Metzler Lexikon Philosophie: Xīn
(Bewusstsein), in der alten chinesischen Philosophie; in moderner Terminologie Xin Li, wie in Xin Li Xue: Psychologie. Das Schriftzeichen bedeutet eigentlich Herz, wie auch jetzt noch in der Umgangssprache, im übertragenen Sinne auch Inneres, wie auch jetzt noch z.B. in Zhong Xin: Zentrum (= Mitte des Herzens). Als Radikal ist das Zeichen Bestandteil vieler zusammengesetzter Schriftzeichen für psychische Akte. Meng Zi (372–289) hat es zuerst in einem Traktat über die »Anstrengung des Bewußtseins« (Jin Xin, wörtlich: Sein Innerstes nach Kräften ausschöpfen!) zum philosophischen Thema gemacht. Er meint, dass die konfuzianischen Kardinaltugenden Menschlichkeit (Ren), Gerechtigkeit (Yi), Sittlichkeit (Li) und Weisheit (Zhi) in Xin eingewurzelte Himmelsideen oder eingewurzeltes Wissen (Liang Zhi) seien, die man daher nicht zu lernen, sondern sich nur – modern gesprochen – zu Bewusstsein zu bringen hätte (Meng Zi: Jin Xin). An anderer Stelle nennt er daher das Denken eine Funktion von Xīn (Meng Zi: Gao Zi). Daran knüpft später die idealistische Lu Wang-Schule von Lu Jiu-yuan (= Xiang Shan, 1139–1193) und Wang Shouren (= Wang Yang-ming, 1472–1529) an. Lu Jiu-yuan vertritt einen kosmologischen und hermeneutischen Bewusstseinsmonismus, der in gewissen Zügen Leibniz’ Monadenlehre entspricht. Er behauptet: »Der Kosmos ist mein Xin, mein Xin ist Kosmos« (Xiang Shan: Sämtliche Werke, Za Shuo, Nebenbemerkungen); entsprechend gilt ihm vom Sinngehalt der Klassikerschriften: »Die sechs Klassiker sind sämtlich meine Interpretation (Liu Jing Jie Wo Zhu Jiao!)«. Sein philosophisches Forschungsprogramm lautet daher auch: »Entdeckung des Xin als des Eigentlichen (Fa Ming Ben Xin!)«. Ähnlich betont Wang Shou-ren: »Unter dem Himmel gibt es keine Dinge außer Xīn« (Wang Shou-ren: Chuan Xi Lu, Das Buch vom Lehren und Lernen, Bd. 3). Er entwickelt auf dieser Grundlage seine Erkenntnistheorie der »Ideenintentionalität« (vgl. Zhi Liang Zhi). Die Nähe dieser Lehren zu buddhistischen Bewusstseinslehren, insbesondere der zenbuddhistischen Maxime von der Bewusstseinsreflexion und Wesensschau (Ming Xin Jian Xing!) wurde immer gesehen. Luo Qin-shun (1465–1547) stellt etwa fest: »Die sogenannte buddhistische Bewußtseinserhellung und Wesensschau (Ming Xin Jian Xing) und unsere konfuzianische Bewußtseinsanstrengung und Wesenserkenntnis (Jin Xīn Zhi Xing) ähneln sich, sind aber in der Tat nicht dasselbe« (Luo Qin-shun: Kun Zhi Ji, Aufzeichnung schwieriger Erkenntnisse). Aber auch er kann den Unterschied nur durch den Rekurs auf die materiell-körperliche Unterlage des Bewusstseins, wie sie die übrigen konfuzianischen Schulen im Begriff der luftartigen feinsten Materie (Qi) zu fassen suchten, herausarbeiten. Dieser realistische bzw. materialistische Standpunkt wird von Wang Fu-zhi (1619–1692) bündig so formuliert: »Die Rede vom Xin, vom Wesen (Xing), vom Himmel (Tian) und von Sitte (Li) muß man auf die Materie (Qi) beziehen. Wo es keine Materie gibt, gibt es dies alles nicht« (Wang Fu-zhi: Du Si Shu Da Quan Shuo, Große Kommentarsammlung zur Lektüre der vier Klassiker, Bd. 10).
Literatur:
- L. Geldsetzer/H.-d. Hong: Chinesisch-deutsches Lexikon der chinesischen Philosophie. Aalen 1986. Art. Bewußtsein (Xīn), Bewußtsein und Wesen des Menschen (Xīn Xìng), Bewußtseinsentwicklung und Wesenserkenntnis (Jĭn Xīn Zhī Xìng), Ideen-Intentionalität (Zhì Liāng Zhī), Reflexion und Wesensschau (Míng Xīn Jiàn Xìng).
LG/HDH
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