Alkohol: Macht regelmäßiges Trinken abhängig?
Wenn Björn mit seinen Freunden feiern war und dabei etwas mehr Alkohol floss als gewöhnlich, legt er anschließend eine vierwöchige Trinkpause ein. Der Student will sichergehen, dass er nicht abhängig wird. Björns Mutter starb kurz nach seiner Geburt. Er kam zu Pflegeeltern, die ihn bald adoptierten. Zwar wuchs Björn dort liebevoll umsorgt auf, aber seine Adoptiveltern hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sein leiblicher Vater eine schwere Alkoholkonsumstörung hatte und schon vor Jahren sein Trinkverhalten kaum noch kontrollieren konnte. Björn hat kein Interesse daran, ihn kennen zu lernen. Doch eine Frage treibt ihn um: Hatte er von seinem Vater ein »Alkoholiker-Gen« geerbt und würde irgendwann selbst abhängig werden, wenn er nicht aufpasste?
Menschen wie der – fiktive – Björn waren Teil einer Adoptionsstudie, die ein Team um den Psychiater Kenneth Kendler vom Virginia Institute of Psychiatric and Behavioral Genetics 2015 veröffentlichte. Die Wissenschaftler hatten das Trinkverhalten von zehntausenden Menschen in Schweden unter die Lupe genommen, die zwischen 1950 und 1993 geboren worden waren. Ihnen war aufgefallen, dass Alkoholabhängigkeit in Familien gehäuft auftrat, und sie wollten wissen, warum manche Menschen abhängig werden und andere nicht. War das Veranlagung? Oder waren eher Umweltfaktoren wie das Verhalten abhängiger Eltern dafür verantwortlich, dass Menschen zur Flasche griffen?
Kendler und seine Kollegen werteten unter anderem die Daten von Männern und Frauen aus, von denen bekannt war, dass mindestens ein Elternteil an einer Alkoholkonsumstörung litt, die aber – genau wie Björn – bei Adoptiveltern aufwuchsen, bei denen das nicht der Fall war. Umgekehrt untersuchten sie Menschen, deren biologische Eltern nicht tranken, die jedoch bei abhängigen Adoptiveltern aufgewachsen waren. Das Ergebnis: Im Vergleich zu Menschen ohne abhängige Eltern oder Adoptiveltern hatten beide Gruppen ein um das 1,4-Fache erhöhtes Risiko, schädliche Mengen an Alkohol zu konsumieren oder eine Abhängigkeit zu entwickeln. Umweltfaktoren und genetische Einflüsse halten sich demnach die Waage – ein Ergebnis, das weitere Studien bestätigten.
Wer alkoholabhängige Eltern hat und – was ja meistens der Fall ist – bei ihnen aufwächst, ist demnach besonders gefährdet. Die in vielen Studien zu findende Aussage »Alkoholabhängigkeit ist zu etwa 50 Prozent erblich« erlaubt allerdings keine Rückschlüsse auf die Gefährdung Einzelner, sondern nur auf ganze Bevölkerungsgruppen, und zwar vornehmlich auf westliche, in denen die meisten Untersuchungen durchgeführt wurden.
Kein »Alkoholiker-Gen«
Was bedeutet das nun für Björn? Fest steht: Es gibt kein einzelnes Gen, das die Suchterkrankung verursacht. Doch Björn besitzt vermutlich bestimmte Genvariationen, die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Alkoholabhängigkeit zusammenhängen. Dazu zählen DNA-Sequenzen, die mit dem serotonergen, GABAergen oder dopaminergen Neurotransmittersystem assoziiert sind (Gehirn&Geist 12/2023 »So wirken Bier, Schnaps und Wein«). Die meisten davon tragen für sich genommen deutlich weniger als ein Prozent zum Risiko bei. Wenn aber zahlreiche solche Gene unter dem Einfluss bestimmter Umweltbedingungen zusammenspielen und die der Abhängigkeit zu Grunde liegenden Funktionsprozesse beeinflussen, indem sie die Signalübertragung im Gehirn verändern, kann das dazu führen, dass man beginnt, schädliche Mengen an Alkohol zu konsumieren.
Auch die so genannte Trinkfestigkeit (bei der sich die Wirkung von Alkohol vergleichsweise spät zeigt) ist zumindest teilweise erblich und trägt dazu bei, dass den Betroffenen Warnzeichen wie Übelkeit, motorische Probleme oder Schwindel fehlen. In der Annahme, sie würden Alkohol gut »vertragen«, trinken diese Menschen oft mehr, was letztlich häufiger zu einer Suchterkrankung führt.
Wenn man Gewalt erfahren hat – insbesondere in der frühen Kindheit – und in schwierigen Lebensphasen von Freunden oder Familie wenig Unterstützung erhält, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Veranlagung manifestiert. Und natürlich können Menschen ohne familiäre Vorbelastung ebenfalls alkoholabhängig werden. So stellten Kendler und seine Kollegen fest, dass ein früher Tod des Vaters oder der Mutter sowie eine Scheidung der Eltern Risikofaktoren waren. Auch Personen, deren Eltern einen geringeren Bildungsgrad aufwiesen, die andere Drogen nahmen oder straffällig geworden waren, griffen eher zur Flasche.
Männer trinken mehr als Frauen
Auffällig ist, dass Männer häufiger als Frauen riskante Alkoholmengen zu sich nehmen. Das bestätigt eine Studie von Mira Tschorn und ihren Kolleginnen und Kollegen. Sie untersuchten das Trinkverhalten von über 35 000 Erwachsenen über 50 Jahren in 17 europäischen Ländern, darunter Dänemark, Polen, Spanien, Frankreich und Deutschland. Insgesamt konsumierte ein bedenklich hoher Anteil von 25,4 Prozent der Personen schädliche Mengen Alkohol – darunter rund doppelt so viele Männer wie Frauen.
Neben dem Geschlecht waren ein geringerer Bildungsstand und weniger Einkommen mit einem erhöhten Risiko verbunden. Wer rauchte oder ein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern hatte, trank ebenfalls häufiger zu viel. Als schädlich galt sowohl »Binge-Drinking«, also der exzessive Konsum von Alkohol in kurzer Zeit, als auch die regelmäßige Zufuhr von 120 Millilitern reinem Ethanol pro Woche, der in etwa sechs Flaschen Bier oder sechs Gläsern Wein enthalten ist. Die Autoren vermuten, dass neben traumatisierenden Erfahrungen Einsamkeit im Alter eine Rolle spielen könnte. Bekannt ist zudem, dass allein lebende Männer mehr trinken als solche, die mit einer Partnerin zusammenleben, während es bei Frauen genau umgekehrt ist.
Und es gibt noch einen Unterschied zwischen den Geschlechtern: Männer neigen eher zu Gewalt als Frauen, wenn sie getrunken haben. Woran liegt das? Wer getrunken hat, kann sein Verhalten weniger kontrollieren als im nüchternen Zustand. Und da Männer generell häufiger als Frauen zu Aggressivität neigen, wundert es nicht, dass Alkohol diese Tendenz verstärkt. In einem Überblicksartikel von 2011 beschrieb ein Team um Andreas Heinz, dass die Amygdala und andere Bereiche des limbischen Systems auf Grund von Stress in der frühen Entwicklung bis ins spätere Leben schneller in Alarmbereitschaft versetzt werden. Und wer sich bedroht fühlt, kann aggressiv reagieren.
Gesunder Verzicht
Der Weltgesundheitsorganisation zufolge ist Alkoholkonsum eine der häufigsten Ursachen für Verletzungen, beispielsweise durch Unfälle, sowie für über 200 körperliche Erkrankungen, allen voran Leberschäden, Herz-Kreislauf-Probleme und Krebs. In der Regel kommen allerdings mehrere Risikofaktoren zusammen, wenn eine Krankheit ausbricht. Ein hohes Krebsrisiko etwa hat neben der Wirkung des Zellgifts Alkohol oft auch mit genetischer Vorbelastung, Rauchen, wenig Bewegung und ungesunder Ernährung zu tun.
Menschen, die problematische Mengen trinken, sollten wenn möglich abstinent bleiben oder zumindest ihren Konsum drosseln. In einem Überblicksartikel von 2017 fassten Katrin Charlet und Andreas Heinz die positiven Auswirkungen des Verzichts zusammen: Zahlreiche Körperwerte verbessern sich, darunter Cholesterin und Elektrolyte, außerdem sinkt der Blutdruck und überflüssige Pfunde werden abgebaut. Alkoholbedingte Schädigungen der Leber schreiten langsamer voran, und die psychische Gesundheit stabilisiert sich. Ängste und depressive Phasen kommen seltener vor, Sozialkontakte gestalten sich weniger schwierig.
Charlet, K. & Heinz, A.: Harm reduction-a systematic review on effects of alcohol reduction on physical and mental symptoms. Addiction biology 22, 2017
Trauma und Stress
Solches Verhalten tritt häufiger bei Menschen mit bestimmten Veränderungen im Monoaminoxidase-Gen (MAO) auf, das auf dem X-Chromosom liegt. Männer haben im Gegensatz zu Frauen nur eines dieser Chromosomen, weshalb die Wirkung der Genvariante nicht durch ein »normales« MAO-Gen ausgeglichen werden kann. Jedoch gilt auch hier: Umweltfaktoren und genetische Einflüsse wirken gemeinsam. Die Genvariante allein macht noch keinen aggressiven Menschen – wenn allerdings traumatische Erfahrungen oder extremer Stress hinzukommen, kann das durchaus zu Gewaltbereitschaft führen.
Hängen zentrale Persönlichkeitseigenschaften mit der Neigung zum Trinken zusammen, also die zu etwa 50 Prozent erblichen »Big Five« Extraversion, Neurotizismus, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit oder Offenheit für neue Erfahrungen? So könnte man beispielsweise vermuten, dass besonders abenteuerlustige Menschen auf der Suche nach Abwechslung beim Alkohol gern mal über die Stränge schlagen – oder besonders Schüchterne, die sich während sozialer Zusammenkünfte Mut antrinken.
Doch ein Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und einem Hang zur Abhängigkeit ist nicht gut belegt. Vielmehr bilden sich damit assoziierte Verhaltensweisen wie Impulsivität häufig erst im Lauf der Entwicklung auf Grund von schwierigen Lebensverhältnissen aus. Das bestätigen Studien mit Tieren, wie Lasse Brandt von der Charité Berlin in einem Überblicksartikel von 2022 beschreibt: Ratten oder Mäuse, die während ihrer Entwicklung Stress ausgesetzt waren (etwa weil sie sozial isoliert waren), sind später nicht nur leicht reizbar, impulsiv und aggressiv, sondern trinken auch mehr Alkohol, wenn er ihnen angeboten wird – offenbar, um sich zu beruhigen.
Ein Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und einem Hang zur Abhängigkeit ist nicht gut belegt
Mit dem Alkoholkonsum ist es ganz ähnlich wie mit dem Radfahren oder Zähneputzen: Irgendwann wird er zur Gewohnheit, und das ist in diesem Fall gefährlich. Im Magnetresonanztomografen ist dann beim Anblick von Alkoholreizen die Aktivität in Hirnarealen wie dem anterioren Zingulum oder präfrontalen Kortex erhöht, die für die Aufmerksamkeitssteuerung verantwortlich sind. In einer Studie von 2012 hat ein Team um Anne Beck festgestellt, dass diese Regionen bei abhängigen Probanden, die später rückfällig wurden, besonders stark feuerten.
Solche scheinbar automatisch ablaufenden Reaktionen lassen sich allerdings ändern. Ein Team um Reinout Wiers von der Universität Amsterdam brachte abhängigen Probanden bei, Bilder von alkoholischen Getränken mit einem Joystick von sich wegzuschieben, statt sie aus Gewohnheit zu sich heranzuziehen. Ein Jahr später war immerhin jeder Zehnte im Rahmen der Behandlung noch immer abstinent, während die meisten Kontrollpersonen rückfällig geworden waren.
Alkohol macht nicht glücklich
Alkohol wirkt unter anderem auf das Dopaminsystem im Gehirn. Bei Dopamin handelt es sich nicht um ein »Glückshormon«, wie fälschlicherweise oft behauptet wird, sondern um einen Neurotransmitter. Es macht auch nicht besonders glücklich. Vielmehr wirkt es motivations- und antriebssteigernd, sobald etwas passiert, das neu, überraschend oder interessant ist, und sich das Gehirn in eine Erwartungshaltung begibt. Packen wir ein (uns unbekanntes) Geschenk aus, steigt der Dopaminpegel. Wissen wir schon vorher, was wir bekommen, eher nicht – obgleich wir womöglich Glück oder Zufriedenheit empfinden. Daran sind meist andere Botenstoffe beteiligt, beispielsweise Endorphine oder Serotonin.
Im Lauf der Zeit lernt das Gehirn, auf bestimmte Reize mit einer erhöhten Dopaminausschüttung zu reagieren. Wenn Signale wie die Schnapsflaschen im Supermarkt, eine verrauchte Kneipe oder eine Einladung zum Feierabendbier das baldige Eintreffen der Droge ankündigen und das Gehirn gelernt hat, darauf mit einer erhöhten Dopaminausschüttung zu reagieren, spricht man von reizinduziertem Alkoholverlangen.
Beck, A. et al.: Effect of brain structure, brain function, and brain connectivity on relapse in alcohol-dependent patients. Archives of General Psychiatry 69, 2012
Zehn Prozent Erfolgsrate klingt vielleicht erst einmal wenig beeindruckend. Doch der Behandlungserfolg entspricht in etwa dem von medikamentösen Therapien mit Acamprosat und Naltrexon, die zur Unterstützung von Abstinenz zugelassen sind. Acamprosat verändert auf komplexe und noch nicht ganz verstandene Weise die durch den erregenden Botenstoff Glutamat vermittelte Signalübertragung, während Naltrexon direkt an Opiatrezeptoren bindet. Dadurch reduziert es die Wirkung von Alkohol auf körpereigene Endorphine: Das »Glücksgefühl« nach dem Genuss von Alkohol stellt sich nicht ein. Acamprosat kann Verdauungsbeschwerden verursachen, während Naltrexon Nebenwirkungen wie verminderten Appetit, Übelkeit und Erbrechen auslösen kann.
Die meisten Menschen mit einer Alkoholkonsumstörung können ihr Verhalten durchaus reflektieren und es verändern, zumindest solange keine neurotoxischen Störungen des Gehirns wie Läsionen oder Schädigungen des peripheren Nervensystems vorliegen. So zeigten wir in einer Studie von 2019 abhängigen Menschen im funktionellen Magnetresonanztomografen verschiedene Bilder, die ihnen entweder einen Gewinn brachten oder nicht. Unsere Versuchspersonen sollten herausfinden, ob sie für die Auswahl bestimmter Bilder belohnt wurden. Im Hintergrund der Bilder gezeigte alkoholische Getränke hatten keinen Einfluss darauf, welche Bildreize belohnt wurden, was die Probanden aber nicht wussten. Diejenigen, die später abstinent blieben, klickten auf einem Bildschirm präsentierte Bilder häufiger weg, wenn im Hintergrund Wein- oder Biergläser zu sehen waren. Sie verzichteten demnach in Gegenwart alkoholischer Getränke auf Gewinnchancen – und das, obgleich ihr Belohnungssystem verstärkt auf diese Bilder reagierte. Offenbar gelang es ihnen auch im Alltag, sich von Kneipen fernzuhalten und Einladungen auf einen Drink auszuschlagen.
Mit Achtsamkeit zur Abstinenz
Ein relativ neuer therapeutischer Ansatz ist die von Sarah Bowen von der Pacific University in Portland (Oregon) und ihren Kollegen entwickelte achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention. Dabei lernen Betroffene, jene Signale frühzeitig und bewusst wahrzunehmen, die ein Alkoholverlangen in ihnen auslösen, und ihre negativen Gefühlszustände anzunehmen. Das ist zum Beispiel möglich mittels spezieller Entspannungstechniken wie Atemübungen, Sitz- und Gehmeditationen sowie Body-Scans, bei denen man sich auf seine Körperempfindungen konzentriert. Die Idee dahinter: Wer sich auf diese Weise selbstfürsorglich verhält, bleibt handlungsfähig, statt rückfällig zu werden. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2017 eines Teams um Sean Grant von der Richard M. Fairbanks School of Public Health der Indiana University hat ergeben, dass der neue Ansatz vor allem bei Entzugssymptomen und »Craving« helfen kann, also dem starken Verlangen nach der Droge. Soziale Unterstützung, etwa in Form von Selbsthilfegruppen, ist ebenfalls wichtig, um den Alkoholkonsum zu reduzieren oder ganz einzustellen.
Wie groß ist nun die Gefahr, dass Björn irgendwann abhängig wird? Der Student hat seit seiner frühen Kindheit eine vertrauensvolle und sichere Bindung zu seinen Adoptiveltern, und als Heranwachsender hat er keine traumatischen Erfahrungen gemacht. Deshalb muss er sich keine allzu großen Sorgen machen. Will er auf Nummer sicher gehen, kann er komplett auf alkoholische Getränke verzichten. Alternativ könnte er sich nach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation richten: Demnach gelten bereits 10 Gramm reiner Alkohol pro Tag für Frauen als riskant, bei Männern sind es 20 Gramm. Das entspricht 0,25 beziehungsweise 0,5 Liter Bier. Vor allem sollte er Alkohol nicht zur Bewältigung von Problemen oder bei Stress einsetzen. Eines sollte man immer berücksichtigen: Da Alkohol ein Zellgift ist, gibt es keine kleinste Menge, die man völlig bedenkenlos trinken kann.
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