Alte Obstsorten: »Es wäre schade, wenn wir die Kochbirne verlieren würden«
Alte Obstsorten sind heute selten geworden. Nicht wenige von ihnen sind lokale Spezialitäten, die ihre Qualitäten erst durch die richtige Zubereitung zeigen. Der österreichische Verein Arche Noah bewahrt und pflegt die alten Obst- und Gemüsesorten. Darüber hinaus setzt sich der Verein auch auf politischer Ebene für mehr Vielfalt ein. Wie die alten Obstsorten erhalten werden und warum sich das lohnt, erklärt die im Bildungsbereich von Arche Noah tätige Mara Müller im Interview.
»Spektrum.de«: Sie suchen auf Obstwiesen nach Sorten, die in Vergessenheit geraten sind. Wie machen Sie das eigentlich?
Mara Müller: Bei unseren Mitmachprojekten rufen wir Menschen auf, sich zu melden, wenn sie zum Beispiel einen alten Birnbaum bei sich oder im Garten der Großeltern haben. Unsere Obstexpertinnen und -experten bestimmen dann diese Sorte. Dabei achten sie auf verschiedene Merkmale. Also: Wie sieht der Stiel aus? Wie die verwelkten Blütenkelche, das Kerngehäuse, die Kerne? Sie vergleichen die Sorten mit der alten Obstliteratur ab dem 18. Jahrhundert, machen Fotos und Querschnitte der Früchte und dokumentieren ihren Fund. Auch die Erfahrung der Begutachtenden spielt eine Rolle.
Und was passiert dann?
Wenn die Birnensorte noch unbekannt ist, bekommt sie einen Namen und wird veröffentlicht. Dann ist diese Sorte beschrieben. Außerdem kartieren wir die Verteilung in Projekten, die sich beispielsweise speziell dem Steinobst oder den Mostbirnen widmen. Und schließlich wird die neu gefundene Sorte von uns vermehrt.
Vermehrt heißt, Sie lassen einen Baum mit der wiederentdeckten Sorte wachsen?
Genau. In den letzten Jahren hat Arche Noah rund 1000 Bäume auf Patenwiesen ausgepflanzt. Von jeder seltenen Sorte, die wir finden, pflanzen wir mindestens zwei Bäume aus. So besteht eine gewisse Sicherheit, dass die Sorte die Widrigkeiten des Baumlebens wie Wühlmäuse oder einen Hagelschaden übersteht. Darüber hinaus haben wir viele Mitglieder, die sich als so genannte Sortenbegleiter zur Verfügung stellen; das heißt, sie wollen selbst eine Streuobstwiese anlegen. Dort pflanzen wir dann noch ein drittes oder viertes Exemplar der Sorte. Das wäre ein wunderschöner großer Obstwald, wenn man alle die Wiesen zusammenlegen würde.
Warum machen Sie das eigentlich? Die Supermärkte sind doch voll mit frischen Lebensmitteln.
Die biologische Vielfalt ist ein Wert, den es zu erhalten gilt. Die hochgezüchteten Apfelsorten im Supermarkt gehen fast alle auf sechs ursprüngliche Sorten zurück. Das ist nichts im Vergleich zu der Fülle an Sorten, die es gibt. Allein von Äpfeln gibt es schätzungsweise 5000 Sorten im deutschsprachigen Raum.
Was können diese Pflanzen, was die Supermarktsorten nicht können?
Zunächst einmal: Warum sollen wir uns auf sechs Apfelsorten beschränken, wenn wir eine so große Anzahl an Aromen und Verarbeitungsmöglichkeiten zur Verfügung haben?
Manche Sorten zeigen ihre Qualität auch erst, wenn man sie verarbeitet. Die alte Kletzenbirne ist eine der besten Birnen zum Trocknen überhaupt. Oder nehmen Sie Kochbirnen. Die bleiben nach dem Pflücken sehr lange hart und können daher gut im Keller gelagert werden. Roh schmecken sie nicht. Wenn man sie aber zu Kompott verarbeitet, schmecken sie plötzlich ganz wunderbar. Es wäre schade, wenn wir die Kochbirne verlieren würden.
Themenwoche Gärtnern
In Zeiten der Pandemie sind Natur und Garten für viele Menschen zu einem wichtigen Rückzugsort geworden. Warum tun Pflanzen uns gut? Wie kann jeder und jede Einzelne die Umwelt beim Gärtnern schützen? Und welche Trends gibt es derzeit beim Anbau? Antworten auf diese und weitere Fragen liefert »Spektrum.de« in einer Themenwoche. Mit dabei: praktische Tipps für Menschen, die bislang an der Pflanzenpflege verzweifelt sind.
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- Microgreens: Minigemüsegarten für die Fensterbank
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Einen Grund muss es doch dafür geben, dass diese Sorten selten geworden sind?
Für den Verkauf im Supermarkt müssen die Lebensmittel für die Handelsketten tauglich sein. Da geht es um Einheitlichkeit in Form und Größe. Viele alte Sorten können das nicht leisten. Wichtig für den Handel ist auch die Transportfähigkeit. Die Früchte müssen manchmal einen zweiwöchigen Transportweg überstehen und dabei noch nachreifen. Vergleichen Sie das mit Sommeräpfeln wie dem Klarapfel. Das ist eine der besten Sorten überhaupt für Apfelmus. Aber man muss ihn genau dann pflücken, wenn er reif ist.
Welche Sorte interessant ist, kann sich aber auch schnell ändern: In der Schweiz wollten die Landwirte früher keine Kirschen haben, die durch Rütteln oder Wind herunterfallen. Da gab es eine große Sortenbereinigung im Plantagenanbau hin zu Sorten, die gut durch Pflücken geerntet werden können. Just ein paar Jahre später wurde eine Erntemaschine entwickelt, die den Baumstamm greift und schüttelt. Da mussten dann alle wieder umdisponieren.
»Ich glaube, dass es derzeit einen Trend zu alten Sorten gibt, aus dem sich ein Markt entwickeln könnte«
Wie kann man die Eigenschaften der alten Sorten künftig nutzen? Indem neue Sorten gezüchtet werden?
Teilweise werden neue Sorten gezüchtet, insbesondere im Bereich Gemüse. Ich glaube, dass es derzeit einen Trend zu alten Sorten gibt, aus dem sich ein Markt entwickeln könnte.
Inwiefern?
Der Einzelhandel bekommt wieder Interesse an seltenen Sorten, denn die Menschen wollen wieder näher an ihre Lebensmittel heran, wollen wissen, wo die herkommen. Bei Arche Noah beschäftigen wir uns damit, wie die alten Sorten neu interpretiert werden können. Einige Mostereien produzieren mittlerweile aus alten Sorten wie der Champagner-Bratbirne oder dem Gelbmöstler sortenreinen, champagnerartigen Most. Das sind hochwertige Produkte, die auch gerne in der Topgastronomie angeboten werden.
Bei manchen alten Sorten ist der Anbau allerdings durchaus umstritten. Die EU stört sich an Sorten, die nicht offiziell von Fachleuten beschrieben worden sind. Verboten ist deren Anbau aber momentan noch nicht?
Nein. Welche Sorten man vermarkten darf, regeln derzeit EU-Richtlinien. Die Länder haben einen gewissen Spielraum, und es gibt mehr oder weniger große Nischen, in Österreich sind diese relativ groß, aber auch nicht ausreichend für die Vielfalt. Allerdings wird nun eine Reform des Rechts diskutiert – das könnte in Österreich sogar eine Verschlechterung bedeuten. Wir setzen uns gegen die Diskriminierung von alten, seltenen Sorten in ganz Europa ein.
Ein weiteres Beispiel ist der Uhudler. Arche Noah kämpft für seinen Erhalt. Warum will die EU nicht, dass er angebaut wird?
Der Uhudler ist eine ursprünglich nordamerikanische Rebe, die im 19. Jahrhundert als resistente Rebenunterlage im Kampf gegen die Reblaus eingeführt wurde. Heute wird der Uhudler fast nur im österreichischen Burgenland angebaut. In der EU will man verhindern, dass der Uhudler sich ausbreitet und die heimischen Sorten verdrängt. Deshalb wurde entschieden, dass das Saatgut und die Ableger des Uhudlers nicht einfach weitergegeben werden dürfen. Das Verbot schränkt aber die Artenvielfalt und die Tradition des Burgenlandes ein. Arche Noah tritt deshalb für politische Rahmenbedingungen ein, die Vielfalt möglich machen. Die Vielfalt soll nicht nur in Genbanken erhalten werden, sondern lebendig bleiben.
Was kann jede und jeder Einzelne tun, um alte Sorten zu erhalten?
Wer einen Garten hat, kann alte Sorten anbauen. Kundinnen und Kunden können im Supermarkt oder auf dem Markt nach ihnen fragen. Und man kann auch Initiativen wie Arche Noah mit einer Baumpatenschaft unterstützen oder Arche-Noah-Mitglied werden. Dadurch können wir die Bäume auf Streuobstwiesen pflanzen und betreuen. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Spaß machen und das Leben bunter und genussreicher gestalten.
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