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AlphaMissense: Neue KI spürt krank machende Mutationen auf

Mit AlphaFold revolutionierte DeepMind unser Verständnis von Proteinen, nun hilft die KI bei der Analyse von Mutationen. Das klappt gut, aber wohl noch nicht gut genug.
Illustration eines DNA-Strangs
Rund 70 Millionen Mutationen einzelner DNA-Buchstaben sind im menschlichen Genom möglich. Nur bei den allerwenigsten weiß man bislang, ob sie krank machen oder nicht.

Mit einem neuen KI-Tool sollen Medizinerinnen und Medizinern künftig präzise Vorhersagen darüber gelingen, welche Erbgutmutationen mit gesundheitlichen Komplikationen verknüpft sind. Die künstliche Intelligenz namens AlphaMissense stellt Kennern des Felds zufolge einen wichtigen Schritt nach vorn dar, sei allerdings noch kein echter Durchbruch in dieser für die medizinische Genomik so zentralen Herausforderung.

Neben AlphaMissense sind derzeit weitere Systeme mit ähnlicher Zielsetzung in Entwicklung. Alle sollen sie Wissenschaftler und Ärzte dabei unterstützen, das Genom ihrer Patientinnen und Patienten zu interpretieren, um Krankheitsursachen zu ermitteln. Doch bevor Tools wie AlphaMissense klinisch eingesetzt werden können, müssen sie intensiven Prüfungen standhalten. Dies wird auch in der Publikation im Fachmagazin »Science« betont, in der das Entwicklerteam seine KI vorstellt.

Einige Krankheiten wie Mukoviszidose und Sichelzellenanämie gehen auf bekannte genetische Mutationen zurück, die die Aminosäuresequenz des betroffenen Proteins verändern. Bei anderen Krankheiten ist ein Zusammenhang mit so genannten Missense-Mutationen, bei denen nur ein DNA-Buchstabe verändert ist, weniger klar. Immerhin scheint der Großteil harmlos zu sein. Aber für die allermeisten der 70 Millionen möglichen Mutationen dieser Art weiß aktuell niemand, ob sie mit einer Krankheit in Verbindung stehen oder nicht.

Wenn medizinische Fachleute auf eine Missense-Mutation stoßen, stellt sich darum fast immer die Frage nach ihrer Bedeutung. Um solche unklaren Varianten besser zu verstehen, wurden diverse Softwaretools entwickelt. AlphaMissense vereint hierbei bestehende Ansätze, die immer häufiger mit Hilfe von maschinellem Lernen verbessert werden.

Die »Intuition« von AlphaFold hilft

AlphaMissense baut auf dem bekannteren System AlphaFold auf, das ebenfalls ein KI-Tool ist und vor drei Jahren Furore machte, weil es erstmals weitgehend zuverlässig die Struktur von Proteinen anhand ihrer Aminosäureketten ermittelte. Beide Programme wurden von Google DeepMind entwickelt.

AlphaMissense lässt sich nun nicht einfach von der Vorgänger-KI die Struktur der mutierten Proteine ermitteln. Wie Pushmeet Kohli, Forschungsleiter bei DeepMind, in einem Pressegespräch erläutert, nutzt AlphaMissense stattdessen die »Intuition« von AlphaFold über Proteinstrukturen, um herauszufinden, an welchen Stellen in einem Protein eine Mutation Krankheitswert haben dürfte. Einen Anhaltspunkt für diese Einschätzung lieferte die Information, wie häufig eine Mutation bei Menschen oder nah verwandten Primaten auftritt. Häufigere Varianten sind wahrscheinlich unbedenklich.

Zudem greift AlphaMissense auf neuronale Netzwerke zurück, die von Sprachmodellen wie ChatGPT inspiriert sind, aber mit Proteinsequenzen trainiert wurden. Laut Žiga Avsec, der mit Jun Cheng die Forschung leitete, haben sich solche Systeme besonders bei der Vorhersage von Proteinstrukturen und dem Design neuer Proteine bewährt. Für AlphaMissense sind sie nützlich, weil sie eine Aussage darüber treffen, welche Varianten plausibel sind und welche nicht.

Tests zufolge ist das neue System von DeepMind bei der Erkennung krankheitsverursachender Varianten seiner Konkurrenz leicht überlegen. Die Forschenden haben AlphaMissense auch genutzt, um den gesamten Katalog möglicher Missense-Mutationen im menschlichen Genom zu erstellen. Demnach sind 57 Prozent wahrscheinlich harmlos und 32 Prozent möglicherweise schädlich. Für die übrigen gelangte das Modell zu keiner Einschätzung.

Die nahe Zukunft könnte bessere Vorhersagemodelle bereithalten

Laut Arne Elofsson, einem Bioinformatiker von der Universität Stockholm, ist AlphaMissense ein Schritt nach vorne, allerdings »kein riesiger«. Für Joseph Marsh, ebenfalls Bioinformatiker, sind die Auswirkungen für das Forschungsfeld weit von denen der AlphaFold-KI entfernt. Letzteres habe eine neue Ära in der Wissenschaft eingeleitet, Ersteres »ist spannend und aktuell wahrscheinlich das beste Vorhersagetool«. Aber ob das in ein paar Jahren noch gelte, müsse man abwarten, sagt der Wissenschaftler von der MRC Human Genetics Unit in Edinburgh.

Computergestützte Vorhersagen spielen zurzeit in der Diagnose genetischer Krankheiten eine untergeordnete Rolle, sagt Marsh. Die Fachgesellschaften empfehlen, die vorhandenen Tools nur unterstützend einzusetzen, wenn es darum geht, eine Mutation mit einer Erkrankung in Verbindung zu bringen. Für DeepMind-Forscher Avsec wird das Vertrauen in diese Modelle wachsen, je besser sie werden.

Dennoch warnt Yana Bromberg, Bioinformatikerin von der Emory University in Atlanta, vor einem voreiligen Einsatz solcher Tools in der Praxis. Es sei essenziell, sie zuerst gründlich zu bewerten.

Ein Verfahren dazu ist die »critical assessment of genome interpretation« (CAGI). Es prüft die Genauigkeit von Vorhersagemethoden anhand von Daten, die noch nie veröffentlicht wurden und darum nicht beim Training der Modelle verwendet werden konnten. »Für mich ist es ein Horrorszenario, wenn ein Arzt computergenerierte Vorhersagen für bare Münze nimmt, ohne dass sie von Institutionen wie CAGI geprüft wurden«, sagt Bromberg.

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