Metzler Lexikon Philosophie: Xing
(Wesen, Natur), Kategorie in der chinesischen Philosophie. Die erste systematische Verwendung des Begriffs erfolgt im Denken von Mencius (ca. 379–289 v. Chr.). Nach Mencius ist im Menschen qua Mandat (Ming) des Himmels X. als Wesen angelegt. Als Ausdruck des Himmels, der auch letzte ethische Instanz ist, begründet es menschliche Moralität (»Das Wesen ist gut.«) und enthält die fünf konfuzianischen Kardinaltugenden. Aufgabe des Menschen ist es, seinem ursprünglichen Wesen gerecht zu werden, das sich im Bewusstsein widerspiegelt. Auch das Bewusstsein ist auf das moralisch Gute gerichtet. Jeder Mensch ist daher auf sein Wesen unmittelbar ansprechbar. Mencius nennt dafür das Beispiel eines Kindes, das gerade in einen Brunnen zu stürzen droht. In diesem Moment würde demnach jeder Anwesende, unabhängig von Bildung, sozialer Stellung oder Lebenswandel, spontan zu Hilfe eilen. X. ist im Denken von Mencius die entscheidende Kategorie menschlicher Moralität. Eine Gegenposition wird im Buch Guan zi vertreten (Guan zi, gest. 645 v. Chr.; das Buch Guan zi ist ein heterogenes Werk und enthält Texte, die zwischen dem 5. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. v. Chr. verfasst wurden). X. bezeichnet dort die instinktiven Fähigkeiten von Mensch und Tier. Eine ähnliche Position vertritt Xunzi. X. ist Ausdruck der natürlichen Fähigkeiten des Menschen. Es ist keine moralische Instanz. Lässt man den einzelnen Wünschen, die sich aus dem instinktiven und egoistischen Lebenserhaltungstrieb ergeben, freien Lauf, so kommt es zum Kampf der Egoismen. Da der Mensch im Unterschied zum Tier Gesellschaftlichkeit und institutionalisierte Ethik als höheren Wert kennt, muss die instinktive Natur im Xun Zi negativ beurteilt werden: »Die menschliche Natur ist böse, und was am Menschen gut ist, ist das Ergebnis (zivilisatorischer) Bemühungen« (Xun Zi: Xing E). Wesen ist für Xunzi kein metaphysisch legitimierter Ausdruck menschlicher Moralität. Moralität ist das Ergebnis der Einrichtung und Durchsetzung eines (konfuzianisch) geordneten Gemeinwesens. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Positionen durchzieht die chinesische Philosophiegeschichte. Der Legist Han Fei (Zi) (gest. 233 v. Chr.) verstand unter X. die rein triebhafte Natur des Menschen, die bar jeder Moralität ist. Ihr muss der Herrscher des Gemeinwesens mit formalen und rigiden Gesetzen entgegenwirken. In den Übersetzungen buddhistischer Schriften ins Chinesische wurde X. v.a. für den Sanskritterminus prakrti gewählt, der das fundamentale Wesen jenseits der Erscheinungsformen bezeichnet. Die Neubewertung von X. im Neokonfuzianismus wurde von Li Ao (gest.798) eingeleitet. Er unterscheidet zwischen dem eigentlichen Wesen und dem verschatteten Wesen. Die Rückbesinnung auf das eigentliche Wesen (fu xing) ist die zentrale Aufgabe des Menschen. In Zhu Xis Neokonfuzianismus wird X. in eine epistemologische und ethische Systematik eingebunden, indem es mit dem Begriff Li (Prinzip) gekoppelt wird.
Literatur:
- R. Moritz: Die Philosophie im alten China. Berlin 1990
- H. Schleichert: Klassische chinesische Philosopie. Frankfurt 21990.
MLE
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