Soziale Ängste: Hab keine Angst!
Als ich Julia das erste Mal traf, war sie das ängstlichste und traurigste Kind, das ich je gesehen hatte. Ihre Augen waren groß vor Angst. Die Zwölfjährige ging nicht mehr zur Schule und verließ die Wohnung kaum noch. Wenn überhaupt, sprach sie sehr leise, fast wispernd und stockend, so als hätte sie Mühe, die Worte zu finden. Julia hatte extreme Angst davor, jeder würde sofort bemerken, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmte.
Nahm sie allen Mut zusammen, kam es vor, dass sie die Wohnungstür öffnete und hinausspähte. Doch sah sie einen Nachbarn im Flur, schloss sie die Tür sofort wieder und wartete, bis er weg war. Sie war außer Stande, sich mit Freunden zu treffen oder auch nur aus dem Haus zu gehen. Gleichzeitig war Julia verzweifelt, weil sie sich "eingesperrt" fühlte.
Das Mädchen litt an einer sozialen Phobie, der starken Furcht, von anderen bewertet, verurteilt und für unzulänglich befunden zu werden. Soziale Ängste sind in der Pubertät häufig – in dieser Lebensphase wollen Kinder oft unbedingt "dazugehören".
Die Gesprächstherapie hatte bei Julia versagt, trotz ihres erfahrenen und engagierten Therapeuten. Sie hatte mit ihm darüber geredet, wie schwer das Leben für sie war. Aber sie verstand nicht, warum es so war, und sie lernte nicht, etwas daran zu ändern. Der Therapeut hatte Julia geraten, nicht zur Schule zu gehen, bis sie den Grund für ihre Ängste erkannt hätte. Aber je länger ein Kind sich von anderen isoliert, desto schwerer findet es zum Miteinander zurück.
Der richtige Weg für Julia war meiner Meinung nach ein ganz anderer. Statt die Wurzel der Ängste zu ergründen, wollte ich als Therapeut mich mit ihr zusammen auf deren Auswirkungen konzentrieren. Nicht die Angst durfte ihr Verhalten leiten. Vielmehr musste sie ihr Verhalten ändern, um ihre Furcht abzustreifen – das ist das Prinzip der kognitiven Verhaltenstherapie.
Im Akutfall behandle ich junge Angstpatienten fast täglich zwei Stunden lang, bis sie sich stabilisiert haben. Julias Eltern erklärte ich, blieben sie dabei, wäre ich zuversichtlich, dass ihre Tochter die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen würde ...
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