Lexikon der Psychologie: Verhalten
Essay
Verhalten
Gerhard Faßnacht
Einführende Lehrbücher bezeichnen Psychologie häufig als die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen. Verhalten stellt demnach einen Hauptgesichtspunkt psychologischer Forschung dar. Recht selten werden hingegen Verhaltensdefinitionen angeboten. Dies trifft auch für Richtungen wie dem Behaviorismus oder der Ethologie zu, die im engeren Sinne meist als eigentliche Verhaltenswissenschaften bezeichnet werden.
Definition
Verhalten ist jenes Geschehen, das, an einem Organismus oder von einem Organismus ausgehend, außenseitig wahrnehmbar ist.
Der Prädikator Geschehen weist darauf hin, daß Verhalten ein in der Zeit sich verändernder Sachverhalt ist. Verhalten ist im Unterschied zu einer Fähigkeit, einer Eigenschaft, einer Disposition oder einem Trait ein prozessuraler Sachverhalt. Fähigkeiten, Eigenschaften, Dispositionen und Traits ermöglichen allenfalls Verhalten. Der Prädikator Organismus läßt erkennen, daß Verhalten ein universelles Phänomen lebender Strukturen ist. Im Unterschied dazu sind Empfinden, Wahrnehmen, Denken und Fühlen bewußtseinstragende Sachverhalte, von denen man annimmt, daß sie nicht allen Organismen im gleichen Maße eigen sind. Die Universalität des Verhaltens hat zur Folge, daß es eine vergleichende Verhaltenswissenschaft gibt. Der Prädikator außenseitig schließt Sachverhalte aus, die in direkter Weise nur auf dem Wege der Introspektion erfaßbar sind. Schließlich bedeutet der Prädikator wahrnehmbar, daß Verhalten nicht nur wissenschaftlicher Gegenstand der Psychologie, sondern im Sinne des Konstruktivismus auch ein psychologisch geformter sein kann. Verhalten als ein Gegenstand menschlicher Wahrnehmung ist damit den Effekten der Wahrnehmung unterworfen. Insbesondere heißt dies, daß Verhalten auch ein weitgehend kognitiv strukturierter, d.h. interpretierter, Sachverhalt sein kann, der unter Umständen nicht nur direkt sicht- und hörbare, sondern auch erschlossene Elemente enthält (Kognition).
Verhaltensdaten
Wird Verhalten als ein grundsätzlich wahrnehmbarer Sachverhalt verstanden, sind damit im großen und ganzen die Grenzen und Möglichkeiten der Datengewinnung festgelegt. Die Zuordnung von Zeichen zu Wahrgenommenem, d.h. die Umsetzung von Verhalten in Verhaltensdaten, wird in der Regel auf dem Wege der Verhaltensbeobachtung (Faßnacht, 1995) vorgenommen, in welcher der menschliche Beobachter mit den Stärken und Schwächen seines Wahrnehmungsapparates ein notwendiges Element bildet. Video- bzw. Filmaufnahmen stellen deshalb noch keine Verhaltensdaten dar, sondern sind eine mitunter schlechte Kopie der “Wirklichkeit”. Wegen der Wahrnehmungslastigkeit von Verhalten sind vollautomatische Anordnungen zur Gewinnung von Verhaltensdaten recht selten. Beispiele für letztere sind: die automatische Registrierung von Augenbewegungen in der Lese- und Aufmerksamkeitsforschung, die automatische Registrierung von Distanzverhalten während der Interaktion oder die telemetrische Erfassung von Standorten sich frei bewegender Tiere in ihrer natürlichen Umgebung. Nicht automatisierbar ist hingegen die Registrierung von Sozialverhalten, wenn es z.B. als paralleles, kooperatives, aggressives, helfendes, unterstützendes oder neutral interaktives Verhalten verstanden werden soll (Hilfeverhalten). Zu den Stärken der Verhaltensdaten zählt zweifellos deren Interpretiertheit, was sie zu praxisnahen Daten macht. Damit entfällt weitgehend die Validitätsproblematik, wie sie die klassische Diagnostik kennt (Validität, Validierung). Paradoxerweise stellt die Interpretiertheit von Verhaltensdaten auch deren größte Schwäche dar, da interpretierte Daten häufig zur Objektivitätsproblematik führen. Daten der Praxis wie der Wissenschaft sollen eine mißverständnisfreie Kommunikation ermöglichen, d.h. sie müssen im Sinne eines intersubjektiv übereinstimmenden Sprachgebrauchs objektiv sein.
Verhaltenseinheiten
Verhaltensdefinition und die Gewinnung von Verhaltensdaten haben einen engen Bezug zur Frage, welches die basalen Verhaltenseinheiten einer Spezies sind. Auf diese Frage bietet die Literatur sehr verschiedene Antworten an. Grundsätzlich muß man zwischen Betrachtungseinheiten einerseits und Meß- bzw. Erhebungseinheiten andererseits unterscheiden. Die Betrachtungseinheit stellt den Fokus einer Fragestellung dar. Erhebungseinheiten sind hingegen Qualifizierungen oder Quantifizierungen der Betrachtungseinheit, indem sie sich unterteilend auf diese beziehen. So kann die Betrachtungseinheit einer Fragestellung “Aggressives Verhalten” sein, welches in die Erhebungseinheiten “physische”, “verbale”, “symbolische” oder “mimische” Aggression unterteilt wird. Sachverhalte sind nicht per se Betrachtungs- oder Erhebungseinheiten. Was im einen Falle als Betrachtungseinheit figuriert, kann – gemäß Kritischer Sprachanalyse (Kamlah & Lorenzen, 1973) – in einem anderen Falle zur Erhebungseinheit werden. So wird aus “Aggressivem Verhalten” dann eine Erhebungseinheit, wenn es z.B. im Bunde mit “parallelem Verhalten”, Kooperation, Hilfeverhalten, “unterstützendem Verhalten” oder “neutraler Interaktion” als Teil oder Erscheinungsform der Betrachtungseinheit “Sozialverhalten” aufgefaßt wird. Andere grundsätzliche Aspekte von Verhaltenseinheiten sind deren Natürlichkeit, Analysierbarkeit, Struktur und Funktion. Von natürlichen Verhaltenseinheiten spricht man dann, wenn diese sich gestalthaft unserer Wahrnehmung aufdrängen. In der Regel bietet dann unsere Umgangssprache auch eine betreits treffende Bezeichnung an. Die Analysierbarkeit einer Verhaltenseinheit hat zwei Aspekte: Einheit als Mannigfaltigkeit und Einheit als Einfachheit. Einheiten der Mannigfaltigkeit stellen ein In-sich-Geschlossenes dar, was jedoch in sich noch different und damit weiter analysierbar ist. Eine solche Einheit ist mehr als eine beliebige Zusammenstellung ihrer unterscheidbaren Teile. Die Teile gehören und wirken auf eine bestimmte Art und Weise zusammen. Beispiele sind: Nachtessen, Autofahren oder Tennisspielen. Einheiten der Einfachheit repräsentieren den “Urbegriff” einer Einheit. Gemeint ist das Unteilbare, das Letzte, was in sich indifferent und folglich nicht weiter analysierbar ist. Das klassische Beispiel stellte das “Atom” dar, welches lange Zeit als letzte unteilbare Einheit der Materie galt. Im Verhaltensbereich ist es äußerst schwierig, Einheiten dieser Art zu finden. Gemäß obiger Verhaltensdefinition müßte man zumindest theoretisch dann auf Einheiten der Einfachheit stoßen, wenn unsere Wahrnehmung an die Grenze ihrer Auflösungsfähigkeit gelangt. Eine andere Auffassung konzipiert Einheiten der Einfachheit als einen Sachverhalt, der hinter der Mannigfaltigkeit der Phänomene steht, so z.B. Aggression als faktorenanalytische Dimension (Faktorenanalyse). In beiden Fällen von Einheiten der Einfachheit handelt es sich um Sachverhalte, die nicht mehr oder nur noch schwer direkt wahrnehmbar sind. Im engeren Sinne können sie damit nicht mehr als Verhalten bezeichnet werden. Strukturale Verhaltenseinheiten sind solche, die sich aus der Körperstruktur einer Spezies herleiten. Beispiele sind: essen, trinken, singen, sprechen, bellen, gehen, galoppieren, schlängeln, fliegen. Strukturale Einheiten bezeichnet man bisweilen auch als “physisch fundierte” Verhaltenseinheiten. Schließlich ist in den funktionalen Verhaltenseinheiten eine Beziehung zum Kontext, zur Welt der physischen Objekte oder eine Zielvorstellung enthalten. Funktionale Einheiten kann man deshalb auch “sozio-kulturell fundierte” bezeichnen. Beispiele sind: mit Gabel und Messer essen, Wein trinken, vorsingen, jemanden ansprechen oder anbellen, nach Hause gehen, mit dem Pferd übers Feld galoppieren, sich durchs Gedränge schlängeln, nach Amerika fliegen. Die Ziel-, Kontext- und Sachabhängigkeit funktionaler Einheiten führen immer wieder zu neuen Verhaltensweisen. Tennisspielen, Bungyspringen, Fliegen, Fernsehen, Computerspiele sind nicht immer schon vorhandene Verhaltensweisen, sondern Produkte unserer kulturellen Entwicklung. Folglich bilden funktionale Einheiten ebenso wie die sozio-kulturell bedingten eine offene Klasse. Die Kriterien der Natürlichkeit, Analysierbarkeit, Struktur und Funktion schließen sich nicht gegenseitig aus.
Verhaltenseinheit und Theorie
Die theoretische Ausrichtung der Forschung führt mitunter zur Bevorzugung bestimmter Verhaltenseinheiten. Verhaltensökologische Ansätze, wie derjenige von Barker & Wright (1955), bevorzugen eine Unterscheidung in molekulare und molare Verhaltenseinheiten. Molare Einheiten, auch Aktionen genannt, werden einer Person als ganzer zugeschrieben. Sie sind zielgerichtet und liegen innerhalb des kognitiven Feldes einer Person, was soviel bedeutet wie, die Person ist sich darüber im klaren, was sie gerade tut, was jedoch nicht mit Absicht gleichzusetzen ist. Im Unterschied dazu sind molekulare Einheiten solche, die den Aktionen untergeordnet sind. Sie werden auch als Aktone bezeichnet. Aktone vermitteln Aktionen bzw. erzeugen Aktionsvarianten. Eine Aktion ist weitgehend das, was eine Person gerade macht, während Aktone angeben, wie die Person das Was macht. Beispiel “Nachtessen”: Die Aktion Nachtessen kann in sehr verschiedener Weise ablaufen; wir können das Nachtessen zelebrieren, indem wir uns mehrere Gänge gönnen, besondere Weine auftischen, spezielles Gedeck und Besteck verwenden, Kerzen- statt Lampenbeleuchtung wählen und eine stimmungsfördernde Musik abspielen. Schneller ginge es allerdings, wenn wir ein tiefgekühltes Fertiggericht in den Mikrowellenofen schöben und nach fünf Minuten das halbheiße Gericht stehend verschlängen. Mit einem potentiellen Geschäfts- oder Liebespartner werden wir kaum die Mikrowellenvariante wählen, da es hier nicht um die Befriedigung des Magenhungers geht, sondern darum, einen Interaktionspartner zur Befriedigung anderer Wünsche einzuvernehmen. Folglich können aus der Aktion “Nachtessen” verschiedene Verhaltensvarianten, d.h. Aktone, werden, die nun ihrerseits eine Aktion, z.B. “Anwerben”, vermitteln. Verhaltensweisen sind nicht an und für sich Aktone oder Aktionen, sondern werden von den sie tragenden Personen erst zu solchen gemacht. Die Handlungspsychologie ordnet dem allgemeinen Verhaltensbegriff einen speziellen, den der Handlung, unter. Handlung wird dabei als zielgerichtetes Verhalten oder im noch engeren Sinne als beabsichtigtes Verhalten verstanden. Handlungen und Aktionen sind einander sehr ähnlich. Erst wenn Handlung allein und nur als eine mit Absicht durchzogene, vorsätzliche Verhaltensweise verstanden wird, weicht der Handlungsbegriff vom umfassenderen Verständnis des Aktionsbegriffes ab (geplantes Verhalten, vorsätzliches Vehalten). Die Ethologie unterscheidet Verhalteneinheiten nach biologischen Funktionskreisen, wie z.B. Ernährung, Fortpflanzung und Brutpflege. Dabei wird bisweilen der Versuch unternommen, sämtliche Verhaltenseinheiten einer Spezies in einem Verhaltenskatalog, einem sogenannten Ethogramm, zusammenzufassen. Da die offene Klasse funktionaler bzw. sozio-kulturell bedingter Verhaltenseinheiten von der Humanpsychologie als die wichtigste angesehen wird, ist das Erstellen eines humanpsychologischen Ethogrammes praktisch undurchführbar. Die Klinische Psychologie und die Psychiatrie wählen Verhaltensstörungen als Einheiten aus, wie z.B. Tics, Zwangshandlungen, verwaschene Sprache (Sprachstörungen), Parkinsongang. Der Behaviorismus schließlich rückt als Verhaltenseinheit die Reaktion bzw. die “response” in den Mittelpunkt des Interesses. Der behavioristische Verhaltensbegriff ist damit ein äußerst enger, so daß diese Richtung ihren Namen zu Unrecht trägt. Korrekterweise müßte sie deshalb eher als “Responsismus” denn als “Behaviorismus” bezeichnet werden. Strittig ist die Frage, ob Verhalten theorieunabhängig konzipiert werden könne. Die Antwort hängt weitgehend davon ab, was unter einer Theorie verstanden wird. Setzen wir Theorie mit wahrnehmungsmitbestimmenden Sachverhalten wie Vorannahmen, Interpretation oder Erwartungen gleich, dann gibt es letztlich nichts, was nicht gleichzeitig Theorie ist. Ein solcher Theoriebegriff ist aber trotz seiner in Wissenschaftskreisen weiten Verbreitung wissenschaftlich völlig unbrauchbar.
Literatur
Faßnacht, G. (1995). Systematische Verhaltensbeobachtung. Eine Einführung in die Methodologie und Praxis. (Zweite deutsche, völlig neubearbeitete Auflage). München: Reinhardt.
Kamlah, W. und Lorenzen, P. (1973). Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. (2., verbesserte und erweiterte Auflage). B.I.-Hochschultaschenbücher, Band 227. Mannheim: Bibliographisches Institut.
Barker, R. G. and Wright, H. F. (1955). Midwest and Its Children. New York: Harper Bros.
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