Lexikon der Psychologie: Attribution
Essay
Attribution
Hans-Werner Bierhoff
Überblick
Attributionsprozesse drehen sich um Warum-Fragen: Warum habe ich bei der Prüfung schlecht abgeschnitten? Warum hat sich ein Unfall ereignet? Warum bin ich im Sport Erster geworden? Warum ist mir eine interessante Stelle angeboten worden? Es geht also darum, welche Ursachen für eine Handlung oder ein Ereignis erschlossen werden. Es handelt sich um Gedanken und Überzeugungen von Akteuren oder Beobachtern, die mit einem Streben nach Kontrolle in Zusammenhang stehen und die dementsprechend auch als Kontrollkognitionen bezeichnet werden. Eine weitergehende Frage bezieht sich darauf, wie Attributionen Emotionen, Motivation und Verhalten beeinflussen.
Die Attributionstheorie geht auf Fritz Heider (1977) zurück, der eine Naive Analyse des Verhaltens vorlegte, die beschreiben hilft, wie der Alltagsmensch bestimmte Verhaltensweisen (etwa im Leistungsbereich) erklärt. So kann z.B. der Erfolg einer Person bei der Lösung einer Aufgabe darauf zurückgeführt werden, daß sie über eine große Fähigkeit verfügt oder daß sie sich sehr angestrengt hat (Leistungsattribution). Die Attributionstheorie läßt sich neben dem Leistungsbereich auch auf Notsituationen und andere negative Ereignisse, interpersonelle Konflikte und Intergruppen-Konflikte anwenden. In Notsituationen geht es z.B. um folgende Frage: Wird dem Opfer Verantwortung für die Entstehung seiner Notlage zugeschrieben, oder wird das Auftreten der Notlage auf Faktoren zurückgeführt, die das Opfer nicht kontrollieren kann (Verantwortungsattribution)? Ein Bereich, in dem interpersonelle Konflikte angesprochen werden, sind gestörte Partnerschaften, in denen die Tendenz besteht, daß die Partner ihr eigenes Handeln günstiger als das des jeweiligen Partners erklären (defensive Attribution). Ein weiterer Anwendungsbereich der Attributionstheorie sind die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen (Intergruppen-Attribution), die häufig durch gruppendienliche Attributionen gekennzeichnet sind.
Dimensionen des Attributionsprozesses
Ein Ereignis kann external (durch das Denken und Handeln anderer) oder internal (durch das eigene Tun) erklärt werden. Diese Dimension kommt in überdauernden Kontrollüberzeugungen zum Ausdruck, in denen entweder die Person als "Meister" ihres Schicksals erscheint oder als hilfloser "Bauer" im Spiel unkontrollierbarer Mächte (wie Lehrer, staatlicher Ämter, religiöser Institutionen oder ganz einfach Zufall). Kulturell geteilte Kontrollüberzeugungen werden als Kontrollideologien bezeichnet. Eine zweite Attributionsdimension ist die Stabilität von Erklärungsfaktoren. Eine Ursache für ein Verhalten kann entweder lang andauernd wirksam sein (z.B. Intelligenz) oder die Ursache kann kurzfristig eintreten (z.B. momentane Stimmung). Wie lassen sich diese Ursachendimensionen miteinander kombinieren? Weiner (1995) verwendet im einfachsten Fall ein 2 x 2-Schema der Ursachen, das auf den Dimensionen internal-external und stabil-variabel beruht (Leistungsattribution). Eine dritte Ursachendimension wird als Kontrollierbarkeit bezeichnet: Hat eine Person die Möglichkeit, ihre Handlung und deren Rahmenbedingungen zu steuern oder sind die Einflußmöglichkeiten gering? Ein Beispiel läßt sich anhand des Faktors Fähigkeit geben, der in dem oben genannten Schema für einen internal-stabilen Leistungsfaktor steht, da die Fähigkeit ein Personfaktor ist, der über die Zeit relativ gleich ausgeprägt ist. Wenn zusätzlich die Kontrollierbarkeit einbezogen wird, kann zwischen Fähigkeit als nicht kontrollierbar und Arbeitshaltung als kontrollierbar unterschieden werden. Denn Fähigkeit ist willentlich nur wenig beeinflußbar, während der Arbeitshaltung einer Person eine mehr oder weniger bewußte Entscheidung aufgrund ihrer Arbeitsethik zugrunde liegt. Eine vierte Dimension bezieht sich auf die Globalität der Ursache. Eine Ursache ist global, wenn sie sich in unterschiedlichen Situationen gleichermaßen auswirkt ("sie wird alles beeinflussen, was noch kommt"), während sie spezifisch ist, wenn sie auf eine bestimmte Situation beschränkt ist ("sie wird sich nur in dieser Situation auswirken"). Peterson, Buchanan und Seligman (1995) berücksichtigen neben internal-external, stabil-instabil auch die Pole global-spezifisch und postulieren darauf aufbauend überdauerende Erklärungsstile einer Person. Ein pessimistischer Attributionsstil für Mißerfolge besteht darin, daß die Ursache internal, global und stabil wahrgenommen wird, während ein external, spezifischer und instabiler Attributionsstil für Mißerfolge als optimistisch bezeichnet wird. Zur Messung des Attributionsstils wurde der Attributionsstil-Fragebogen entwickelt. Die Behandlung ungünstiger Attributionsstile ist ein Thema von Attributionstherapien.
Wie schon erwähnt, werden Kausalattributionen mit emotionalen Reaktionen in Beziehung gesetzt. So konnte z. B. gezeigt werden, daß Attribution auf Fähigkeit nach einem Erfolg die Affekte Kompetenz, Stolz und Selbstvertrauen auslöst, während eine Fähigkeitsattribution nach Mißerfolg die Affekte Inkompetenz, Resignation und Depression zur Folge hat. Attribution auf Anstrengung nach einem Erfolg wird mit Erleichterung, Zufriedenheit und Entspannung in Zusammenhang gebracht, während die Anstrengungsattribution bei Mißerfolg mit Schuld, Scham und Furcht zusammenfallen.
Attributionsprinzipien
Im folgenden werden Prinzipien der Attribution dargestellt, die einen normativen Bezugspunkt für Ursachenzuschreibungen darstellen. Dazu zählen das Kovariationsprinzip, kausale Schemata und die Theorie der korrespondierenden Inferenz (korrespondierende Inferenz, Theorie). Die Forschung hat gezeigt, daß diese Prinzipien in Attributionsurteilen zum Ausdruck kommen, wenn auch feststeht, daß Menschen nicht völlig rational urteilen sondern häufig von logischen Regeln abweichen. Nach dem Kovariationsprinzip (Heider, 1977) wird die Ursache eines Ereignisses auf die Dimension zurückgeführt, die mit dem Auftreten des Ereignisses systematisch variiert. Das bedeutet z.B., daß ein Ereignis, das nur dann auftritt, wenn ein bestimmter Akteur beteiligt ist, auf diesen Akteur zurückgeführt wird. Tritt hingegen das Ereignis bei unterschiedlichen Akteuren auf, sollte es nicht einem bestimmten Akteur zugeschrieben werden. Genauso sollte gelten, daß ein Ereignis, daß nur in einer bestimmten Situation auftritt, durch diese Situation erklärt wird. Wenn hingegen das Ereignis in unterschiedlichen Situationen gleichermaßen auftritt, kann es nach dem Prinzip der Kovariation nicht durch die Situation erklärt werden. Die Systematisierung dieser Überlegungen wird als ANOVA-Modell der Attribution bezeichnet. In diesem Modell wird zusätzlich die Attribution auf besondere Umstände berücksichtigt, die immer dann möglich wird, wenn ein Ereignis im zeitlichen Verlauf unregelmäßig auftritt. Das ANOVA-Modell berücksichtigt gleichzeitig mehrere Attributionsdimensionen. Häufig wird in Alltagsattributionen nur eine Dimension berücksichtigt, ohne daß eine umfassende rationale Betrachtung erfolgt. Dieser Ansatz geht von einer möglichst einfachen Ursachenzuschreibung aus, bei der das Prinzip der Kovariation als Erklärungsansatz beibehalten wird.
Eine weitere Vereinfachung der Attribution ergibt sich, wenn anstelle des Prinzips der Kovariation bestimmte Schemata zugrunde gelegt werden, die als Konfigurationsmodelle bezeichnet werden (Kelley, 1971). Unter kausalen Schemata versteht man allgemeine Vorstellungen, die eine Person darüber hat, wie bestimmte Ursachen, die einen Effekt hervorrufen, zusammenhängen. Ein Beispiel ist das Schema multipler hinreichender Ursachen, das im Leistungsbereich anwendbar ist. Eine gute Leistung bei einer Klausur kann auf die Fähigkeit des Klausurteilnehmers ("Überflieger") oder auf seine lange Vorbereitung ("Streber") zurückgeführt werden. Dem Schema multipler hinreichender Ursachen läßt sich das Schema multipler notwendiger Ursachen gegenüberstellen, das voraussetzt, daß mehrere Ursachen gemeinsam einen Effekt hervorrufen. Welche Hypothesen lassen sich darüber aufstellen, wann das Schema multipler notwendiger Ursachen und wann das Schema multipler hinreichender Ursachen angewandt wird? Allgemein gilt: Je extremer ein Ereignis ausfällt, desto eher wird auf das Schema multipler notwendiger Ursachen zurückgegriffen. Ein Beispiel aus dem Leistungsbereich kann das veranschaulichen: Wenn ein Schüler sehr gute Leistungen zeigt, die die Leistungen anderer Schüler deutlich übertreffen, liegt es nahe, diese Leistungsfähigkeit auf zwei Ursachen zurückzuführen, nämlich hohe Fähigkeit und hohe Anstrengung. Dieses Beispiel zeigt im übrigen, daß Kausalattributionen immer subjektiv sind. Es kann zwar sein, daß der Schüler seine Leistung durch hohe Fähigkeit und hohe Anstrengung erreicht hat, aber in der Wirklichkeit könnte auch gelten, daß die hohe Fähigkeit allein ausgereicht hat und die Anstrengung durchschnittlich ausgeprägt ist. Empirische Ergebnisse können von Kausalattributionen über die untersuchten Phänomene weit abweichen, und vermutlich ist das auch häufig der Fall.
Von besonderer Bedeutung ist die Möglichkeit, daß bei zwei förderlichen Ursachen, wie sie im Schema multipler notwendiger Ursachen enthalten sind, die eine durch eine andere in ihrer Bedeutung vermindert oder abgewertet werden kann (Abwertungsprinzip). Häufig kommt es auch aufgrund der Anwendbarkeit von zwei förderlichen Ursachen zu einer übermäßigen Rechtfertigung, die die Arbeitsmotivation unterminieren kann. Das kann dann auftreten, wenn eine häufig gezeigte Tätigkeit, die intrinsisch motiviert ist (durch Interesse an der Aufgabe), extern verstärkt wird (durch Anerkennung, Bezahlung etc.). Ein anderer Fall tritt ein, wenn eine Ursache hemmend und die andere förderlich ist (Aufwertungsprinzip). Wenn jemand z.B. trotz einer längeren Krankheit bei einer Prüfung sehr gut abschneidet, wird dadurch der Schluß nahegelegt, die Person verfüge über hohe Fähigkeiten.
Vielfach sind Ereignisse komplexer verursacht, als diese Beispiele veranschaulichen. Ein wichtiger Spezialfall, der im juristischen Bereich häufig auftritt, ist die Verkettung von unglücklichen Umständen. Ist z.B. ein Ladendiebstahl auf die gestörte Persönlichkeit des Jugendlichen zurückzuführen oder vielmehr darauf, daß er frühzeitig von seinen Eltern getrennt wurde? Die Trennung der Eltern kann sich als traumatisches Ereignis ausgewirkt haben, das zu einer Persönlichkeitsstörung geführt hat, die wiederum den Ladendiebstahl zur Folge hatte. Solche kausale Ketten demonstrieren in aller Deutlichkeit die Subjektivität der Kausalattribution, die z.B. in der Berücksichtigung oder Ignorierung von mildernden Umständen bei der Beurteilung eines Vergehens zum Ausdruck kommen.
Jones und Davis (1965) nehmen an, daß Attributionsprozesse mit der Wahrnehmung von Handlungen und deren Effekten beginnen. Handlungen werfen die Frage auf, ob der Akteur die Handlung intendiert hat. Über Intentionen werden Dispositionen des Akteurs mit seinen Handlungen verbunden. Von beabsichtigten Effekten lassen sich unbeabsichtigte Nebenwirkungen unterscheiden. Dieser Analyse liegt die Annahme zugrunde, daß eine Erklärung für eine Handlung dann als ausreichend angesehen wird, wenn sie über Intentionen auf die Person des Akteurs zurückgeführt werden kann. Danach besteht eine Neigung in der Attribution, die Person als Ursache ihrer Handlung zu identifizieren und den Einfluß von spezifischen Begleiterscheinungen und situativen Bedingungen zu vernachlässigen (fundamentaler Attributionsfehler).
Welche Dispositionen des Akteurs von Beobachtern erschlossen werden, darauf gibt die Theorie der korrespondierenden Inferenz (Jones & Davis, 1965) eine Antwort. Die Antwort hängt mit einer Betrachtung alternativer Handlungsmöglichkeiten zusammen, die der Akteur ausgelassen hat. Nur wenn der Akteur frei zwischen verschiedenen Handlungen entscheiden konnte, ist es nach dem normativen Schema dieser Theorie sinnvoll, auf die Person als Ursache der Handlung zu schließen. Außerdem unterscheiden sich Akteure und Beobachter systematisch in ihren Attributionstendenzen (Akteur-Beobachter Unterschiede). Beobachter tendieren dazu, die Person als Ursache zu erschließen (fundamentaler Attributionsfehler), während Akteure eher geneigt sind, die Situation, in der sie handeln müssen, als Ursache aufzufassen. Damit sind Attributionskonflikte vorprogrammiert, z.B. zwischen Therapeut und Klient oder Richter und Angeklagtem.
Literatur
Heider, F. (1977). Psychologie der interpersonellen Beziehungen. Stuttgart: Klett.
Jones, E.E. & Davis, K.E. (1965). From acts to dispositions: The attribution process in person perception. In L. Berkowitz (Ed.), Advances in experimental social psychology (Bd. 2, pp. 219-266). New York: Academic Press.
Kelley, H.H. (1967). Attribution theory in social psychology. In D. Levine (Ed.), Nebraska symposium on motivation (Bd. 15, pp. 192-238). Lincoln, NE: University of Nebraska Press.
Peterson, C., Buchanan, G.M. & Seligman, M.E.P. (1995). Explanatory style: History and evolution of the field. In G.M. Buchanan & M.E.P. Seligman (Eds.), Explanatory style (pp. 1-20). Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum.
Weiner, B. (1986). An attributional theory of motivation and emotion. New York: Springer.
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