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Aufmerksamkeitsstörung: "ADHS ist keine Modekrankheit"

Zu häufig diagnostiziert werde ADHS sicherlich, sagt Johannes Streif. Doch wirklich Erkrankte brauchen Medikamente und dazu Verhaltenstherapien, so der Psychologe und stellvertretende Vorsitzende von ADHS Deutschland e. V.
ADHS

ADHS-Diagnosen und vor allem die Verschreibung von Ritalin sind in Deutschland sprunghaft angestiegen. Sind wirklich so viel mehr Kinder krank? Oder ist ADHS zur Modekrankheit geworden?

Johannes Streif: Die ADHS selbst ist keine Modekrankheit, es gibt das Störungsbild bereits seit Jahrzehnten. Im Brennpunkt der öffentlichen Wahrnehmung ist allerdings seit einigen Jahren die Diagnose. Ich sehe die Zunahme der Diagnosen vor allem als eine normale Folge der wissenschaftlichen Kenntnisse über das Störungsbild sowie der therapeutischen Möglichkeiten. Allerdings lassen Zahlen wie die der Barmer Ersatzkasse darauf schließen, dass vor allem regional auch überhäufig oder falsch ADHS diagnostiziert wird.

Hat es die Aufmerksamkeitsstörung schon immer gegeben?

Ja. Dafür spricht, dass ihre Anlage im Gehirn sich über viele Generationen entwickelt haben muss. In diesem Sinn kann man bei vielen historischen Personen vermuten, dass sie unter einer ADHS litten, zum Beispiel Churchill und Edison. Besonders eindrucksvoll lesen sich die Tagebücher der Mutter von Hermann Hesse. Die Eltern waren immer heilfroh, wenn sie beruflich bedingt umziehen mussten, denn der Sohn hatte überall die Nachbarn verärgert und schulische Konflikte. Einmal ist er aus der Schule weggelaufen und wäre im Wald beinahe erfroren. Daran, dass die betroffenen Kinder sich mit ihrem Reden und Handeln selbst oft schaden, obwohl sie um die Konsequenzen wissen, kann man gut erkennen, dass sie nicht einfach sozialverhaltensgestört sind. Das problematische Verhalten von ADHS-Kindern ist meist nicht konsequent und zielgerichtet, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Es ist ihnen auch nicht gleichgültig, wenn sie anderen schaden. ADHS-Betroffene können weder äußere Reize noch innere Impulse genügend kontrollieren.

Gibt es trotzdem Hinweise darauf, dass die moderne Gesellschaft ADHS fördert?

Johannes Streif | Johannes Streif studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Psychologie in München. Er ist einer der Gründer der "Jägerburg", eines deutschlandweit bekannten Projekts für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern, das Kurzkuren unter anderem für Kinder und Jugendliche mit Lernstörungen und ADHS anbietet. Er ist außerdem zweiter Vorsitzender von ADHS Deutschland e. V.

Die Fälle sind schon leicht angestiegen, das haben auch andere Studien gezeigt. Das Gehirn eines Kindes, das beispielsweise mitten in New York aufwächst, passt sich an die Reizüberflutung an, es wird alerter auf die vielen Verkehrssignale reagieren als ein Kind vom Land. Diese breite, unfokussierte Aufmerksamkeit sichert quasi sein Überleben. Leider erfolgt diese frühkindliche Anpassung an die Reizfülle auch durch die heute allgegenwärtige Beschallung. Dabei geht es nicht nur um MP3-Player, Fernsehen und Computerspiele. Auch das allabendliche Kinderhörspiel zum Einschlafen oder gut gemeinte Lernangebote können eine Überforderung des sich entwickelnden Gehirns darstellen. Wer vielen Reizen ausgesetzt ist, hat auch eine größere Tendenz, eine ADHS auszubilden – allerdings nur, wenn eine Veranlagung vorliegt.

Das heißt auch, dass, wer in einer angenehmen, überschaubaren Umgebung aufwächst, mit seiner Veranlagung gut leben kann?

Ja, es macht viel aus, welches Verhalten in der Familie und in der Umgebung vorgelebt wird. Wenn beispielsweise ein ADHS-Kind in einer Amish-Familie aufwächst, wo es keinen Medienkonsum gibt sowie Gewalt und Aggression absolut verpönt sind, wird es, wenn es wütend ist, vielleicht einen Stuhl umwerfen und aus dem Raum rennen. Wächst es aber in einer Familie auf, in der Eltern oder Geschwister gewalttätiges Verhalten zeigen, wo brutale Fernsehfilme angeschaut werden, wird das Kind sein eigenes Verhalten vermehrt an diesen problematischen Vorbildern ausrichten. Denn das Problem ist ja, dass die ADHS-Kinder nur über eine eingeschränkte Fähigkeit zur Verhaltenshemmung verfügen.

Verlangen viele Eltern auch deshalb nach Ritalin-Pillen für ihr Kind, weil sie Angst haben, es könnte in der Schule versagen? Der Barmer-Bericht weist darauf hin, dass die Diagnoseraten und Verschreibungen in dem Alter am höchsten sind, in dem die Kinder von der Grundschule auf eine weiterführende Schule wechseln.

Ja. Vor allem viele Gymnasien verlangen, dass die Kinder ihre Lernmotivation selbst mitbringen. Haben die Kinder in der Schule Probleme, werden bildungsbewusste Eltern schnell nervös und suchen bei Ärzten und Therapeuten nach Hilfe. Dann werden unter dem hohen Erwartungsdruck aller Beteiligten bisweilen vorschnell Diagnosen gestellt, statt gemeinsam mit dem Kind ein günstigeres Lernverhalten einzuüben.

Nun weist die Studie darauf hin, dass vor allem junge oder ungebildete Eltern ihre Kinder mit Medikamenten behandeln lassen.

So einfach ist das nicht. Mehrere Faktoren führen zu einem Ergebnis, wie die Barmer-Studie es erbracht hat. Erstens informieren sich gebildete Eltern eigenständig über pädagogische und medizinische Belange, was heute über das Internet leicht möglich ist. Dabei stoßen sie zwangsläufig auch auf viele ADHS-kritische Publikationen und hinterfragen die Empfehlungen. Das ist gut so, führt aber auch zu vielen unnötigen Ängsten. Zweitens begleiten Eltern aus der bildungsbürgerlichen Schicht die Entwicklung ihrer Kinder oft aufmerksamer. Die Zahlen der Barmer sprechen dafür, dass zunächst sehr viele medikamentöse Behandlungen eingeleitet werden, die rasch wieder abgebrochen werden. Weniger gebildete und vermehrt autoritätsgläubige Eltern aus bildungsferneren Schichten setzen die Behandlungen fort, solange die Fachleute sie für sinnvoll erachten. Das geschieht auch – ein dritter Faktor –, weil sie häufig einem stärkeren sozialen Druck von Lehrern und Erziehern ausgesetzt sind. Sie raten den Eltern, mit dem vermeintlich verhaltensauffälligen Kind zum Psychologen oder Arzt zu gehen, da sie nicht in ihre erzieherischen Kompetenzen vertrauen.

Wie kann man Eltern und Kindern helfen, wenn es sich wirklich um ADHS handelt?

Medikamente können vor allem sehr stark betroffenen Kindern nutzen, wenn sie also sehr impulsiv, unaufmerksam und unruhig sind. Im Alltag von Schule und Familie muss die medikamentöse Behandlung aber mit einer guten Erziehung und sinnvollen Strukturierung des Alltags einhergehen. Auch eine Stunde Verhaltenstherapie in der Woche kann nicht gegen die vielen Stunden in Familie und Schule anstinken, wenn dort Überforderung und Chaos herrschen. Deshalb sollten Familien mit betroffenen Kindern stets pädagogisch und therapeutisch begleitet werden, damit sie ein Familienleben schaffen, in dem das Kind, aber auch Eltern und Geschwister sich so wohl fühlen.

Das hört sich einfach an.

Ist es aber für alle Beteiligten nicht. Ich habe beispielsweise mit einer Familie gearbeitet, in der ein ausgeprägt hyperaktives Mädchen lebt. Vor Silvester hat sie trotz Verbots mit Böllern gespielt, und einer der Böller ist in ihrer Hand explodiert. Nachdem die große und schmerzhafte Wunde im Krankenhaus versorgt worden war, habe ich sie Stunden später wieder mit einem Böller in der verbundenen Hand angetroffen. Diese Familie hat mehrere Kinder, die Eltern können eine permanente Überwachung des Mädchens nicht leisten. Die Folge sind gestresste Eltern und mitleidende Geschwister. Alle erzieherische Aufmerksamkeit und ein Gutteil der Liebe werden von diesen Kindern absorbiert. Irgendwann sind alle unglücklich. Das ADHS-Kind, weil es spürt, dass es die Erwartungen seiner Umwelt nicht erfüllt. Die Eltern, die sich im Alltag nur mehr überwachend, schimpfend und strafend erleben. Bisweilen ist es trotz der üblichen Erziehungstipps von Pädagogen und Psychologen, die wenig von der ADHS verstehen, sinnvoller, nicht stets gemeinsam zu essen oder selbst mit dem Kind die Hausaufgaben zu machen. Es geht darum, einen Familienalltag zu schaffen, der jeden Tag wenigstens zehn Minuten der glücklichen Gemeinschaft ermöglicht. Nur dann wird das Kind begreifen, dass es alle Anstrengung wert ist, das eigene Verhalten besser zu steuern, um ein Teil dieser Familie zu sein.

Kann Bewegung helfen?

Ja, Bewegung ist ein wichtiger, vielleicht der wirksamste Bestandteil in der nichtmedikamentösen Therapie von ADHS-Kindern, weil sie den Kindern Spaß macht und diese daher gerne mitmachen. Allerdings geht es nicht einfach ums Auspowern, wie viele denken, sondern um von außen angeleitete Bewegung, die die Verhaltenssteuerung übt. Das wirkt auch positiv in anderen Bereichen als der Bewegung. Dabei ist es egal, ob das Kind Unterricht im Turnen, Klettern, Schwimmen, Schlagzeug- oder Klavierspiel nimmt, solange es den Neigungen des Kindes entspricht. Allein reicht die Psychomotorik jedoch nicht.

Von Erwachsenen mit Aufmerksamkeitsstörungen spricht man seltener. Sie selbst leiden seit ihrer Kindheit darunter. Verliert sich das?

Bei manchen ja. Viele frühere ADHS-Kinder haben jedoch auch gelernt, mit ihren Problemen zu leben. Als Erwachsener ist man weniger gezwungen, stundenlang in kollektiven Zwangsstrukturen wie Klassenzimmern zu sitzen. Ein Großraumbüro, in dem man mit 20 Kollegen acht Stunden täglich an Computer und Telefon verbringt, ist für ADHS-Betroffene kein guter Arbeitsplatz. Doch wenn sie eher für sich arbeiten, bei hinreichender Selbstdisziplin ihre Zeit selbst einteilen können, interessante Tätigkeiten an wechselnden Orten ausführen, dann können viele trotz einiger Probleme ein normales Leben führen. Wenn Sie mich jetzt sehen würden, wie ich durch den Raum laufe und mit den Armen gestikuliere, während ich telefoniere – manche Dinge verlieren sich nie.

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