakob Böhmes verstärkt in Deutschland und England rezipiert und kommentiert. In Frankreich sind die theosophischen Schriften von Hector de Saint-Georges de Marsais (Explication de la Genèse) zu erwähnen. Die Th. dieser Epoche entwickelt mit Samuel Richters (Sincerus Renatus) Theo-Philosophia Theoretico-practica, A. J. Kirchwegers Aurea catena Homeri, sowie Georg von Wellings (Salwigt) Opus mago-cabbalisticum et theosophicum eine zunehmend okkultistische Variante mit stark zur Magie tendierenden Aspekten. Um die Wende vom 18. zum 19. Jh. entsteht der sog. Illuminismus, der in seiner theosophisch-christlichen Ausprägung v.a. durch den schwedischen Wissenschaftler Emanuel Swedenborg repräsentiert wird. Seine 1747 verfassten Arcana coelestia sind eine geographische Beschreibung der himmlischen Sphären und spirituellen Welten und tragen zur positiven Rezeption eines Konzeptes universaler Entsprechungen von Natur und Mensch, Mensch und Gott bei. Swedenborg hat v.a. im nachfolgenden 19. Jh. erheblichen Einfluss auf die Literatur in Europa, wird jedoch innerhalb seiner eigenen Kreise wegen seiner Christologie kritisiert. Im deutschsprachigen Raum sind der Zürcher Pastor Johann Caspar Lavater (Aussichten in die Ewigkeit, 1768/69), ferner Johann Heinrich Jung-Stilling (Theorie der Geisterkunde, 1807) zu nennen. Ein hoher Stellenwert ist in Russland Iwan Wladimir Lopouchine (Quelques traits de l’eglise intérieure, 1791) einzuräumen, da ihm das Verdienst der Übersetzung von Böhme, Swedenborg, Jung-Stilling u. a. zukommt. Für die nachfolgende Zeit der Romantik ist der Münchner Theosoph Franz von Baader (Beiträge zur Elementarphysiologie, 1797; Ueber das pythagoreische Quadrat, 1789) von großer Bedeutung. Er zählt zu den bedeutendsten Exegeten Jakob Böhmes, vernachlässigt allerdings, seiner Zeit gemäß, dessen barocke Neigung zur Prophetie und kombiniert Aspekte christlicher Esoterik mit wissenschaftlichem Denken. Sein naturphilosophischer Ansatz wird u. a. in den Werken Friedrichs von Hardenberg (Novalis) und Goethes (Zur Farblehre, 1810) reflektiert. Die Entdeckung des Unbewussten spielt hierbei eine große Rolle und wirkt wegbereitend für Psychoanalyse und Homöopathie.
Bereits gegen Ende des 18. Jh., spätestens aber mit Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808), hält Indien mit dem romantischen Orientalismus und damit die »Suche nach dem Einen« Einzug in die Th. Innerhalb der 1875 von Helena Petrowna Blavatsky (Isis Unveiled, 1877; The Secret Doctrine, 1888), Henry Steel Olcott und William Quan Judge gegründeten »Theosophical Society« (TS) und ihren Anhängern wird Th. verstärkt als primordiale, universelle Tradition betrachtet. Dieser Gedanke ist symptomatisch für das Wissenschaftsverständnis dieser Zeit und geht mit den Anfängen von Vergleichender Religions- wie Sprachwissenschaft einher. Einerseits ist vor dem Hintergrund des 19. Jh.s in ganz Europa okkultistischer Einfluss zunehmend spürbar wie bei Albert Faucheux (al. François-Charles Barlet), und dem jungen Rudolf Steiner, dem späteren Begründer der Anthroposophie. Letzterer grenzt sich jedoch schon bald mit starker Betonung des Christlichen in seiner Evolutionstheorie und der damit verbundenen Ablehnung einer »Ur-Tradition« die durch die Herabkunft Krishnamurtis personifiziert wird, von der TS ab. Andererseits wird gerade der okkulte Einfluss wie bei Vladimir Soloviev, welcher an der Naturphilosophie orientiert ist, mitunter abgelehnt. Die TS Blavatskys selbst kennt weder Initiationsstufen, noch lehrt sie eine bestimmte Doktrin. Ihre Ziele werden formuliert als 1. Bildung des Kerns einer universalen Bruderschaft; 2. Förderung des Studiums von allen Religionen, Philosophie und Naturwissenschaft; 3. Studium und Optimierung der psychischen und spirituellen Möglichkeiten des Menschen. Dabei ist die Lehre gemäß ihrer Zeit stark von den Religionen Indiens Hinduismus, Buddhismus, teilweise auch Parsismus inspiriert, die zu studieren und zu verbreiten explizit in The Key to Theosophy (1889) nahegelegt wird, da in ihnen das Urwissen der Menschheit noch lebendig sei. Im Rahmen einer ihrer Zeit ebenfalls gemäßen, eigenen Evolutionstheorie sind ferner die sog. »Wurzelrassen« zu erwähnen, welche oftmals als Vorbild für nationalsozialistische Rassentheorien kritisiert wurden. Nach der Verlegung des Hauptquartiers der TS vom Gründungsort New York nach Adyar bei Madras im Jahre 1879 ändert sich das Wesen der TS. V.a. nach dem Tod Blavatskys entstehen unter der Leitung der umstrittenen Persönlichkeit Annie Besant ab 1907 weltweit sehr viele Splittergruppen, von denen die wichtigsten die TS Pasadena, die TS Point Loma, Covina, sowie die United Lodge of Theosophists sein dürften. Auch die TS Adyar besteht bis heute. Hervorzuheben ist hierbei Annie Besants großer Einfluss in der Unabhängigkeitsbewegung, der der TS in Indien bis heute hohes Ansehen einbringt. Zu erwähnen ist auch die theosophische Inspiration in Kunst und Literatur im Europa des ausgehenden 19. und 20. Jh.s. Die christliche Theosophie wird im 20. Jh. in Deutschland durch Rudolf Steiner repräsentiert, in Russland sind Pawel Florenskij, Sergej Bulgakow, sowie der Philosoph Nicolai Berdjajew zu nennen, die allesamt die Theosophie Blavatskys kritisieren. In dieser Tradition stehen in Frankreich Auguste-Edouard Chauvet und Robert Amadou.
Literatur:
- H.P. Blavatsky: The Secret Doctrine. London 1888
- A. Faivre: Esoterik. Braunschweig 1996
- K. R. H. Frick: Die Erleuchteten: Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jh. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Neuzeit. Graz 1973
- Ders.: Die Erleuchteten. Licht und Finsternis. Gnostisch-theosophische und freimaurerisch-okkulte Geheimgesellschaften bis zur Wende des 20. Jh. Bd. I und II. Graz 1975–78
- W. J. Hanegraaff u. a. (Hg.): Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Vol. 1/2. Leiden/Boston 2005.
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