Lexikon der Psychologie: Humanistische Psychologie
Essay
Humanistische Psychologie
Jürgen Kriz
Theoretischer Hintergrund und Hauptrichtungen
Die Humanistische Psychologie wird neben Psychoanalyse und Behaviorismus oft als ,,Dritte Richtung" oder ,,Dritte Kraft" in der Psychologie bezeichnet. Humanistische Psychologie meint einen eher lockeren Verbund unterschiedlichster Ansätze, die weniger durch eine gemeinsame Theorie als durch ein hinreichend gleichartiges Menschenbild und einige grundsätzliche Übereinstimmungen in den Prinzipien therapeutischer Arbeit verbunden sind. Typisch ist die Orientierung an einer holistischen Sichtweise – also die Betonung von "top-down" im Gegensatz zu "bottom-up" Wirkungen. Beeinflußt von der Sichtweise der sog. Organismischen und der Gestaltpsychologie wird der Tatsache Rechnung getragen, daß viele Phänomene, die gerade für den Menschen und seine Lebenswelt wesentlich sind, sich nicht als Summe von Einzelelementen erklären lassen, sondern als Aspekte eines ganzheitlichen, organisch-dynamischen Geschehens begriffen werden müssen. Diese Sicht gewinnt heute im Rahmen Systemischer Therapie und durch die interdisziplinäre, naturwissenschaftlich fundierte Systemforschung allgemein wieder an Gewicht.
Die gleichwohl beachtliche theoretische Heterogenität der Humanistischen Psychologie ist historisch allein schon daraus zu erklären, daß sie als Sammelbewegung für ziemlich unabhängig voneinander entwickelte und ausdifferenzierte Ansätze entstanden ist. Die Hauptvertreter-- u.a. Charlotte Bühler, Abraham Maslow, Carl Rogers – gründeten erst 1962 in den USA die ,,Gesellschaft für Humanistische Psychologie". Dies geschah nicht zuletzt deshalb, um sich explizit gegen das (eher) monokausale, mechanistische und deterministische Verständnis des Menschen auf biologistischer (Psychoanalyse) oder Reiz-Reaktions-mechanistischer (Behaviorismus) Basis abzugrenzen.
Zu den therapeutischen Hauptrichtungen der Humanistischen Psychologie gehören die Gestalttherapie (Fritz Perls) und die Gesprächspsychotherapie bzw. klientzentrierte Psychotherapie (Carl Rogers), aber auch das Psychodrama (Iacov Moreno) und die Logotherapie und Existenzanalyse (Viktor Frankl u. Alfried Längle) werden hier öfter genannt.
Philosophischen Wurzeln der Humanistischen Psychologie
1) Existentialismus (Martin Buber, Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Gabriel Marcel, Paul Tillich), der jenseits von absoluten Werten, festen Normen, Rollen und Fassaden den ,,wirklichen" Menschen, in seiner eigentlichen und ,,nackten" Existenz sucht. Fragen nach dem Sein und dem Sinn der Welt werden nicht mehr im Hinblick auf ewig gültige Antworten sondern in der Dimension der Zeit gesehen, wobei sich der Mensch in Vereinzelung, Sorge und Angst immer wieder selbst in Frage stellen muß und sich immer auf dem Weg des Selbstwerdens befindet. Das traditionell vorgegebene ,,Wesen des Menschen", das eine ,,objektive" Dimension der Existenz eröffnet hatte, wird also bezweifelt; statt dessen kann der Mensch nur von ,,innen her", autonom, in seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit begriffen werden. Der existentiell gelebte und erfahrene Augenblick gewinnt zentrale Bedeutung – nicht das, was der Mensch ist, sondern das, wozu er sich jeweils durch die Tat macht, ist sein Wesen. Durch diese Verantwortung und den Entscheidungsspielraum wird gleichzeitig aber auch Autonomie, Identität und menschliche Würde möglich. Buber weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß für den Menschen nicht nur der Bezug zur Welt sondern vor allem auch die Ich-Du-Beziehung als ,,Begegnung" von Bedeutung ist.
2) Phänomenologie (Edmund Husserl, Max Scheler), die von der sinnlichen Erfahrung des Menschen ausgeht und hinter der Abfolge von Erscheinungen deren eigentliches Wesen sucht. Von Hegel ausgehend versucht Husserl einen neuen Objektivismus durch eine dem Menschentum eingeborene Vernunft in der Erfahrung selbst zu begründen.
3) Klassischer Humanismus (Herder), der zunächst in der Renaissance als Gegenströmung zum mittelalterlichen Dogmatismus den,,neuen Menschen" als Individuum und in seiner Einmaligkeit (wieder) entdeckte; in Nachahmung griechischer und römischer Lebensformen wurde das selbst-verwirklichte Individuum, das ,,jenseits von Gut und Böse" steht, glorifiziert – z.B. auch in Nietzsches ,,Übermenschen". Im 18. und 19. Jahrhundert wurden von Herder und anderen idealistischen Philosophen bürgerliche Erziehung und humanistische Bildung als Ideal für eine emanzipatorische Entwicklung des Menschen betrachtet. Demgegenüber stellt aber der sozialistische Humanismus durch Karl Marx u.a. die Emanzipation des Einzelnen in Frage – ,,wahre Humanität könne nur durch revolutionäre Anstrengung der Arbeiterklasse erreicht werden".
4) Humanismus moderner französischer Prägung, der im phänomenologischen und existentiellen Kontext entwickelt wurde (durch Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Albert Camus). Der phänomenologischen Wahrnehmungstheorie wird hier u.a. gleichrangig eine ,,Philosophie des Leibes" gegenübergestellt. Ins Zentrum der Betrachtung wird die Mensch-Umwelt-Beziehung gerückt, das ,,Sein zur Welt" (Merleau-Ponty), das immer ein intentionales ist, d.h. menschliches Erkennen und Verhalten ist bewußtseinsmäßig intendiert, bezieht sich auf eine Umwelt, die immer schon vom Menschen strukturiert und verändert ist (wobei der Arbeit ein besonderer Stellenwert zukommt), und erhält hierdurch Wert und Sinn.
Psychologische Wurzel der Humanistischen Psychologie
Als psychologische Wurzel war besonders die Gestaltpsychologie der Berliner Schule wichtig (Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, Kurt Lewin, und Kurt Goldstein). Aber auch auf anderen Wegen fanden holistische Konzepte, die von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise ausgehen, starken Einfluß auf die Entwicklung der Humanistischen Psychologie. Der Begriff "Holimus" (von gr. "holos" = ganz, vollständig) wurde von dem südafrikanischen Staatsmann, General und Philosophen Jan Smuts geprägt und in Amerika im Rahmen der "Organismischen Psychologie" ausdifferenziert. Der Gestaltpsychologe, Neurophysiologe und Psychiater K. Goldstein, in Frankfurt Klinik-Chef von F. Perls, betonte die Einheit des Organismus und dessen Fähigkeit zur Selbstregulation indem er z.B. nachwies, daß ein Organismus ein nicht mehr funktionstüchtiges Körperteil in einer ganzheitlichen Umorganisation der verbliebenen Teile kompensiert. Mit dieser ,,Tendenz zu geordnetem Verhalten" erklärt er, warum ein Organismus auch dann oft weiter existieren kann, wenn er erhebliche Beeinträchtigungen erfahren mußte. Auf der Basis weitreichender Erfahrungen mit hirnverletzten Soldaten aus dem 1. Weltkrieg stellte Goldstein die Tendenzen zur Selbstregulierung und zur "Selbst-Aktualisierung" heraus (ein Begriff, der später in der Klientzentrierten Psychotherapie von Carl Rogers ebenfalls bedeutsam wurde; Gesprächspsychotherapie), womit er die selbstorganisierte Realisierung inhärenter Potentiale und Entfaltung meinte. Der Organismus braucht demnach für seine Ordnung also keinen externen "Organisator", sondern in Relation zur Umwelt strebt der dynamische Prozeß selbst zu einer angemessenen Ordnung, bei der die inneren Möglichkeiten und äußeren Gegebenheiten dynamisch zu einer ganzheitlichen Gestalt abgestimmt werden. Veränderung dieser dynamischen Ordnung wird von Goldstein beschrieben als eine Reorganisation einer alten Struktur (pattern) zu einer neuen und effektiveren Struktur. Diese Konzepte sind deshalb besonders bemerkenswert, weil man heute, im Lichte moderner naturwissenschaftlich fundierter Systemtheorie die zentralen Konzepte genau so formulieren würde. Auch eine andere Leitpersönlichkeit der "Organismischen Psychologie", Andras Angyal, der 1927 an der Universität Wien promovierte (ein Jahr nach Ludwig von Bertalanffy, dem späteren Begründer der "Gesellschaft für Systemforschung"), sprach bereits explizit von "Systemen" als holistischen Einheiten der "Biosphäre" (ein noch heute wichtiger Begriff, den er prägte).
Menschenbild und therapeutische Arbeitsprinzipien
Neben der Ganzheit sind Autonomie und soziale Interdependenz, Selbstverwirklichung sowie Ziel- und Sinnorientierung zentrale gemeinsame Kennzeichen des Menschenbildes in der Humanistischen Psychologie. Ihre therapeutischen Arbeitsprinzipien lassen sich gut durch die "Kennzeichen der Arbeit am Lebendigen" nach Wolfgang Metzger (1962) skizzieren:
1) Nicht-Beliebigkeit der Form: Man kann Lebendigem ,,auf die Dauer nichts gegen seine Natur aufzwingen"; man ,,kann nur zur Entfaltung bringen, was schon in dem ,Material' selbst an Möglichkeiten angelegt ist".
2) Gestaltung aus inneren Kräften: ,,Die Kräfte und Antriebe, die die angestrebte Form verwirklichen, haben wesentlich in dem betreuenden Wesen selbst ihren Ursprung
3) Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeiten: Man kann nicht beliebig mit der Pflege warten; Lebendiges hat eigene fruchtbaren Zeiten und Augenblicke, in denen es bestimmten Arten der Beeinflussung, der Lenkung oder der Festlegung zugänglich ist.
4) Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit: Prozesse des Wachsens, Reifens, etc. haben ihnen jeweils eigentümliche Ablaufgeschwindigkeiten.
5) Die Duldung von Umwegen und
6) Die Wechselseitigkeit des Geschehens.
Literatur
Metzger, W. (1962). Schöpferische Freiheit. Frankfurt: Kramer.
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