Lexikon der Psychologie: Ethologie
Essay
Ethologie
Gunter A. Pilz
Geschichte
Der Name "Ethologie" ist bereits 1872 nachweisbar und wird als Lehre von den "Lebensgewohnheiten", "science des moeurs", "Wissenschaft der Sitten" umschrieben (Wickler 1974). Der Beginn der modernen Ethologie jedoch wird auf die Mitte der 30er Jahre datiert und ist eng mit den Namen Konrad Lorenz und Niko Tinbergen verbunden. Es ist das unbestrittene Verdienst von Lorenz und Tinbergen, die stammesgeschichtlich und systematisch vergleichende Verhaltensforschung zu ihrem heutigen Stand entwickelt zu haben. Dabei ist der jahrhundertealte Streit um das Anlage-Umwelt-Problem mit dem Aufkommen der vergleichenden Verhaltensforschung, kurz Verhaltensforschung oder Ethologie genannt, aber auch wieder stärker in den Blickpunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzungen geraten. Besonders mit dem Erscheinen seines Buches "Das sogenannte Böse" hat Konrad Lorenz im Jahre 1963 eine heftige Kontroverse zwischen Ethologen auf der einen und Sozialwissenschaftlern auf der anderen Seite entfacht. Dies um so mehr, als sich die Ethologen nun immer mehr in den Bereich der Sozial- und Humanwissenschaften vorwagten und die Ethologie sich als gesellschaftskritische Wissenschaft versteht, die entsprechende Strategien zur Lösung der sozialen Probleme moderner Industriegesellschaften bereitstellen könne. Unter dem Deckmantel der Naturwissenschaften bzw. naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden erwecken Ethologen, allen voran Eibl-Eibesfeldt und Lorenz, den Eindruck, als könne die Verhaltensforschung Patentrezepte zur Lösung gesellschaftlicher und individueller Problem liefern.
Gegenstand und Methode
Ethologie ist die "biologische Untersuchung des Verhaltens" (Wickler 1974). Die Umschreibung macht deutlich, daß die Forschungsrichtung sich in der Biologie entwickelte und daher auch deren Methoden und Fragestellungen in die Verhaltensfoschung einbrachte. Ihre Ergebnisse erhält die Ethologie durch vergleichende Beobachtung, durch den Vergleich von Merkmalen und Organisationsformen komplexer Art. Werden bei einem Vergleich Ähnlichkeiten entdeckt, stellt sich die Frage, wie diese zustande gekommen sind. Dabei sind für die Verhaltensforschung sowohl Ähnlichkeiten von Interesse, die auf ein gemeinsames Erbe zurückzuführen sind (Homologien), als auch Ähnlichkeiten, die verschiedene Arten unabhängig voneinander – aber in Anwort auf gleiche Umweltanforderungen als Anpassungen entwickelten (Analogien oder Konvergenzen. Die Ethologie, die Humanethologie im besonderen, erforscht somit nicht allein den "angeborenen triebhaften Anteil im menschlichen Verhalten", sondern mit biologischen Fragestellungen auch das kulturell bedingte Verhalten, wobei der Schwerpunkt naturgemäß auf dem Studium stammesgeschichtlicher Anpassungen im menschlichen Verhalten liegt.
Über die Homologieforschung versucht die Ethologie das in einer Art steckende gemeinsame Erbe zu ergründen und zu ermitteln, was an Potential zur Verfügung steht, um daraufhin Evolutionsreihen zu rekonstruieren. Evolution meint dabei die fortschreitende Veränderung in Struktur und Verhalten der Lebewesen. Über die Konvergenz- oder Analogieforschung sollen die besonderen Selektionsdrucke untersucht bzw. ermittelt werden, die bei der Ausbildung bzw. Veränderung der Strukturen und Verhaltensweisen von Lebewesen gewirkt haben. Vor allem durch den Vergleich lebender Arten verschiedener Organisationsstufen, durch den Vergleich von Naturvölkern, "primitiven Völkern", mit zivilisierten Gesellschaften will die Verhaltensforschung angeborene Verhaltensweisen und stammesgeschichtliche Anpassungen ergründen, um daraus Funktionsgesetze abzuleiten. Als wichtigste Funktion wird dabei die der Arterhaltung herausgestellt. Wenn man sagt, eine Struktur oder ein Verhalten haben eine Funktion im Dienste der Arterhaltung zu erfüllen, so ist damit gemeint, daß sie angepaßt sind, also ihre Existenz einem Selektionsdruck verdanken. Das Erkenntnisinteresse richtet sich bei der Ethologie somit auf den Nachweis phylogenetisch (d.h. stammesgeschichtlich) und ontogenetisch (d.h. die individuelle Entwicklungsgeschichte betreffend) vorgegebener, ererbter Determinanten menschlichen wie tierischen Verhaltens.
Am Beispiel der Aggression läßt sich die Art der Fragestellung und methodische Vorgehensweise der Ethologie wie folgt beschreiben. Die Ethologie untersucht,
1) wie aggressiv (Form, Intensität) sich Menschen verhalten;
2) wann, d.h. in welchen Situationen, sie sich aggressiv verhalten, ob sie dies immer in der gleichen Form tun oder nicht.
Diese beiden Fragen werden "vergleichend-beschreibend" beantwortet, wobei die Frage 2 zusätzlich die Bereitschaft zu aggressiven Verhaltensweisen zu messen erlaubt.
3) Warum verhalten sie sich in dieser oder jener Situation so aggressiv und nicht anders? Diese Frage kann Aufschluß geben über bestimmte phylogenetische und ontogenetische Determinanten der Verhaltens.
4) Wozu ist das aggressive Verhalten gut? (womit nach dem Auslesevorteil und Arterhaltungswert des Verhaltens geforscht wird) und schließlich:
5) Ob und wann verhalten sich alle Menschen genau so? Hier wird nach der ererbten Basis der aggressiven Handlung in bestimmten Situation geforscht.
Die Fragen 3 und 5 forschen zusätzlich auch danach, wie viel ein Mensch lernt, also selbst mit den ererbten Mitteln ausprobiert, woher er beim Probieren erfährt, welche Lösung die richtige ist, wie er beim Probieren erfährt, welche Lösung die richtige ist, wie er diese behält, gegebenenfalls auch anderen mitteilt usw. Dies sind durchaus für die Human- und Sozialwissenschaften, die Aggressions- und Gewaltforschung wichtige und interessante Fragestellungen, die jedoch zunächst auch nicht neu sind. Ethnologie und Kulturanthropologie z.B. befassen sich schon immer mit dem Vergleich verschiedener Arten bzw. Kulturen auf unterschiedlicher Organisations- oder Zivilisationshöhe. Der Unterschied besteht allein darin, daß die Ethologie mit biologischen Fragestellungen an solche Untersuchungen herangeht. Viele ihrer Ergebnisse und Ausgangshypothesen gewinnt die Ethologie aus Beobachtungen von Tieren, die dann aber oft vorschnell und unkritisch auf Menschen übertragen werden. Aufgrund ihrer eingeschränkten biologischen Fragestellung fällt es der Ethologie zusätzlich schwer, komplexere (zwischen-) menschliche Zusammenhänge zu erfassen.
Ergebnisse der ethologischen Forschung
Die bedeutendste Entdeckung der Ethologie ist sicherlich die Feststellung des Zusammenspiels angeborener und erworbener Erfahrung im tierischen wie menschlichen Verhalten, kurz das, was Lorenz als "Instinkt-Dressur-Verschränkung" bezeichnet. Wichtige Ergebnisbereiche sind außerdem (Eibl-Eibesfeldt, 1997b):
1) Erkennung der den Instinktbewegungen zugrundeliegenden Spontaneität, eine physiologische Besonderheit, die von den klassischen Reflexologen übersehen worden war.
2) Entdeckung verschiedener Schlüsselreize, die ein bestimmtes Verhalten vor aller Erfahrung auslösen.
3) Erforschung der Phylogenese und Ontogenese angeborener Verhaltensweisen.
4) Entdeckung der Phänomens der "Prägung" als einer angeborenen Lerndisposition.
Unter Schlüsselreizen versteht man Reize, die kennzeichnend sind für eine biologisch relevante Umweltsituation und vom Organismus ohne vorherige Lernvorgänge mit arterhaltend sinnvollen Verhaltensweisen beantwortet werden. Die Spontaneität von Instinkthandlungen besagt, daß Instinkthandlungen, wie z.B. Aggression (die von den Ethologen auch beim Menschen irrtümlicherweise als Trieb bzw. Instinkt bezeichnet wird und normalerweise als Reaktion auf bestimmte Schlüsselreize erfolgt), auch ohne solche Schlüsselreize, ohne Einwirkung äußerer Reize ablaufen können. Wenn z.B. lange Zeit keine Schlüsselreize für den Aggressionsinstinkt vorhanden sind, erniedrigt sich der Schwellenwert der die Aggression auslösenden Reize, bis sie schließlich im Extremfall ohne nachweisbaren Außenreiz als "Leerlaufhandlung" eruptiv hervorbricht, ohne in diesem Fall ihren arterhaltenden Sinn in irgendeiner Weise zu erfüllen (Lorenz faßt dieses Phänomen als "Appetenzverhalten" zusammen). Prägung besagt, daß die auslösenden Reize für eine Instinkthandlung meist irreversibel, d.h. unveränderlich, gelernt (Objektprägung) und Bewegungsmuster ebenfalls irreversibel festgelegt werden (motorische Prägung). Prägung umschreibt also unveränderliche Lernprozesse.
Es ist unbestritten, daß die Ethologen um Lorenz und Tinbergen der Verhaltensforschung wertvolle Impulse gegeben haben und die Bedeutung ethologischer Forschung für die Sozialwissenschaften darf nicht unterschätzt werden, nicht weil wir biologischen Verhaltensbedingungen widerstandslos unterworfen sind, sondern weil sie an der Bestimmung der Verhaltensrichtung einen kaum je ganz zu vernachlässigenden Anteil haben. Die Frage aber bleibt, inwieweit der statische Aspekt ethologischer Fragestellungen der Dynamik menschlicher Verhaltensweisen und Entwicklungen gerecht werden kann und wie es generell um die Konsequenzen für die Natur des Menschen bestellt ist.
Nutzen der Ethologie
Die aktuelle Kontroverse zwischen Ethologie und Sozialwissenschaften bezieht sich zum einen auf das Problem des Mensch-Tier-Vergleichs (Analogieschluß), zum anderen auf die Anlage-Umwelt-Problematik. Die Reduktion aggressiver Handlungen wie auch geschlechtsspezifischer, menschlicher Unterschiede schlechthin auf weitgehend angeborene Verhaltensmuster leistet einer konservativen, statischen Weltsicht Vorschub und wird der entwicklungsgeschichtlichen, sozialhistorischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingtheit und Komplexität menschlichen Handelns und Verhaltens in keiner Weise gerecht. Es verwundert nicht, daß ethologische Literatur dieser Provenienz immer zu Zeiten, da konservative gesellschaftliche Stimmungslagen Hochkonjunktur haben, auf dem Buchmarkt dominieren. Aber bei aller Kritik: Die Ethologie liefert durchaus auch für die Sozialwissenschaften fruchtbare Erkenntnisse, und es wäre fatal, würden diese aufgrund der durchaus berechtigten, zum Teil Teil heftigen Kritik nicht zur Kenntnis genommen. So ist der Hinweis auf das phylogenetische Erbe der Menschen ein wichtiger Beitrag der Ethologie für die Sozialwissenschaften – vor allem, wenn man an den Behaviorismus Skinnerscher Prägung denkt. Hier ist die ethologische Forschung in Zukunft gefordert.
So hat Horn (1973) zu Recht in Anspielung auf die lern- und sozialpsychologische Kritik am triebtheoretischen Konzept (Triebtheorie) darauf hingewiesen, daß die Annahme einer unendlichen Plastizität menschlicher Natur einen ähnlichen Effekt haben kann wie die Rede vom Aggressionstrieb. Es wird nämlich den Individuen allein zur Last gelegt, wenn sie die Anpassungsleistung an vorliegende Normen nicht erbringen. Bei der völligen Vernachlässigung des Naturmoments des Menschen ist die Anpassungsforderung sogar noch weitaus radikaler, denn es bleibt dann in aller Regel der persönlichen Entscheidung des Forschers überlassen, ob er darüber hinaus noch die Frage nach den Normen stellen will, denen sich die Individuen beugen sollen! Der Mensch ist weder eine Marionette in der Hand von Trieben, noch ein Rohdiamant, der lediglich der Konditionierung bedarf. Menschliches Verhalten ist auch biologisch, phylogenetisch mitbestimmt. Im Aufdecken dieser phylogenetischen Mitbedingtheit ist die Notwendigkeit und Relevanz ethologischer Forschung für die Sozial- und "Menschen-"Wissenschaften begründet. Die Hauptproblematik der Kontroverse zwischen Ethologie und Sozialwissenschaften scheint denn auch weniger in der Anlage-Umwelt-Problematik zu liegen, als vielmehr in der Verallgemeinerung ethologischer Erkenntnisse und in der oft geringen Zurkenntnisnahme sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Ethologie und Sozialwissenschaften könnte für beide Wissenschaftsbereiche eine fruchtbare Wende einleiten. Die Mitte der 70er Jahre aufkommende Disziplin der Soziobiologie (Wilson, Barash) scheint dabei einen Weg zu weisen, wie man der Komplexität menschlichen Verhaltens gerecht werden kann.
Literatur
Eibl-Eibesfeldt, I. (1997 a). Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung (4. erw. Aufl.). München: Piper.
Eibl-Eibesfeldt, I. (1997 b). Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie (4. Aufl.). München: Piper.
Hoen, K. (1973). Die gesellschaftliche Produktion der Gewalt. Leviathan, 1 (3), 310-348.
Scherer, K .R., Stahnke, A. & Winkler, P. (Hrsg.). (1987). Psychobiologie. Wegweisende Texte der Verhaltensforschung von Darwin bis zur Gegenwart. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Wickler; W. (1974). Antworten der Verhaltensforschung. München: Kindler.
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