Lexikon der Psychologie: Psychoanalyse
Essay
Psychoanalyse
Wolfgang Mertens
Unter Psychoanalyse versteht man die auf Sigmund Freud (1856 – 1939) zurückgehende Bezeichnung für eine Erkenntnismethode, eine Theorie über die Entstehung und die Auswirkung unbewußter psychischer Prozesse sowie ein therapeutisches Verfahren. Freud gilt auch als der Begründer der Tiefenpsychologie, zu der neben seiner Lehre die Adlersche Individualpsychologie und die Jungsche Analytische Psychologie gehören. In der Gegenwart wird die Tiefenpsychologie immer stärker mit der Psychoanalyse gleichgesetzt, da sowohl die Individualpsychologie als auch die Analytische Psychologie diverse Amalgamierungen mit neueren Theorieströmungen der Psychoanalyse eingegangen sind. Insbesondere die von Heinz Kohut begründete Selbstpsychologie ermöglichte es Adlerianern und Jungianern, sich wieder als Psychoanalytiker zu verstehen. Neben der Selbstpsychologie existieren noch andere Weiterentwicklungen der klassischen Trieb- und Strukturtheorie, wie z.B. die Ich-Psychologie, die Objektbeziehungstheorien, die interpersonelle Psychoanalyse.
Stellenwert der Psychoanalyse
Die moderne Psychoanalyse umfaßt Teildisziplinen wie die Allgemeine und Spezielle Krankheitslehre, Psychosomatik, Behandlungstechnik, Entwicklungspsychologie, Kulturtheorie, Sozialpsychologie, Methodologie und das weite Feld der Angewandten Psychoanalyse, wie z.B. in der Pädagogik, Organisationspsychologie, Ethnologie (Ethnopsychoanalyse), Literaturwissenschaft. Unter Metapsychologie verstand Freud eine Konstruktebene, die über die rein deskriptiven Sachverhalte z.B. der klinischen Theorieebene hinausgeht und Erklärungen bereitstellt, die auch anschlußfähig an benachtbarte Wissenschaften wie Biologie und Neurowissenschaften sind. Die Psychoanalyse hat das intellektuelle und kulturelle Leben des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen der westlichen Welt stark geprägt. Die von Freud inaugurierten Hypothesen und Erkenntnisse, die von der Psychologie des Alltags bis hin zur Institutionenkritik reichen, haben auf viele humanwissenschaftliche Disziplinen und ihre Anwendungen sehr befruchtend gewirkt. Die von ihm entwickelten Gedanken zur therapeutischen Veränderung psychischen Leids sind in viele, keineswegs nur psychoanalytische Therapieformen eingeflossen; in der pädagogischen Praxis haben sie die Kindererziehung in vielerlei Hinsicht beeinflußt.
Kritik an der Psychoanalyse
Für Außenstehende, gilt die Psychoanalyse, die mit dem klassischen Werk Freuds gleichgesetzt wird, als überholt. Tatsächlich wird die Psychoanalyse in ihren diversen Weiterentwicklungen aber weltweit gelehrt und praktiziert.
Dennoch hat die relative Geschlossenheit der psychoanalytischen Theorie und ihr über Jahrzehnte gleichmäßiger Einfluß auf die Human- und Sozialwissenschaften immer wieder kritische Stimmen auf den Plan gerufen. Diese reichen vom Vorwurf des Pansexualismus, der moralischen Zersetzung, der Immunisierung im Sinne einer Unmöglichkeit der Falsifizierung ihrer Hypothesen (Karl Popper) bis hin zu der Kritik, daß die Psychoanalyse ihre Hypothesen, die durchaus falsifizierbar seien, noch nicht ausreichend einer empirisch positivistischen Überprüfung ausgesetzt habe (Adolf Grünbaum). Die zuletzt genannte Einschätzung spiegelt die Einseitigkeit einer wissenschaftstheoretischen Position wider, deren szientistische Methodologie gerade nicht der erkenntnistheoretischen Position der Psychoanalyse gerecht werden kann. Dies schließt aber keineswegs aus, daß vereinzelt Hypothesen auch mit herkömmlichen quantitativen Methoden überprüft werden können, wie z.B. in der psychoanalytischen Psychotherapieforschung (Forschungsmethoden).
Methodik
Gleichwohl stellt der psychoanalytische Umgang mit einem Problembereich erhebliche konzeptuelle und diagnostische Anforderungen. Gegenwärtiges Erleben und Handlungen müssen vor dem Hintergrund des bisher erfahrenen Lebenszusammenhanges eines Menschen studiert werden; die biographische Dimension wird nur angemessen erfaßt, wenn man auch die kulturellen und geschichtlichen Faktoren, in der die Sozialisation des Betreffenden stattgefunden hat, hinreichend berücksichtigt. Die Äußerungen und Erzählungen einer Person sind dabei nicht unmittelbar Indikatoren für das tatsächlich Erlebte, sondern in unterschiedlichem Ausmaß von Selbsttäuschungen durchzogen. Das Selbstverständnis eines Menschen geht nicht in seiner rationalen Einschätzung auf, sondern ist von unbewußten emotionalen und körperlichen Prozessen durchwirkt, was heutzutage auch immer stärker in den Kognitionswissenschaften erkannt wird, die mittlerweile von einer “embodied cognitive science” sprechen. Häufig wird Psychoanalyse lediglich mit einem therapeutischen Verfahren gleichgesetzt. Freud verstand unter Psychoanalyse aber auch und vor allem eine Methode, das Unbewußte bewußt zu machen und eine Theorie über die Entstehung und die Auswirkung unbewußter psychischer Prozesse. Bei der Entwicklung seiner Methodik, Unbewußtes bewußt zu machen, ließ Freud sich von einer für damalige Verhältnisse revolutionären Gegenstandsbestimmung leiten: Seine systematische Beschreibung eines dynamischen Unbewußten, das dem Bewußtsein nicht, auch nicht durch noch so große Aufmerksamkeitsanstrengung und den forcierten Versuch, sich zu erinnern, zugänglich wird, markiert den Beginn einer Psychologie, die eine enorme Ausweitung jenseits der Grenzen des Bewußtseins vorgenommen hat. Zugleich postulierte Freud damit auch eine neue Theorie über den menschlichen Geist, die von postmodernen Erkenntnistheorien gerade erst eingeholt wird: Sowohl der rationalistische Glaube an die Macht des Intellekts als auch der empiristische Glaube an die Zuverlässigkeit der Sinnesorgane und der Wahrnehmung wurde von ihm erschüttert. Denn der Rationalismus wie auch der Empirismus gehen davon aus, daß die Auswirkungen des Körperlichen, der Leidenschaften, von sozialen Autoritäten oder Denkgewohnheiten entweder kraft reinen Denkens oder aufgrund vorurteilsloser intersubjektiver Beobachtungen oder Experimente aufgehoben werden können. Die Psychoanalyse hat jedoch berechtigte Zweifel an der Möglichkeit geäußert, eine vom Körperlichen, Emotionalen, Leidenschaftlichen unabhängige Erkenntnis, sei es auf dem Wege des Denkens, sei es aufgrund empirischer Methoden, zu erlangen. Vielmehr sind wir als erkennende Menschen immer beeinflußt von Kräften, die nicht unserer bewußten Kontrolle unterstehen. Erkenntnis muß deshalb immer als perspektivisch, unvollständig und abhängig begriffen werden. Unbewußte psychische Einflüsse kodeterminieren unsere Erkenntnis, auch wenn wir sie noch so als rational logisch oder empirisch gut begründet erleben. Rationale und objektive Begründungen stellen sich aus psychoanalytischer Sicht deshalb allzuoft als Rationalisierungen, als vernünftig und sozial akzeptabel erscheinende Erklärungen heraus.
Müssen wir deshalb das Streben nach Wahrheit und die Möglichkeit der Bestätigung von Hypothesen als wahr oder falsch aufgeben? Für die psychoanalytische Erkenntnistheorie ist diese von Wissenschaftstheoretikern empfohlene und von den Einzelwissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaft übernommene Erkenntnishaltung des Strebens nach Wahrheit kein primäres Anliegen. Vielmehr geht es ihr darum, die Wahrheit des Einzelnen, seine individuelle, lebensgeschichtlich geprägte Wahrheit, die in unterschiedlichem Ausmaß verschüttet und verborgen sein kann, zur Geltung zu bringen.
Therapeutische Techniken
Auch heute noch ist es der Psychoanalyse ein Anliegen, biographisch und gesellschaftlich bedingtes psychisches Leiden von Menschen zu lindern. Nicht zu Unrecht hat man deshalb die Psychoanalyse als eine Theorie der Revolution bezeichnet, denn ihr geht es darum, unterdrückte und verkümmerte Erlebnispotentiale eines Menschen zu befreien. Aus klinisch therapeutischer Sicht versuchte Freud die Befreiung zunächst mit manipulativen Techniken, z.B. durch hypnotische Suggestion, Handauflegen und verhaltenspädagogische Maßnahmen, bis er nach und nach entdeckte, daß, sofern er nur seinen Patienten die Aktivität überließ, diese selbst die verborgenen Ursachen ihrer neurotischen Störungen in der Übertragung agierten. So war der Weg von der kathartischen Methode des Abreagierens hin zur eigentlichen psychoanalytischen Methode bereitet, die von Freud selbst als "Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten” (Freud, 1914) bezeichnet wurde. In dieser Einstellung ist der wichtige und für die Psychoanalyse seitdem maßgebliche Gedanke enthalten, daß Gefühle, Ängste und Phantasien ein Gegenüber brauchen, das in seinem Erleben die pathogenen Erfahrungen aufnimmt und die darin enthaltenen unbewußten Interaktionsszenen entschlüsselt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt gilt die Psychoanalyse als die Wissenschaft von den unbewußten Beziehungen, zumeist mit dem Fachausdruck von Übertragung/Gegenübertragung bezeichnet. Nur die Aufhebung der herkömmlichen objektivierenden Epistemologie ermöglicht das Erfassen der für das Bewußtsein sonst unbewußt bleibenden Bedeutungen im kommunikativen und interaktiven Handeln. Dennoch hat sich auch bei diesem zentralen Topos eine wichtige Änderung im Laufe dieses Jahrhunderts ergeben: War es für Freud noch in Anlehnung an die naturwissenschaftlich geprägte Methodologie seiner Zeit wichtig, die Übertragung zwar zu identifizieren, aber dennoch davon wie ein unparteiischer Beobachter unberührt zu bleiben, so sind heutige Psychoanalytiker davon überzeugt, daß dies nicht möglich ist. Sowohl der Fortschritt erkenntnistheoretischen Reflektierens als auch empirische Untersuchungen haben diesem Unberührbarkeits-Axiom die Grundlagen entzogen: Auf subtile Weise agiert und reagiert der Analytiker, z.B. als Kliniker, immer schon auf die Gesprächsangebote seines Gegenübers; Studien über das Affektdisplay und nonverbale körperliche Ausdrucksphänomene legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Übertragung und Gegenübertragung sind miteinander verschränkt, und die Reflexion des Einflusses, den ein Therapeut auf seinen Patienten ausübt, wird somit von zentraler Bedeutung.
Menschenbilder
Psychoanalyse als Theorie unbewußter Prozesse in der Entwicklung der Persönlichkeit, bei der Entstehung von Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und psychosomatischen Erkrankungen aufgrund von unbewältigten Traumatisierungen (Trauma) und Konflikten thematisiert überwiegend die unbewußten Motive und Intentionen menschlichen Handelns. Bewußt-rationales Handeln als Thema der Psychologie und das nicht bewußt ablaufende, organismische oder neuronale Geschehen als Gegenstand der Kognitionspsychologie und Neurowissenschaften ist hingegen von nachgeordnetem Interesse. Die Psychoanalyse geht davon aus, daß man auch in den idealsten Fällen bezüglich der Unterstellung von Rationalität als permanenter Disposition Vorsicht walten lassen sollte oder mit anderen Worten, daß rationales Handeln – unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen – eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Auch wenn das Menschenbild der klassischen Psychoanalyse heute – vor allem durch die psychoanalytische Kleinkindforschung und deren Postulat eines neugierigen und kompetenten Säuglings (Neugeborenes, kompetentes) – eine kräftige Korrektur erfährt, ist selbst die moderne Psychoanalyse weit davon entfernt, das Menschenbild eines homo rationalis zugrundezulegen. Auch das von der Computermetapher inspirierte Informationsverarbeitungs-Modell der meisten gegenwärtigen psychologischen Theorien wird nach psychoanalytischer Auffassung der Wirklichkeit menschlichen Erlebens und Handelns nur in Teilbereichen gerecht. Selbst wenn gesellschaftliche Machtverhältnisse, Ideologien und fundamentalistische Glaubenssysteme abgeschafft werden könnten, würde dennoch eine Notwendigkeit zur Selbstreflexion und zur Emanzipation von solchen Bedeutungen bestehen, die zu überflüssigen Handlungs- und Erlebniseinschränkungen führen. Denn Menschen generieren grundsätzlich mehr Bedeutungen, als sie zu verstehen und handhaben wissen. Und weil dies stets aufs Neue eine ärgerliche Tatsache darstellt, ist darin vermutlich auch der Hauptgrund dafür zu erblicken, daß Psychoanalyse bis zum heutigen Tag immer wieder attackiert wird. Menschen sind sich nicht für sich selbst durchsichtig, können ihre Handlungsweisen nicht lückenlos nach rationalen Motiven erklären, geschweige denn prognostizieren. Die von Freud als narzißtische Kränkung bezeichnete Annullierung des Cartesianischen Selbstverständnisses, in dem die bewußte Verfügung über die Intentionalität das einzig Gewisse ist, hat deshalb auch ein Jahrhundert nach Freuds Schöpfung der Psychoanalyse immer noch Gültigkeit.
Literatur
Krause, R. (1997/98). Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre. 2 Bände. Stuttgart: Kohlhammer.
Kimmerle, G. (1997). Der Fall des Bewußtseins. Zur Dekonstruktion des Unbewußten in der Logik der Wahrheit bei Freud. Tübingen: Edition diskord.
Kurzweil, E. (1993). Freud und die Freudianer. Geschichte und Gegenwart der Psychoanalyse in Deutschland, Frankreich, England, Österreich und den USA. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse.
Mertens, W. (1990/1). Einführung in die psychoanalytische Therapie. 3 Bände. Stuttgart: Kohlhammer.
Mertens, W. (1997). Psychoanalyse. Geschichte und Methoden. München: Beck.
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