Direkt zum Inhalt
Login erforderlich
Dieser Artikel ist Abonnenten mit Zugriffsrechten für diese Ausgabe frei zugänglich.

Linguistik: Uralter Körpercode

Im Golf von Bengalen sind noch wenige Menschen einer Sprache mächtig, die zu den Wurzeln der Sprachentwicklung führen könnte. Denn vor Zehntausenden von Jahren verstanden Menschen ihre Welt als menschlichen Körper und fassten sie entsprechend in Worte.
Verschlüsseltes Wissen

An einem Morgen im Dezember 2004, auf Strait Island im Golf von Bengalen: Eine Gruppe jüngerer und älterer Menschen spazierte die Küste entlang, als einem von ihnen etwas sehr Seltsames auffiel. Der Meeresspiegel lag ungewöhnlich niedrig, und Tiere aus den Tiefen des Ozeans schwammen nahe der Wasseroberfläche. »Sare ukkuburuko!« – das Meer hat sich auf den Kopf gestellt!, – rief Nao Junior. Als einer der letzten Erben jenes Wissens, das über tausende Generationen hinweg in seiner Muttersprache weitergegeben wurde, wusste er, was dieses bizarre Phänomen bedeutete. Ebenso erkannten andere indigene Völker auf der Inselgruppe der Andamanen, was vor sich ging. Sie alle rannten schleunigst fort vom Meer, die Anhöhen hinauf. Das Wissen ihrer Vorfahren rettete sie vor dem verheerenden Tsunami, der Minuten später die Küsten des Indischen Ozeans überrollte und etwa 225 000 Menschen das Leben kostete.

Als ich Nao Jr. um die Jahrtausendwende zum ersten Mal traf, war er in seinen Vierzigern und einer von nur neun Personen aus der indigenen Gruppe der Großandamaner, die noch der Sprache ihrer Vorfahren mächtig waren. Die Jüngeren nutzten lieber Hindi. Als Linguistin interessiert mich, wie Sprachen aufgebaut sind. Mittlerweile habe ich mehr als 80 indische Sprachen erforscht, die zu fünf verschiedenen Familien gehören: Indoeuropäisch – hierzu zählt auch Hindi –, Dravidisch, Austroasiatisch, Tibetobirmanisch und Tai-Kadai. Ich hielt mich auf den Inseln der Andamanen auf, um die Sprachen der Indigenen zu dokumentieren, bevor ihre Worte vollends verstummen würden. Das Wenige, was ich damals hörte, war so rätselhaft, dass ich die Jahre danach immer wieder kam, um das Prinzip der großandamanischen Sprachen zu entschlüsseln …

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wie die Guinness-Brauerei den t-Test erfand

Wer hätte gedacht, dass eine Brauerei der Geburtsort für eine der wichtigsten mathematischen Methoden ist? Dem Guiness-Bier haben wir zu verdanken, dass Ergebnisse in der Wissenschaft als statistisch signifikant gewertet werden können. Außerdem in dieser »Woche«: Wie Rauchen das Immunsystem stört.

Spektrum Kompakt – Klimaschutz - Herausforderung für die Wirtschaft

Superwahljahr, Wasserstoff und Konsum verbindet allesamt der Klimaschutz - denn welche Entscheidungen hier getroffen werden, beeinflusst Leben sowie Umweltbedingungen zukünftiger Jahre. Wo lassen sich Treibhausgasemissionen senken und welche Einsparungen haben die Konsumenten selbst in der Hand?

Spektrum - Die Woche – Die Macht der Gute-Nacht-Geschichte

Vorlesen fördert nicht nur das Buchstabenverständnis, es ist sogar ein wichtiger Grundstein für die soziale Entwicklung. Was die Gute-Nacht-Geschichte alles bewirken kann, lesen Sie in der aktuellen »Woche«. Außerdem: Die Écalle-Theorie bringt endliche Antworten auf unendlich scheinende Fragen.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

  • Quellen

Abbi, A.:Is Great Andamanese genealogically and typologically distinct from Onge and Jarawa? Language Sciences 31, 2009

Abbi, A.:Dictionary of the Great Andamanese language: English – Great Andamanese – Hindi. Ratna Sagar, 2012

Abbi, A.:A grammar of the Great Andamanese language. An ethnolinguistic study. Brill, 2013

Abbi, A.:A sixth language family of India: Great Andamanese, its historical status and salient present-day features. In: Mesthrie, R., Bradley, D. (Hg.): The dynamics of language. UCT Press, 2020, S. 134-152

Mondal, M. et al.:Genomic analysis of Andamanese provides insights into ancient human migration into Asia and adaptation. Nature Genetics 48, 2016

Pande, S. et al.: Ethno-ornithology, birds of the Great Andamanese: Names, classification, and culture. Oxford University Press, 2011

Forschungsprojekt von Anvita Abbi »Vanishing Voices of Andaman and Nicobar Islands«

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.