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News: Angespornte Axone

Blinden wieder das Sehen und Lahmen das Gehen zu ermöglichen, ist noch Wunschdenken, allerdings scheinen für Wissenschaftler Heilungsmethoden tatsächlich in greifbare Nähe zu rücken. Denn das lange unumstößliche Dogma, dass sich ausgereifte Nervenzellen - vor allem im Gehirn und Rückenmark - nicht mehr teilen können, ist schon seit einiger Zeit gefallen. Und nun ist es Wissenschaftlern erstmals gelungen Nervenfasern, deren Reparatur bisher nur auf kleine Abschnitte beschränkt war, zu veranlassen sich über lange Distanzen hinweg zu regenerieren.
Verletzungen der Haut, der Knochen und anderer Gewebe kann der menschliche Körper zu einem gewissen Ausmaß sehr gut selbst reparieren. Nur Nervengewebe, vor allem das Zentrale Nervensystem, heilt langsam und sehr beschränkt. Herkömmliche Heilungsversuche durchtrennter Nervenstränge zeigen aber auch keine befriedigenden Ergebnisse. Die bisher bescheidenen Erfolge sind auf das Zusammennähen von Nervenenden, deren Lücke nur wenige Millimeter groß ist, oder den Einsatz eines Transplantates zurückführen und führten im besten Fall zu einer sehr rudimentären Funktionsfähigkeit des "reparierten" Nervs. Offensichtlich verhindern mehrere Faktoren wie molekulare Inhibitoren, narbenbildende Asterozyten oder der Mangel an Neurotrophinen die Ausbildung neuer funktionierender Nervernfasern.

Erst kürzlich wiesen Solon Thanos und seine Kollegen von der Universität Münster nach, dass Zellen des Gehirns und des Rückenmarks generell in der Lage sind sich zu regenerieren. Ihnen gelang es durch eine mikrochirurgische Nervenzelltransplantation, einen durchtrennten Sehnerv bei Affen und Ratten zum Wachstum zu veranlassen. Die Fasern der Nervenzellen verlängerten sich und wuchsen in das transplantierte Ischiassegment hinein – allerdings nur über kurze Distanzen.

Nun aber konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass sich Axone auch über lange Distanzen hinweg regenerieren können. Dies gelang den Forschern, indem sie zwei unkomplizierte chirurgische Eingriffe miteinander kombinierten. Zunächst durchtrennten die Wissenschaftler den Sehnerv ausgewachsener Ratten direkt hinter dem Auge. Darüber hinaus verletzten sie die Nervenendigungen mit einer Zange so, dass eine Narbenbildung in Gang gesetzt wird. Narben stellen normalerweise das eigentliche Wachstumshindernis von Axonen dar. Nun banden die Forscher die beiden Nervenendigungen so zusammen, dass keine Lücke zwischen den beiden Nervenendigungen vorhanden war und verletzten gleichzeitig die Augenlinse. Damit lösten sie eine sekundäre zelluläre Kaskade aus, die bekannterweise das Überleben von retinalen Ganglienzellen und die axonale Regeneration unterstützt.

Die Forscher beobachteten, dass kurz nach der Verletzung der Nervenzellen ein Wachstumskegel an der Verbindungsstelle der Wundnähte entstand, bevor die Gliazellen – also die nichtneuronalen Zellen des Nervensystems – und extrazelluläre Matrixproteine in der Lage waren eine Narbe zu bilden. Von diesem Kegel aus wuchs tatsächlich ein neues Axon bis zur Gehirnrinde und stellte eine funktionstüchtige Leitung zwischen dem Auge und dem Gehirn her. Insgesamt konnten etwa 30 Prozent der retinalen Ganglienzellen Axone über eine Strecke von etwa 25 Millimetern entlang des gesamten visuellen Pfades ausbilden.

Diese vielversprechende Technik wollen die Wissenschaftler nicht nur auf andere Nervengewebe übertragen – vielmehr wollen sie die Mechanismen, die an den Reparaturvorgängen beteiligt sind, genau erforschen und diese Erkenntnis eventuell in neuen Behandlungsmethoden verwerten.

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