Lexikon der Psychologie: Gestalttherapie
Essay
Gestalttherapie
Christoph Schmidt-Lellek
Begriffsklärung und Entwicklungsgeschichte
Der Begriff"Gestalttherapie" umfaßt heute psychotherapeutische Vorgehensweisen mit einer relativ großen Variationsbreite der theoretischen Orientierung sowie praktischen Vorgehensweisen und Anwendungsfelder. Die Gestalttherapie geht in ihren Grundlagen vor allem auf den Psychiater Friedrich Salomon Perls (1893-1970) zurück. Als Psychoanalytiker in Berlin ausgebildet und zunächst als solcher praktizierend, entwickelte er nach der Emigration (1933) und nach dem Bruch mit Sigmund Freud (1936) in Südafrika und in den USA gemeinsam mit seiner Frau Lore Perls (1905-1990), Psychologin und gleichfalls Psychoanalytikerin, sowie dem Sozialphilosophen und Alternativpädagogen Paul Goodman (1911-1972) die Basis der Gestalttherapie. Darin sind teilweise das Gedankengut der Gestalttheorie bzw. Gestaltpsychologie, der Psychoanalyse, der Phänomenologie, des Existenzialismus sowie methodische Elemente aus dem Psychodrama eingegangen.
Die unterschiedlichen Ausprägungen haben ihren Grund zum einen in der prinzipiellen Offenheit für Weiterentwicklungen (F. Perls: "There is no end of integration") und der relativ geringen dogmatischen Festlegung ihrer theoretischen Konzepte. Zum anderen liegt der Grund in der Entwicklungsgeschichte: In den USA stand in den 50er und 60er Jahre eine eher selbsterfahrungsorientierte Ausrichtung ("Westküstenstil") einer klinisch-psychotherapeutischen Orientierung ("Ostküstenstil") gegenüber. Beide Entwicklungen lassen sich auch heute in Deutschland wiedererkennen. Allerdings hat die klinisch-psychotherapeutische Ausrichtung der Gestalttherapie zunehmend an Bedeutung gewonnen. Sie wird als Einzel- und als Gruppentherapie praktiziert.
Theoretischer Hintergrund
Auch in theoretischer Hinsicht lassen sich unterschiedliche Stränge feststellen: Auf der einen Seite steht eine klassisch zu nennende Orientierung mit dem Fokus auf dem Kontakt-Prozeß (Zinker, 1977), auf der anderen Seite eine tiefenpsychologische Orientierung, u.a. mit einem Rückbezug auf psychoanalytische Autoren, insbesondere W. Reich, S. Ferenczi und O. Rank. Eine integrative Orientierung, welche die verschiedenen Perspektiven zu verbinden sucht (z.B. Petzolds Weiterentwicklung zu einer "Integrativen Therapie"; Rahm et al., 1993), dürfte für die weitere Entwicklung der Gestalttherapie (ebenso wie für die Psychotherapie generell) in Zukunft eine maßgebende Bedeutung erlangen. Neben der Psychotherapie sind Fortentwicklungen als Gestalt-Beratung, Gestalt-Pädagogik, Gestalt-Seelsorge, Gestalt-Supervision u.a. zu benennen; ebenso wurden Spezifizierungen der Gestalttherapie z.B. für die Kinderpsychotherapie (Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie) Gerontopsychotherapie (Gerontopsychologie), Paar- und Familientherapie (Familie, Systemische Therapie, Psychotherapie) oder Drogentherapie (Sucht) entwickelt.
Den verschiedenen Orientierungen und Weiterentwicklungen gemeinsam ist das Bemühen um eine ganzheitliche ("holistische") Perspektive und Behandlungsmethodik, wie es der von der Gestalttheorie (Walter 1977) bzw. der Gestaltpsychologie übernommene Gestalt-Begriff impliziert: Der Mensch ist Geist-Seele-Leib-Subjekt, das in einem ökologisch-sozialen Umweltfeld eingebettet ist; als solches ist er in seinen historischen Dimensionen mit den (individuellen und kollektiven) Prägungen der Vergangenheit ebenso wie mit seinen Zukunftsentwürfen als die Gegenwart konstituierend zu verstehen. Dementsprechend umfaßt die Praxis kognitive, emotionale und leiborientierte Interventionen. Ihr Krankheitskonzept unterstellt, daß entsprechend der lebenslangen Entwicklung des Menschen in allen Lebensphasen mit krankheitsauslösenden Konflikten zu rechnen ist und daß die Ursachen für psychische Störungen nicht allein in frühkindlichen Triebkonflikten zu suchen sind.
Die Gestalttherapie in ihrer weiterentwickelten integrativen Form vereinigt heute Ansätze der Humanistischen Psychologie, der Tiefenpsychologie (Psychoanalyse), der Lerntheorie (Lernen) sowie der Systemischen Therapie: Von der Humanistischen Psychologie hat sie den phänomenologisch-erfahrungsgeleiteten Zugang, den gegenwarts- und beziehungsorientierten Brennpunkt, die Gewichtung des Wachstumstheorems und die existentielle Wertorientierung übernommen; von der Tiefenpsychologie das psychodynamische Verständnis aktueller Konflikte und die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung; von der kognitiven Verhaltenstherapie nutzt sie die lerntheoretisch begründete Vorgehensweise bei der Aneignung personaler Kompetenzen; und im Sinne des Systemischen Ansatzes sieht sie die Vernetzung der Person in die umgebenden familialen, sozialen und politisch-ökonomischen Systeme.
Methodische Vorgehensweise und Wirksamkeit
Gestalttherapie arbeitet beziehungsorientiert im Hier und Jetzt, d.h. sie fokussiert auf die Awareness für die Phänomene, wie sie gegenwärtig im eigenen Leib und in dem Beziehungsgeschehen der therapeutischen Situation erlebt werden bzw. sich darin widerspiegeln. Ihre Methoden dienen dazu, die Spuren abgedrängter psychischer Inhalte aufzunehmen, den inneren Kontakt mit bisher abgewehrtem psychischem Material wieder herzustellen und es zu integrieren. Bekannt ist sie dabei für ihre erlebnis-aktivierenden, szenisch gestalteten inneren Dialoge (z.B. durch die Arbeit mit leeren Stühlen), ferner für das Einsetzen von künstlerisch-kreativen Ausdrucksmitteln. In methodischer Hinsicht verfügt die Gestalttherapie über eine breite Palette. Auf dem Gebiet der konfliktbedingten Störungen (Neurosen) dienen die erlebnisaktivierenden Methoden dazu, den aktuellen oder aktualisierten Konfliktherd zielsicher aufzuspüren und einer Bearbeitung zuzuführen. Menschen mit einer brüchigen Persönlichkeitsstruktur (frühe Störungen) profitieren in der Gestalttherapie von deren strukturaufbauendem Potential, ihrer zentrierenden, schützenden, haltgebenden und stabilisierenden Fähigkeit. Dies gilt ebenso für traumatisierte Menschen (Psychotraumatologie). Für sie stehen Möglichkeiten bereit, zunächst ihren "Boden" wieder zu finden, ferner die belastenden Erinnerungen bewußt und steuerbar auf den vorläufig noch notwendigen Abstand zu bringen und danach erst im Schutzraum der therapeutischen Beziehung und in einem ihnen angemessenen Tempo die Konfrontation schrittweise zuzulassen. Dabei kann die Veränderung des Bedeutungsrahmens eines solchen Erlebnisses sehr hilfreich sein. Die Gestalttherapie wird in ihrem methodischen Vorgehen jeweils dem Entwicklungsstand des Patienten/Klienten angepaßt. Ein übergreifendes Ziel dabei ist Entwicklung, Wachstum und Reifung der Persönlichkeit.
Auch aus der vielschichtigen therapeutischen Beziehung werden, der jeweiligen Situation und Problematik entsprechend, verschiedene Beziehungsanteile in den Vordergrund geholt. Dabei sind zu unterscheiden (nach L. Hartmann-Kottek): 1) die Realbeziehung zum Patienten (inkl. der Auswirkung seiner Abwehrformation), 2) die Dimension von Übertragung und Gegenübertragung, 3) der Kontakt zu dem im neurotischen Konflikt steckengebliebenen Persönlichkeitsanteil (meistens ein Kind-Ich-Anteil), 4) die "Ich-Du"-Kontaktebene von Wesenskern zu Wesenskern (nach M. Buber), 5) das Arbeitsbündnis, 6) die Expertenebene des Therapeuten, z.B. beim Anregen eines Rollenspiels etc. Die Gestalttherapie arbeitet auf der Beziehungsebene auf eine emotional klare, realistische Beziehungsfähigkeit hin und löst deshalb relativ früh Übertragungsphänomene ab, wenn dies möglich und sinnvoll ist. Sie nutzt letztere über szenisches Assoziieren als "Königsweg" zur krankmachenden Ursprungsbeziehung, die sie im innerseelischen Rollenspiel wiederbelebt und weiterentwickelt. Der Therapeut, der in der Gestalttherapie von der Übertragungsneurose weitgehend entlastet ist, kann, wenn erforderlich, dem an seinem Problem arbeitenden Klienten auf einer der anderen Beziehungsebenen zur Verfügung und zur Seite sein. Das gibt der Therapie bzw. dem Patient eine große Sicherheit.
Die Wirksamkeit der Gestalttherapie mit ihrer Gefühl, Verstand und Leiblichkeit ansprechenden Vorgehensweise ist inzwischen in mehreren Studien wissenschaftlich mit signifikanten, zeitstabilen Ergebnissen nachgewiesen. Dabei wird insbesondere die "prozessuale Aktivierung" bzw. die "unmittelbare Erfahrung" hervorgehoben, die generell als wesentliches Wirkprinzip der Psychotherapie anzusehen sind und die seit je ein maßgebliches Ziel der gestalttherapeutischen Methoden darstellen.
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