Experiment am CERN: Antimaterie und das zitternde Vakuum
Nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden Physiker die Welt nicht mehr. Das hatte weniger mit der Atombombe zu tun, als mit den leichtesten damals bekannten Elementarteilchen, den Elektronen. Wenn man mit Messgeräten ganz genau hinsah, verhielten sie sich einfach nicht so, wie es die damals geltende Theorie vorhersagte.
Das zeigte unter anderem das Experiment von Willis Lamb. Der 33-jährige US-Amerikaner untersuchte, welche Energie ein Elektron in der Nähe eines Protons haben kann. Gemeinsam bilden die beiden Wasserstoff, das einfachste aller Atome. Elektronen stehen in seinem Umfeld mehrere klar voneinander getrennte Energieniveaus offen. Lamb war hierbei auf eine winzige Abweichung gestoßen – die letztlich einer wissenschaftlichen Revolution den Weg bereitete.
Von Wasserstoff zu Antiwasserstoff
73 Jahre später hält die Atomphysik des Wasserstoffs kaum noch Überraschungen bereit. Aber es gibt ja noch sein Spiegelbild, den Antiwasserstoff. Statt eines Protons besteht sein Kern aus einem Antiproton – es ist das negativ geladene Antiteilchen des Protons. Dazu gesellt sich ein Positron, das Spiegelbildteilchen des Elektrons.
Antiprotonen und Positronen sind Raritäten auf der Erde. Forscher können sie nur in winzigen Mengen herstellen. Antiprotonen entstehen bei Kollisionen an Teilchenbeschleunigern, Positronen bei radioaktiven Zerfällen. Und ganz so, wie aus einem Elektron und einem Proton Wasserstoff wird, lässt sich aus Positron und Antiproton ein Antiwasserstoffatom zusammensetzen.
So weit die Theorie. In der Praxis ist es sehr schwer, die Antiteilchen zusammenzubringen und sie dabei nicht in Kontakt mit gewöhnlicher Materie kommen zu lassen. Letzteres würde die Antimaterie sofort zerstören, schließlich löschen sich Teilchen und Antiteilchen in einem Lichtblitz auf, wenn sie sich begegnen.
Am Genfer Forschungszentrum CERN versucht man dennoch seit vielen Jahren, der Antimaterie Herr zu werden. In einer eigenen Messhalle führen Wissenschaftler Antiprotonen und Positronen zusammen und messen mit großer Hingabe die Eigenschaften der resultierenden Antiatome. Mittlerweile können die Physiker Hunderte von ihnen für mehrere Tage in einer Vakuumkammer gefangen halten.
Dadurch werden Messungen möglich, wie sie Forscher bei Wasserstoff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt haben. Ein Unterschied zwischen Materie und Antimaterie ist dabei bisher nicht aufgetaucht: An Antiprotonen gebundene Positronen scheinen exakt dieselben Energieniveaus einzunehmen wie die Elektronen im Umfeld eines Protons, berichteten Forscher der ALPHA-Kollaboration 2016, 2017 und 2018 jeweils im Fachmagazin »Nature«.
Nun präsentieren die rund 50 Wissenschaftler das nächste Scheibchen der Erkenntnis: Auch bei Antiwasserstoff scheint es jene winzige Abweichung zu geben, auf die Willis Lamb 1947 bei Wasserstoff gestoßen war, berichten die Wissenschaftler in einer aktuellen »Nature«-Publikation. Oder anders formuliert: Ein handfester Unterschied zwischen Materie und Antimaterie lässt weiter auf sich warten. Dabei benötigen Forscher ihn dringend, um den Materieüberschuss im Universum zu erklären.
Von Niels Bohr zu Richard Feynman
Ein überraschender Durchbruch ist die jüngste Messung also nicht. Dafür hebt sie deutlich hervor, wie sich die Wissenschaft in den vergangenen 70 Jahren verändert hat. Heute kämpfen 50 hoch qualifizierte Experten in einer mit Hightech vollgestopften Fabrikhalle um die nächste »Nature«-Veröffentlichung. Damals genügten Willis Lamb, sein Assistent und ein tischgroßer Apparat, um der Natur – eher zufällig – ein großes Geheimnis abzuringen.
Letztlich half die Lamb-Verschiebung maßgeblich dabei, unsere heutige Theorie von Licht und Materie zu entwickeln, die Quantenelektrodynamik. Sie stellte die endgültige Überwindung des bohrschen Atommodells dar. Niels Bohr hatte es vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt, um bis dahin rätselhafte Messungen mit Wasserstoff zu erklären.
Laut dem Modell stehen Elektronen, die an ein Atom gebunden sind, nur bestimmte Energien offen, Physiker sprechen von Schalen. Wenn ein Elektron die Schale wechselt, was immer mal passieren kann, gibt es Strahlung einer bestimmten Frequenz ab. Umgekehrt kann ein Strahlungspuls mit dieser Frequenz, der das Atom trifft, das Elektron in eine höhere Schale heben.
Das bohrsche Atommodell ist nicht völlig falsch, aber aus heutiger Sicht viel zu einfach. Das zeigte sich spätestens, als in den 1920er Jahren die Quantenphysik die Bühne betrat. Ihr zufolge kreisen Teilchen nicht auf starren Bahnen, wie Bohrs Sichtweise nahelegte. Stattdessen halten sie sich in einem von der Mathematik vorgegebenen Volumen auf. Wo genau sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sind, lässt sich nur mit Wahrscheinlichkeiten vorhersagen.
Der geniale Eigenbrötler Paul Dirac arbeitete 1928 eine Formel aus, die der Quantennatur der Teilchen Rechnung trug und für beliebig schnelle Partikel galt. Laut dieser Dirac-Gleichung verändern Bewegung und Spin der Elektronen die Energieniveaus, die ihnen im Umfeld eines Atoms offen stehen. Die bohrschen Schalen splitten sich dadurch in eine schwer zu überblickende »Feinstruktur« mehrerer Unterniveaus auf.
Doch auch Dirac irrte, wie nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich wurde: Seine Gleichung weist manchen Feinstrukturniveaus dieselbe Energie zu. Die Elektronen haben hier eigentlich unterschiedlich viel Schwung (Physiker sprechen vom Bahndrehimpuls), weshalb sie unterschiedlich stark an den Atomkern gebunden sein sollten. Doch der Spin der Elektronen (eine Art Eigendrehsinn) ist in beiden Zuständen gerade so orientiert, dass die Energiedifferenz zwischen den Niveaus laut Dirac-Gleichung verschwindet.
Willis Lamb konnte zeigen, dass sich die Natur in diesem Punkt anders verhält: Er analysierte Strahlung, die Wasserstoffatome abgeben, wenn ein Elektron von einem Energieniveau in ein anderes springt. 1947 verkündete er auf der ersten großen Physikerkonferenz nach dem Krieg eine Sensation: Zwischen zwei Feinstrukturniveaus namens 2S1/2 und 2P1/2, die laut Dirac-Gleichung identisch sein sollten, schien es einen winzigen Unterschied zu geben.
Diese Lamb-Verschiebung wurde in den Folgejahren zu einem von zwei experimentellen Befunden, auf deren Basis Experten die Quantenelektrodynamik ausarbeiten. Der andere betraf die Art und Weise, wie Elektronen auf Magnetfelder reagieren. Zur Erklärung dieser Phänomene mussten Physiker allerdings eine kuriose Eigenart der Natur akzeptieren lernen und in ihren Gleichungen verarbeiten: Das Vakuum ist alles andere als leer, sondern weist eine Art Grundrauschen aus plötzlich auftretenden Ladungsfluktuationen auf.
Das Zittern der Elektronen
Schuld sind »virtuelle« Paare aus Elektronen und Positronen, die an jedem Punkt entstehen können. Sie existieren nur Sekundenbruchteile, dann löschen sie sich gegenseitig aus. Da sie jedoch laufend aufploppen, beeinflussen sie andere Partikel – zum Beispiel das Elektron eines Wasserstoffatoms. Durch die Phantomteilchen gerät es ein wenig ins Zittern und hat dadurch geringfügig mehr Energie, als man ohne diesen Effekt erwarten würde. Am stärksten sind dabei Elektronen in unmittelbarer Nähe des Kerns betroffen.
Damit war die Hauptursache für die Lamb-Verschiebung gefunden. Doch die virtuellen Teilchen sorgten für große konzeptionelle Problemen, an denen sich Theoretiker jahrelang die Zähne ausbissen. Unter anderem verzweifelten sie daran, dass sich die virtuellen Teilchen streng genommen unendlich viel Energie aus dem Vakuum borgen konnten, was nicht sein durfte, Quantenphysik hin oder her.
Julian Schwinger, Richard Feynman, Shinichiro Tomonaga und andere Theoretiker fanden schließlich eine Lösung für das Problem. Sie ließen die gegen unendlich strebenden Rechenterme verschwinden, indem sie die Definition von Masse und Ladung in den Gleichungen änderten. Der Kniff ist als Renormierung bekannt und mittlerweile in allgemeinerer Fassung ein Standardwerkzeug der Teilchenphysik. Er machte die Quantenelektrodynamik zu einer Theorie, die bis heute als konzeptionelles Vorbild für sämtliche erfolgreichen Modelle des Mikrokosmos dient.
Ob die Experimente mit Antimaterie dereinst eine vergleichbare Überarbeitung unseres Weltbilds notwendig machen? Ziele für weitere Messungen haben die Forscher der ALPHA-Kollaboration laut eigener Aussage jedenfalls genug: Bisher könne man auf die Lamb-Verschiebung bei Antiwasserstoff nur auf Umwegen schließen, heißt es in dem neuesten »Nature«-Paper. Auch gebe es noch eine beträchtliche Messunsicherheit. Künftig werde man Antiwasserstoff also noch etwas genauer unter die Lupe nehmen – in der Hoffnung, dass endlich ein Unterschied zwischen Materie und Antimaterie auftaucht.
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